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Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis. 1
)
Von
MAX WEBER.
Die erste Frage, mit der bei uns eine sozialwissenschaftliche
und zumal eine sozialpolitische Zeitschrift bei ihrem Erscheinen
oder bei ihrem Übergang in eine neue Redaktion begrüßt zu werden
1) Wo in Abschnitt I der nachstehenden Ausführungen ausdrücklich im Namen
der Herausgeber gesprochen wird oder dem Archiv Aufgaben gestellt werden, handelt
es sich natürlich nicht um Privatansichten d~s Verfassers, sondern sind die betreffenden
Äußerungen von den Mitherausgebern ausdrücklich gebilligt. Für Abschnitt
II trifft die Verantwortung für Form und Inhalt den Verfasser al l ei n.
Daß das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten
wird, dafür bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter,
sondern auch seiner Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlechthin
identisch ist. Andererseits war natürlich eine Übereinstimmung in gewissen
Grundanschauungen Voraussetzung der gemeinsamen Übernahme der Redaktion.
Diese Übereinstimmung besteht insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes
t h e o r e t i scher Erkenntnis unter "einseitigen" Gesichtspunkten, sowie bezüglich der
Forderung der Bildung scharfe r Beg riff e und der strengen Scheidung
von Erfahrungswissen und Werturteil, wie sie hier- natürlich ohne den
Anspruch, damit etwas "neues" zu fordern - vertreten wird.
Die vielen Breiten der Erörterung (sub II) und die häufige Wiederholung desselben
Gedankens dient dem ausschließlichen Zweck, das bei solchen Ausführungen mögliche
Maximum von Gemeinvers tän dl i eh k ei t zu erzielen. Diesem Interesse
ist viel - hoffentlich nicht zu viel - an Präzision des Ausdrucks geopfert, und
ihm zu Liebe ist auch der Versuch an Stelle der Aneinanderreihung einiger methodologischer
Gesichtspunkte eine s y s t e m a ti s c h e Untersuchung treten zu lassen, hier
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 23
pflegt, ist: welches ihre "Tendenz" sei. Auch wir können uns
einer Antwort auf diese Frage nicht entziehen und es soll an dieser
Stelle darauf im Anschluß an die Bemerkungen in unserem ,,Geleitwort"
in etwas prinzipiellerer Fragestellung eingegangen werden. Es
bietet sich dadurch Gelegenheit, die Eigenart der in unserem Sinne
"sozialwissenschaftlichen" Arbeit überhaupt nach manchen Richtungen
in ein Licht zu rücken, welches, wenn nicht für den Fachmann,
so doch für manchen der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit
ferner stehenden Leser nützlich sein kann, obwohl oder vielmehr
gerade weil es sich dabei um "Selbstverständlichkeiten" handelt. -
Ausgesprochener Zweck des "Archivs" war seit seinem Bestehen
neben der Erweiterung unserer Erkenntnis der "gesellschaftlichen
Zustände aller Länder", also der Tatsachen des
sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über p r a k t i s c h e
Prob 1 e m e desselben und damit - in demjenigen, freilich sehr
bescheidenen Maße, in dem ein solches Ziel von privaten Gelehrten
gefördert werden kann - die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit
der Praxis, bis hinauf zu derjenigen der gesetzgebenden Faktoren.
Trotzdem hat nun aber das Archiv von Anfang an daran festgehalten,
eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift sein zu wollen, nur
mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten, -
und es entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der
Beschränkung auf diese Mittel prinzipiell vereinigen läßt. Wenn
das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung und V erwaltung
oder praktische Vorschläge zu solchen b e ur t e i I e n läßt
- was bedeutet das? Weich es sind die Normen für diese Urteile?
Welches ist die Geltung der Werturteile, die der Beurt~ilende
seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische
Vorschläge macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne befindet
er sich dabei auf dem Boden wissenschaftlicher ErÖrterung,
da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in
der "objektiven" Geltung ihrer Ergebnisse als 'vV a h r h e i t gefunden
werden muß? 'vVir legen zunächst unseren Standpunkt zu dieser
ganz unterlassen worden. Dies hätte das Hineinziehen einer Fülle von zum Teil noch
weit tiefer liegenden erkenntnistheoretischen Problemen erfordert. Es soll hier nicht
Logik getrieben, sondern es sollen bekannte Ergebnisse der modernen Logik für
uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern dem Laien ihre Bedeutung
veranschaulicht werden. V\'er die Arbeiten der modernen Logiker kennt, - ich
nenne nur 'vVindelhand, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich Rickert -,
wird sofort bemerken, daß in allem Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist.
24 Max \V e b e r,
Frage dar, um daran später die weitere zu schließen: in welchem
Sinne gibt es "objektiv gültige Wahrheiten" auf dem Boden der
Wissenschaften vom Kulturleben überhaupt? - eine Frage, die
angesichts des steten Wandels und erbitterten Kampfes um die
scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin, die Methode
ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung,
nicht umgangen werden kann. Nicht Lösungen bieten , sondern
Probleme aufzeigen, wollen wir hier, - solche Probleme nämlich,
denen unsere Zeitschrift, um ihrer bisherigen und zukünftigen
Aufgabe gerecht zu werden, ihrer Aufmerksamkeit wird zuwenden
müssen.-
I.
Wir alle wissen, daß unsere Wissenschaft, wie mit Ausnahm e
vielleicht der politischen Geschichte jede Wissenschaft, deren
Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind,
geschichtlich zuerst von p r a k t 1s c h e n Gesichtspunkten ausging.
Werturteile über bestimmte wirtschaftpolitische Maßnahmen des
Staates zu produzieren, war ihr nächster und zunächst einziger
Zweck. Sie war "Technik" etwa in dem Sinne, in welchem es
auch die klinischen Disziplinen der medizinischen WiIax \"'eber,
Wissens) die F o 1 g e n feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen
Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten
Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben
würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der
Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen
seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage : was "kostet"
die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich
eintretenden Verletzung anderer Werte? Da m der großen
Überzahl aller Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas
"kostet" oder doch kosten kann, so kann an der Abwägung von
Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung
verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen
ist eine der wesentlichsten Funktionen der t e c h n i s c h e n
Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst
nun aber zur Entscheidung zu bringen ist freilich nicht mehr eine
mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen:
er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und
seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die
es sich handelt. Die \Nissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein
verhelfen, daß a 11 es Handeln, und natürlich auch, je nach den
Umständen, das Nicht -Handeln, in seinen Konsequenzen eine
Parteinahme zugunsten bestimmter Werthe bedt:utet, und damit
- was heute so besonders gern verkannt wird - regelmäßig gegen
andere. Die Wahl zu treffen, ist seine Sache.
Was wir ihm für diesen Entschluß nun noch weiter bieten
können, ist: Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst.
Wir können ihn die Zwecke nach Zusammenhang und Bedeutung
kennen lehren, die er will und zwischen denen er wählt, zunächst
durch Aufzeigung und logisch zusammenhängende Entwicklung der
"Ideen", die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen
können. Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Aufgaben
einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese
"Ideen", für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden
ist und gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen.
Das überschreitet nicht die Grenzen einer Wissenschaft, welche
"denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit" erstrebt, so wenig
die Mittel, die dieser Deutung geistiger Werte dienen, "Induktionen"
im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind. Allerdings fozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 33
Es wird also in den Spalten der Zeitschrift - speziell bei der
Besprechung von Gesetzen - neben der Sozialwissenschaft
- der denkenden Ordnung der Tatsachen - unvermeidlich auch
die Sozialp o 1 i t i k - die Darlegung von Idealen - zu Worte
kommen. Aber: wir denken nicht dar an, derartige Auseinandersetzungen
für "Wissenschaft" auszugeben und werden uns nach
besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu
lassen. Die Wissenschaft ist es dann nicht mehr, welche
spricht, und das zweite fundamentale Gebot wissenschaftlicher
Unbefangenheit ist es deshalb: in solchen Fällen, den Lesern (und
- sagen wir wiederum - vor allem sich selbst!) jederzeit deutlich
zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der
wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die Argumente sich an
den V erstand und wo sie sich an das Gefühl wenden. Die stete
Vermisch u n g wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und
wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten,
aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches.
Gegen diese Vermisch u n g, nicht etwa gegen das Eintreten
für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen:
Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche "Objektivität"
haben keinerlei innere Verwandtschaft. - Das Archiv ist, wenigstens
seiner Absicht nach, niemals ein Ort gewesen und soll
es auch nicht werden, an welchem Polemik gegen bestimmte
politische oder sozialpolitische Parteien getrieben wird, ebensowenig
eine Stelle, an der für oder gegen politische oder sozialpolitische
Ideale geworben wird; dafür gibt es andere Organe.
Die Eigenart der Zeitschrift hat vielmehr von Anfang an gerade
darin bestanden und soll, soviel an den Herausgebern liegt, auch
fernerhin darin bestehen, daß in ihr scharfe politische Gegner
sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden. Sie war bisher
kein "sozialistisches" und wird künftig kein "bürgerliches" Organ
sein. Sie schließt von ihrem Mitarbeiterkreise niemand aus, der
sich auf den Boden wissenschaftlicher Diskussion stellen w i 11.
Sie kann kein Tummelplatz von "Erwiderungen", Repliken und
Dupliken sein, aber sie schützt niemand, auch nicht ihre Mitarbeiter
und e b e n so w e n i g ihr e H er a u s g e b e r dagegen, in ihren
Spalten der denkbar schärfsten sachlich-wissenschaftlichen Kritik
ausgesetzt zu sein. Wer das nicht ertragen kann, oder wer auf
dem Standpunkt steht, mit Leuten, die im Dienste anderer
Ideale arbeiten als er selbst, auch . im Dienste wissenschaftlicher
Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) I. 3
34 Max Weber,
Erkenntnis nicht zusammenwirken zu wollen, der mag ihr fern
bleiben.
Nun ist aber freilich - wir wollen uns darüber nicht täuschen -
mit diesem letzten Satze praktisch zurzeit leider mehr gesagt, als es
auf den ersten Blick scheint. Zunächst hat, wie schon angedeutet, die
Möglichkeit mit politischen Gegnern sich auf neutralem Boden
- geselligem oder ideellem - unbefangen zusammenzufinden, leider
erfahrungsgemäß überall und zumal unter unsern deutschen Ver·
hältnissen ihre psychologischen Schranken. An sich als ein Zeichen
parteifanatischer Beschränktheit und unentwickelter politischer Kultur
I unbedingt bekämpfenswert, gewinnt dieses Moment für eine Zeitschrift
wie die unsrige eine ganz wesentliche Verstärkung durch
den Umstand, daß auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften der
Anstoß zur Aufrollung wissen s c h a ft 1 ich er Probleme erfahrungsgemäß
regelmäßig durch p r a k t i s c h e "Fragen" gegeben wird, so
daß die bloße Anerkennung des Bestehens eines wissenschaftlichen
Problems in Personalunion steht mit einem bestimmt gerichteten
Wollen lebendiger Menschen. In den Spalten einer Zeitschrift,
welche unter dem Einflusse des allgemeinen Interesses für ein konkretes
Problem ins Leben tritt, werden sich daher als Mitarbeiter
regelmäßig Menschen zusammenfinden, die ihr persönliches Interesse
diesem Problem deshalb zuwenden, weil bestimmte konkrete Zustände
ihnen im Widerspruch mit idealen Werten,' an die sie glauben,
zu stehen, jene Werte zu gefährden scheinen. Die Wahlverwandtschaft
ähnlicher Ideale wird alsdann diesen Mitarbeiterkreis zusammenhalten
und sich neu rekrutieren lassen, und dies wird
der Zeitschrift wenigstens bei der Behandlung praktisch·sozialp
o 1 i t i scher Probleme einen bestimmten "C h a r a k t er'' aufprägen,
wie er die unvermeidliche Begleiterscheinung jedes Zusammenwirkens
lebendig empfindender Menschen ist, deren
wertende Stellungnahme zu den Problemen auch bei der rein
theoretischen Arbeit nicht immer ganz unterdrückt wird und
bei der Kritik p r a k t i scher V arschläge und Maßnahmen auch -
unter den oben erörterten Voraussetzungen - ganz legitimerweise
zum Ausdruck kommt. Das Archiv nun trat in einem Zeitpunkte
ins Leben, als bestimmte praktische Probleme der "Arbeiterfrage"
im überkommenen Sinne des Wortes, im Vordergrund
der sozialwissenschaftliehen Erörterungen standen. Diejenigen Persönlichkeiten,
für welche mit den Problemen, die es behandeln
wollte, die höchsten und entscheidenden Wertideen sich verknüpften,
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 3 5
und welche deshalb seine regelmäßigsten Mitarbeiter wurden, waren
eben daher zugleich auch Vertreter einer durch jene Wertideen
gleich oder doch ähnlich gefärbten Kulturauffassung. Jedermann
weiß denn auch, daß, wenn die Zeitschrift den Gedanken, eine
"Tendenz" zu verfolgen, durch die ausdrückliche Beschränkung auf
",wissenschaftliche" Erörterungen und durch die ausdrückliche Einladung
an "Angehörige aller politischen Lager" bestimmt ablehnte,
sie trotzdem sicherlich einen "Charakter" im obigen Sinn besaß. Er
wurde durch den Kreis ihrer regelmäßigen Mitarbeiter geschaffen.
Es waren im allgemeinen Männer, denen, bei aller sonstigen Verschiedenheit
der Ansichten, der Schutz der physischen Gesundheit
der Arbeitermassen und die Ermöglichung steigender Anteilnahme
an den materiellen und geistigen Gütern unserer Kultur für sie,
als Ziel - als Mittel aber die Verbindung staatlichen Eingreifens
in die materielle Interessensphäre mit freiheitlicher Fortentwicklung
der bestehenden Staats· und Rechtsordnung vorschwebten,
und die - welches immer ihre Ansicht über die Gestaltung der
Gesellschaftsordnung in der ferneren Zukunft sein mochte - für
die Gegenwart die kapitalistische Entwicklung bejahten, nicht
weil sie ihnen, gegenüber den älteren Formen gesellschaftlicher
Gliederung als die bessere, sondern weil sie ihnen als praktisch
unvermeidlich und der Versuch grundsätzlichen Kampfes gegen sie,
nicht als Förderung, sondern als Hemmung des Empor5teigens der
Arbeiterklasse an das Licht der Kultur erschien. Unter den in
Deutschland heute bestehenden Verhältnissen - sie bedürfen hier
nicht der näheren Klarlegung - war dies und wäre es auch heute
nicht zu vermeiden. Ja, es kam im tatsächlichen Erfolg der Allseitigkeit
der Beteiligung an der wissenschaftlichen Diskussion direkt
zugute und war für die Zeitschrift eher ein Moment der Stärke,
ja - unter den gegebenen Verhältnissen - sogar vielleicht einer
der Titel ihrer Existenzberechtigung.
Unzweifelhaft ist es nun, daß die Entwicklung eines "Charakters"
in diesem Sinne bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine
Gefahr für die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Arbeit bedeuten
kann und dann .wirklich bedeuten müßte, wenn die
Auswahl der Mitarbeiter eine planvoll einse1t1ge würde : m
diesem Falle bedeutete die Züchtung jenes "Charakters" praktisch
dasselbe wie das Bestehen einer "Tendenz". Die Herausgeber
sind sich der Verantwortung., die ihnen diese Sachlage
auferlegt, durchaus bewußt. Sie beabsichtigen weder, den Charakter
Max Weber,
des Archivs planvoll zu ändern, noch etwa ihn durch geflissentliche
Beschränkung des Mitarbeiterkreises auf Gelehrte mit bestimmten
Parteimeinungen, künstlich zu konservieren. Sie nehmen ihn als
gegeben hin und warten seine weitere "Entwicklung" ab. Wie
er sich in Zukunft gestaltet und vielleicht, infolge der unvermeidlichen
Erweiterung unseres Mitarbeiterkreises, um gestaltet, das wird
zunächst von der Eigenart derjenigen Persönlichkeiten abhängen,
die mit der Absicht, wissenschaftlicher Arbeit zu dienen, in diesen
Kreis eintreten und in den Spalten der Zeitschrift heimisch werden
oder bleiben. Und es wird weiter durch die Erweiterung der
Prob 1 e m e bedingt sein, deren Förderung sich die Zeitschrift zum
Ziel setzt.
Mit dieser Bemerkung gelangen wir zu der bisher noch nicht
erörterten Frage der s a c h 1 ich e n Abgrenzung unseres Arbeitsgebietes.
Hierauf kann aber eine Antwort nicht gegeben werden,
ohne auch hier die Frage nach der Natur des Zieles sozialwisseu~
schaftlieber Erkenntnis überhaupt aufzurollen. Wir haben bisher,
indem wir "Werturteile" und "Erfahrungswissen" prinzipiell schieden,
vorausgesetzt, daß es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis,
d. h. der denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit auf dem
Gebiet der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe. Diese Annahme
wird jetzt insofern zum Problem, als wir erörtern müssen, was objektive
"Geltung" der Wahrheit, die wir erstreben, auf unserem
Gebiet bedeuten kann. Daß das Problem als solches besteht und
hier nicht spintisierend geschaffen wird, kann niemanden entgehen,
der den Kampf um Methode, "Grundbegriffe'' und Voraussetzungen,
den steten Wechsel der "Gesichtspunkte" und die stete Neubestimmung
der "Begriffe", die verwendet werden, beobachtet und
sieht, wie theoretische und historische Betrachtungsform noch immer
durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt sind: "zwei
Nationalökonomien", wie ein verzweifelnder Wiener Examinand
seinerzeit jammernd klagte. Was heißt hier Objektivität? Lediglich
diese Frage wollen die nachfolgenden Ausführungen erörtern.
IJ.l)
Die Zeitschrift hat von Anfang an die Gegenstände, mit
denen sie sich befaßte, als sozial-ökonomische behandelt. So
1) Vgl. die Anmerkung zum Titel.
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 37
wenig Sinn es nun hätte, hier Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen
von vVissenschaften vorzunehmen, so müssen wir uns
doch darüber summarisch ins klare setzen, was das bedeutet.
Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung
unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit
und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren
Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge
und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung
mit Menschen bedarf, - das ist, möglichst unpräzis ausgedrückt,
der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Ercheinungen
knüpfen, die wir im weitesten Sinne als "sozialökonomische"
bezeichnen. Die Qualität eines Vorganges als
"sozial-ökonomischer" Erscheinung ist nun nicht etwas , was
ihm als solchem "objektiv" anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt
durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses, wie sie sich
aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden
Vorgange im einzelnen Fall beilegen. Wo immer ein
Vorgang des Kulturlebens in denjenigen Teilen seiner Eigenart, in
welchen für uns seine spezifische Bedeutung beruht, direkt oder
in noch so vermittelter Weise an jenem Tatbestand verankert ist, da
enthält er oder kann er wenigstens, so weit dies der Fall, ein sozialwissenschaftliches
Prob 1 e m enthalten, d. h. eine Aufgabe für eine
Disziplin, welche die Aufklärung der Tragweite jenes grundlegenden
Tatbestandes zu ihrem Gegenstande macht.
Wir können nun innerhalb der sozialökonomichen Probleme
unterscheiden: Vorgänge und Komplexe von solchen, Normen,
Institutionen usw., deren Kulturbedeutung für uns wesentlich in
ihrer ökonomischen Seite beruht, die uns - wie z. B. etwa Vorgänge
des Börsen- und Banklebens - zunächst wesentlich nur unter
diesem Gesichtspunkt interessieren. Dies wird regelmäßig (aber
nicht etwa ausschließlich) dann der Fall sein, wenn es sich um
Institutionen handelt, welche bewußt zu ökonomischen Zwecken
geschaffen wurden oder benutzt werden. Solche Objekte unseres Erkennens
können wir i. e. S. "wirtschaftliche" Vorgänge bez. Institutionen
nennen. Dazu treten andere, die - wie z. B. etwa Vorgänge des r e 1 ig
i ö s e n Lebens - uns nicht oder doch sicher lieh nicht in erster Linie
unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedeutung und um
dieser willen interessieren, die aber unter Umständen unter diesem
Gesichtspunkt Bedeutung gewinnen, weil von ihnen Wirkungen
ausgehen, die uns unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren:
Max Weber,
"ökonomisch relevante" Erscheinungen. Und endlich gibt es unter den
nicht in unserem Sinne "wirtschaftlichen" Erscheinungen solche,
deren ökonomische Wirkungen für uns von keinem oder doch nicht
erheblichem Interesse sind: etwa die Richtung des künstlerischen
Geschmacks einer Zeit, - die aber ihrerseits im Einzelfalle in gewissen
bedeutsamen Seiten ihrer Eigenart durch ökonomische Motive,
also z. B. in unserem Falle etwa durch die Art der sozialen
Gliederung des künstlerisch interessierten Publikums mehr oder
minder stark mit b e einfluß t sind: ökonomisch bedingte Erscheinungen.
Jener Komplex menschlicher Beziehungen, Normen
und normbestimmter Verhältnisse, die wir "Staat" nennen, ist beispielsweise
bezüglich der staatlichen Finanzwirtschaft eine "wirtschaftliche"
Erscheinung; - insofern er gesetzgeberisch oder sonst
auf das Wirtschaftsleben einwirkt (und zwar auch da, wo ganz
andere als ökonomische Gesichtspunkte sein Verhalten bewußt bestimmen)
ist er "ökonomisch relevant"; - sofern endlich sein Verhalten
und seine Eigenart auch in anderen als in seinen "wirtschaftlichen"
Beziehungen durch ökonomische Motive mitbestimmt wird,
ist er "ökonomisch bedingt". Es versteht sich nach dem Gesagten
von selbst, daß einerseits der Umkreis der "wirtschaftlichen" Erscheinungen
ein flüssiger und nicht scharf abzugrenzender ist, und
daß andererseits natürlich keineswegs etwa die "wirtschaftlichen"
Seiten einer Erscheinung nur "wirtschaftlich bedingt" oder nur
"wirtschaftlich wirksam" sind, und daß eine Erscheinung überhaupt
die Qualität einer "wirtschaftlichen" nur in soweit und nur so lange
behält, als unser Interesse sich der Bedeutung, die sie für
den materiellen Kampf ums Dasein besitzt, ausschließlich zuwendet.
Unsere Zeitschrift nun befaßt sich wie die sozialökonomische
Wissenschaft seit Marx und Roseher nicht nur mit "wirtschaftlichen"
sondern auch mit "wirtschaftlich relevanten" und
"wirtschaftlich bedingten" Erscheinungen. Der Umkreis derartiger
Objekte erstreckt sich natürlich, - flüssig, wie er je nach der jeweiligen
Richtung unseres Interesses ist, - offenbar durch die Gesamtheit
aller Kulturvorgänge. Spezifisch ökonomische Motive -
d. h. Motive, die in ihrer für uns bedeutsamen Eigenart an jenem
grundlegenden Tatbestand verankert sind - werden überall da
wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Bedürfnisses
an die Verwendung begrenzter äußerer Mittel gebunden
ist. Ihre Wucht hat deshalb überall nicht nur die Form
der Befriedigung, sondern auch den Inhalt von Kulturbedürfnissen
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlieber und sozialpolitischer Erkenntnis. 39
auch der innerliebsten Art mitbestimmt und umgestaltet. Der indirekte
Einfluß, der unter dem Drucke "materieller" Interessen
stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen
der Menschen, erstreckt sich (o(t unbewußt) auf alle Kulturgebiete
ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen
und religiösen Empfindens hinein. Die Vorgänge des alltäglichen
Lebens nicht minder wie die .,historischen" Ereignisse der hohen
Politik, Kollektiv- und Massenerscheinungen ebenso wie "singuläre"
Handlungen von Staatsmännern oder individuelle literarische und
künstlerische Leistungen sind durch sie mitbeeinflußt, - "ökonomisch
bedingt". Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen
und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen
Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art
ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interessengruppen
und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art
des Verlaufes der "ökonomischen Entwicklung" ein, - wird .,ökonomisch
relevant". Soweit unsere Wissenschaft wir t s c h a f t 1 ich e
Kulturerscheinungen im kausalen Regressus individuellen Ursachen
- ökonomischen oder nicht ökonomischen Charakters - zurechnet,
erstrebt sie "historische" Erkenntnis. Soweit sie ein spezifisches
Element der Kulturerscheinungen: das ökonomische, in seiner
Kulturbedeutung durch die verschiedensten Kulturzusammenhänge
hindurch verfolgt, erstrebt sie Geschichts inter p r e tat i o n unter
einem spezifischen Gesichtspunkt und bietet ein Teilbild, eine Vora
r bei t für die volle historische Kulturerkenntnis.
Wenn nun auch nicht überall, wo ein Hineinspielen ökonomischer
Momente als Folge oder Ursache stattfindet, ein sozial-ökonomisches
Prob 1 e m vorliegt - denn ein solches entsteht nur da,
wo die Bedeutung jener Faktoren eben prob 1 e m a t i s c h und nur
durch die Anwendung der Methoden der sozial-ökonomischen
Wissenschaft sicher feststellbar ist - so ergibt sich doch der schier
unübersehbare Umkreis des Arbeitsgebietes der sozial-ökonomischen
Betrachtungsweise.
Unsere Zeitschrift hat nun schon bisher in wohlerwogener
Selbstbeschränkung auf die Pflege einer ganzen Reihe höchst
wichtiger Spezialgebiete unserer Disziplin, wie namentlich der deskriptiven
Wirtschaftskunde, der Wirtschaftsgeschichte im engeren
Sinne und der Statistik, im allgemeinen verzichtet. Ebenso hat sie
die Erörterung der finanztechnischen · Fragen und die technischökonomischen
Probleme der Markt- und Preisbildung in der modernen
40 Max Weber,
Tauschwirtschaft anderen Organen überlassen. Ihr Arbeitsgebiet
waren gewisse Interessenkonstellationen und Konflikte, welche durch
die führende Rolle des Verwertung suchenden Kapitals in der
Wirtschaft der modernen Kulturländer entstanden sind, in ihrer
heutigen Bedeutung und ihrem geschichtlichen Gewordensein. Sie
hat sich dabei nicht auf die im engsten Sinne ,,soziale Frage" genannten
praktischen und entwicklungsgeschichtlichen Probleme: die
Beziehungen der modernen Lohnarbeiterklasse zu der bestehenden
Gesellschaftsordnung, beschränkt. Freilich mußte die wissenschaftliche
Vertiefung des im Laufe der So er Jahre bei uns sich verbreitenden
Interesses gerade an dieser Spezialfrage, zunächst eine
ihrer wesentlichsten Aufgaben sein. Allein je mehr die praktische
Behandlung der Arbeiterverhältnisse auch bei uns dauernder
Gegenstand der gesetzgebenden Tätigkeit und der öffentlichen Erörterung
geworden ist, um so mehr mußte der Schwerpunkt der
wissenschaftlichen Arbeit sich auf die Feststellung der universelleren
Zusammenhänge, in welche diese Probleme hineingehören, verschieben
und damit in die Aufgabe einer Analyse a II er, durch die
Eigenart der ökonomischen Grundlagen unserer Kultur geschaffenen
und insofern spezifisch modernen Kulturprobleme ausmünden. Die
Zeitschrift hat denn auch schon sehr bald die verschiedensten, teils
"ökonomisch relevanten", teils "ökonomisch bedingten" Lebensverhältnisse
auch der übrigen großen Klassen der modernen Kulturnationen
und deren Beziehungen zueinander historisch, statistisch
und theoretisch zu behandeln begonnen. Wir ziehen nur die Konsequenzen
dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeitsgebiet
unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der a ligemeinen
Kulturbedeutung der sozialökonomischen
S t r u k tu r d es m e n s c h I i c h e n G e m e in s c h a f t s I e b e n s und
seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. - Dies und
nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift "Archiv für
Sozialwissenschaft" genannt haben. Das Wort soll hier die geschichtliche
und theoretische Beschäftigung mit den gleichen Problemen
umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der "Sozial p o I i t i k"
im weitesten Sinne dieses Wortes ist. Wir machen dabei von dem
Rechte Gebrauch, den Ausdruck "sozial" in seiner durch konkrete
Gegenwartsprobleme bestimmten Bedeutung zu verwenden. Will
man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen
Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Ku I tu r b e d e u tun g betrachten,
"Kulturwissenschaften" nennen, so gehört die SozialDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 41
wissenschaft in unserem Sinne in diese Kategorie hinein. Wir
werden bald sehen, welche prinzipiellen Konsequenzen das hat.
Unzweifelhaft bedeutet die Heraushebung der so z i a 1 öko n omischen
Seite des Kulturlebens eine sehr fühlbare Begrenzung
unserer Themata. Man wird sagen, daß der ökonomische oder,
wie man unpräzis gesagt hat, der "materialistische" Gesichtspunkt
von dem aus das Kulturleben hier betrachtet wird, "einseitig" sei.
Sicherlich, und diese Einseitigkeit ist beabsichtigt. Der Glaube, es
sei die Aufgabe fortschreitender wissenschaftlicher Arbeit, die "Einseitigkeit"
der ökonomischen Betrachtungsweise dadurch zu heilen,
daß sie zu einer a 11 gemeinen Sozialwissenschaft erweitert werde,
krankt zunächst an dem Fehler, daß der Gesichtspunkt des "Sozialen",
also der Beziehung zwischen Menschen, nur dann irgend welche
zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmtheit
besitzt, wenn er mit irgend einem speziellen inhaltlichen Prädikat
versehen ist. Sonst umfaßte er, als Objekt einer Wissenschaft
gedacht, natürlich z. B. die Philologie ebensowohl wie die Kirchengeschichte
und namentlich alle jene Disziplinen, die mit dem
wichtigsten konstitutiven Elemente jedes Kulturlebens: dem Staat,
und mit der wichtigsten Form seiner normativen Regelung: dem
Recht, sich beschäftigen. Daß die Sozialökonomik sich mit "sozialen"
Beziehungen befaßt ist so wenig ein Grund, sie als notwendigen
Vorläufer einer "allgemeinen Sozialwissenschaft" zu denken,
wie etwa der Umstand, daß sie sich mit Lebenserscheinungen befaßt,
dazu nötigt, sie als Teil der Biologie, oder der andere, daß sie
es mit Vorgängen auf einem Himmelskörper zu tun hat, dazu, sie
als Teil einer künftigen vermehrten und verbesserten Astronomie
anzusehen. Nicht die "s a c h 1 ich e n" Zusammenhänge der "Dinge",
sondern die g e dan klic h e n Zusammenhänge der Prob lerne
liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit
neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch
Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte
eröffnen, da entsteht eine neue "Wissenschaft''. -
Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des "Sozialen", der einen
ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine
Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch
gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich
trägt; das "allgemeine" beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem
als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in
seiner "allgemeinen" Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische G es i eh ts..
f-2 Max Weber,
punkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente
beleuchten könnte.
Frei von dem veralteten Glauben, daß die Gesamtheit der
Kulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktion "materieller"
Interessekonstell~tionen d e du zieren lasse, glauben wir unsrerseits
doch, daß die A n a 1 y s e d e r s o z i a 1 e n Er s c h e in u n g e n u n d
Ku 1 tu r vor g ä n g e unter dem speziellen Gesichtpunkte ihrer
ökonomisch e n Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches
Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger
Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in
aller absehbarer Zeit noch bleiben wird. Die sogenannte "materialistische
Geschichtsauffassung" als "W e 1 t anschau u n g" oder als
Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit
ist auf das Bestimmteste abzulehnen, - die Pflege der ökonomischen
Geschichts inter p r e tat i o n ist einer der wesentlichsten Zwecke
unserer Zeitschrift. Das bedarf der näheren Erläuterung.
Die sogenannte "materialistische Geschichtsauffassung" in dem
a 1 t e n genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests beherrscht
heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilettanten.
Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigentümliche Erscheinung
verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis bei der Erklärung
einer historischen Erscheinung so lange nicht Genüge geschehen
ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als
mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen): ist dies
aber der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der fadenscheinigsten
Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil
nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen
"Triebkräfte" die "eigentlichen", einzig "wahren", in "letzter Instanz
überall Ausschlag gebenden" seien, Genüge geschehen ist. Die Erscheinung
ist ja nichts Einzigartiges. Es haben fast alle Wissenschaften,
von der Philologie bis zur Biologie, gelegentlich den Anspruch
erhoben, Produzenten nicht nur von Fachwissen, sondern
auch von "Weltanschauungen" zu sein. Und unter dem Eindruck
der gewaltigen Kulturbedeutung der modernen ökonomischen
Umwälzungen und speziell der überragenden Tragweite der "Arbeiterfrage"
glitt der unausrottbare monistische Zug jedes gegen
sich selbst unkritischen Erkennens naturgemäß auf diesen Weg.
Der gleiche Zug kommt jetzt, wo in zunehmender Schärfe der
politische und handelspolitische Kampf der Nationen untereinander
um die Welt gekämpft wird, der Anthropologie zugute: ist doch
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 43
der Glaube weit verbreitet, daß "in letzter Linie" alles historische
Geschehen Ausfluß des Spiels angeborener "Rassenqualitäten" gegeneinander
sei. An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung
von "Volkscharakteren" trat die noch kritiklosere Aufstellung von
eigenen "Gesellschaftstheorien" auf "naturwissenschaftlicher" Grundlage.
Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthropologischen
Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Bedeutung
gewinnt, sorgsam verfolgen. Es steht zu hoffen, daß der
Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvorgängen
auf die "Rasse" lediglich unser Nicht wissen dokumentierte,
- ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das "Milieu" oder,
früher, auf die "Zeitumstände", - allmählich durch methodisch geschulte
Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung
bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten,
daß sie für die Erkenntnis der Ku 1 tu r etwas spezifisch Anderes
und Erheblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglichkeit
sicherer Zurechnung einzelner konkreter Kulturvorgänge der
historischen Wirklichkeit zu konkreten h ist o r i s c h gegebenen
Ursachen durch Gewinnung exakten, unter spezifischen Gesichtspunkten
erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit
sie uns dies zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns
Interesse und qualifizieren sie die "Rassenbiologie" als etwas mehr
als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers.
Nicht anders steht es um die Bedeutung der ökonomischen
Interpretation des Geschichtlichen. Wenn nach einer Periode grenzenloser
Überschätzung heute beinahe die Gefahr besteht, daß sie in
ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit unter wertet werde, so ist
das die Folge der beispielslosen Unkritik, mit welcher die ökonomische
Deutung der Wirklichkeit als "universelle" Methode in dem
Sinne einer Deduktion aller Kulturerscheinungen - d. h. alles an
ihnen für uns Wesentlichen, - als in letzter Instanz ökonomisch
bedingt verwendet wurde. Heute ist die logische Form, in der sie .
auftritt, nicht ganz einheitlich. Wo für die rein ökonomische Erklärung
sich Schwierigkeiten ergeben, stehen verschiedene Mittel
zur Verfügung, um ihre Allgemeingültigkeit als entscheidendes ursächliches
Moment aufrecht zu erhalten. Entweder man behandelt
alles das, was in der historischen Wirklichkeit 1,1 ich t aus ökonomischen
Motiven deduzierbar ist, als eben des h a I b wissenschaftlich
b e d e u tun g s I o s e "Zufälligkeit". Oder man dehnt den Begriff
des Ökonomischen bis zur Unkenntlichkeit, so daß alle mensch44
l\Iax Weber,
liehen Interessen, welche irgend wie an äußere Mittel gebunden
sind, in jenen Begriff einbezogen werden. Steht historisch fest, daß
auf zwei in ökonomischer Hinsicht g 1 eiche Situationen dennoch
verschieden reagiert wurde, - in folge der Differenzen der politischen
und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen
nicht ökonomischen Determinanten -, dann degradiert man, um
die Suprematie des Ökonomischen zu erhalten, alle diese Momente
zu den historisch zufälligen "Bedingungen", unter denen die ökonomischen
Motive als "Ursachen" wirken. Es versteht sich aber, daß
alle jene für die ökonomische Betrachtung "zufälligen" Momente ganz
in demselben Sinne wie die ökonomischen je ihren eigenen Gesetzen
folgen, und daß für eine Betrachtungsweise, welche ihre spezifische
Bedeutung verfolgt, die jeweiligen ökonomischen "Bedingungen"
ganz in dem gleichen Sinne "historisch zufällig" sind, wie umgekehrt.
Ein beliebter Versuch, demgegenüber die überragende
Bedeutung des Ökonomischen zu retten, besteht endlich darin, daß
man das konstante Mit- und Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente
des Kulturlebens in eine kausale oder funktionelle Abhängig
k e i t des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen
von einem: dem ökonomischen, deutet. Wo eine bestimmte einzelne
nicht wirtschaftliche Institution historisch auch eine bestimmte
"Funktion" im Dienste von ökonomischen Klasseninteressen
versehen hat, d. h. diesen dienstbar geworden ist, wo z. B. etwa
bestimmte religiöse Institutionen als "schwarze Polizei" sich verwenden
lassen und verwendet werden, wird dann die ganze Institution
entweder als für diese Funktion geschaffen oder, - ganz
metaphysisch, - als durch eine vom Ökonomischen ausgehende
"Entwicklungstendenz" geprägt, vorgestellt.
Es bedarf heute für keinen Fachmann mehr der Ausführung,
daß diese Deutung des Zweckes der ökonomischen Kulturanalyse
der Ausfluß teils einer bestimmten geschichtlichen Konstellation,
die das wissenschaftliche Interesse bestimmten ökonomisch bedingten
Kulturproblemen zuwendete, teils eines rabiaten wissenschaftlichen
Ressortpatriotismus war und daß sie heute mindestens veraltet ist.
Die Reduktion auf ökonomische Ursachen allein ist auf keinem
Gebiete der Kulturerscheinungen je in irgend einem Sinn erschöpfend,
auch nicht auf demjenigen der "wirtschaftlichen" Vorgänge. Prinzipiell
ist eine Ban k geschichte irgend eines Volkes, die nur die
ökonomischen Motive zur Erklärung heranziehen wollte, natürlich
ganz ebenso unmöglich, wie etwa eine "Erklärung" der Sixtinischen
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 45
Madonna aus den sozial- ökonomischen Grundlagen des Kulturlebens
zur Zeit ihrer Entstehung sein würde, und sie ist in keiner
\iVeise priniipiell erschöpfender als es etwa die Ableitung des Kapitalismus
aus gewissen Umgestaltungen religiöser Bewußtseinsinhalte,
die bei der Genesis des kapitalistischen Geistes mitspielten,
oder etwa irgend eines politischen Gebildes aus geographischen
Bedingungen sein würden. In a 11 e n diesen Fällen ist für
das Maß der Bedeutung, die wir ökonomischen Bedingungen beizumessen
haben, entscheidend, welcher Klasse von Ursachen diej
e n i g e n spezifischen Elemente der betreffenden Erscheinung, denen
wir im einzelnen Falle Bedeutung beilegen, auf die es uns ankommt,
zuzurechnen sind. Das Recht der einseitigen Analyse
der Kulturwirklichkeit unter spezifischen "Gesichtspunkten"
aber, - in unserem Falle dem ihrer ökonomischen Bedingtheit,
- ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstande,
daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung
qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwendung
des gleichen begrifflich-methodischen Apparates alle Vorteile
der Arbeitsteilung bietet. Sie ist so lange nicht "willkürlich",
als der Er f o 1 g für sie spricht, d. h. als sie Erkenntnis von Zusammenhängen
liefert, welche für die kausale Zurechnung konkreter
historischer Vorgänge sich wert v o 11 erweisen. Aber: die
"Einseitigkeit" und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation
des Geschichtlichen ist überhaupt nur ein Spezialfall eines
ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit
geltenden Prinzips. Dies in seinen logischen Grundlagen
und in seinen allgemeinen methodischen Konsequenzen uns
zu verdeutlichen ist der wesentliche Zweck der weiteren Auseinandersetzungen.
Es gibt keine schlechthin "objektive" wissenschaftliche Analyse
des Kulturlebens oder, - was vielleicht etwas Engeres, für
unser n Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet, - ·
der "sozialen Erscheinungen" u n abhängig von speziellen und
"einseitigen" Gesichtspunkten, nach denen sie - ausdrücklich oder
stillschweigend, bewußt oder unbewußt - als Forschungsobjekt
ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der
Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen
Arbeit, die über eine rein form a 1 e Betrachtung
der Normen - rechtlichen oder konventionellen - des sozialen
Beieinanderseins hinausgehen will.
Max Weber,
Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft.
Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit
des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer
Eigenart verstehen- den Zusammenhang und die Kultur b e d e utun
g ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung
einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So- und- nicht- anders-
Gewerdenseins andererseits. Nun bietet uns das Leben, sobald
wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu
besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von
nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen,
,.in" uns und "außer" uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser
Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann
bestehen, wenn wir ein einzelnes "Objekt" - etwa einen konkreten
Tauschakt - isoliert ins Auge fassen, - sobald wir nämlich ernstlich
versuchen wollen, dies "Einzelne" erschöpfend in a 11 e n
seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige
denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle
denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen
Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung,
daß jeweils nur ein endlicher Te i 1 derselben den
Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er "wesentlich"
im Sinne von "wissenswert" sein solle. Nach welchen Prinzipien
aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man
geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften
in letzter Linie in der "gesetzmäßigen" Wiederkehr bestimmter
ursächlicher Verknüpfungen finden zu können. Das, was
die "Gesetze", die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf
der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß, -
nach dieser Auffassung, - das allein wissenschaftlich "Wesentliche"
in ihnen sein: sobald wir die "Gesetzlichkeit" einer ursächlichen
Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer Induktion
als ausnahmslos geltend nachgewiesen, sei es für die innere
Erfahrung zur unmittelbaren anschaulichen Existenz gebracht haben,
ordnet sich ja jeder so gefundenen Formel jede noch so groß gedachte
Zahl gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Heraushebung
des "Gesetzmäßigen" jeweils von der individuellen Wirklichkeit
unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich
noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung
des "Gesetzes"-Systems in dieses hineinzuarbeiten sei,
oder aber es bleibt als "zufällig" und eben des h a I b wissenschaftDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 47
lieh unwesentlich überhaupt beiseite, eben w e i 1 es nicht "gesetzlich
begreif bar" ist, a I so nicht zum "Typus" des Vorgangs gehört und
daher nur Gegenstand "müßiger Neugier" sein kann. Immer wieder
taucht demgemäß - selbst bei Vertretern der historischen Schule -
die Vorstellung auf, das Ideal, dem alle, also auch die Kulturerkenntnis
zustrebe und, wenn auch für eine ferne Zukunft, zustreben
könne, sei ein System von Lehrsätzen, aus dem die Wirklichkeit
"deduziert" werden könnte. Ein Führer der Naturwissenschaft hat
bekanntlich geglaubt, als das (faktisch unerreichbare) ideale Ziel
einer solchen Verarbeitung der Kulturwirklichkeit eine "a s t r o n omische"
Erkenntnis der Lebensvorgänge bezeichnen zu können.
Lassen wir uns, so oft diese Dinge nun auch schon erörtert sind, die
Mühe nicht verdrießen auch unsererseits hier etwas näher zuzusehen.
Zunächst fällt in die Augen, daß diejenige "astronomische"
Erkenntnis an welche dabei gedacht wird, keine Erkenntnis von
Gesetzen ist, sondern vielmehr die "Gesetze", mit denen sie
arbeitet, als Voraussetzungen ihrer Arbeit anderen Disziplinen,
wie der Mechanik, entnimmt. Sie selbst aber interessiert sich für die
Frage: welches in d i v i du e 11 e Ergebnis die Wirkung jener Gesetze
auf eine in d i v i du e 11 gestaltete K o n s t e 11 a t i o n erzeugt,
da diese individuellen Konstellationen für uns Be d e u tu n g haben.
Jede individueile Konsteiiation, die sie uns "erklärt" oder voraussagt,
ist natürlich kausal nur erklärbar als Folge einer anderen
gleich individuellen ihr vorhergehenden, und soweit wir zurückgreifen
in den grauen Nebel der fernsten Vergangenheit -- stets
bleibt die Wirklichkeit, für welche die Gesetze gelten, gleich individuell,
gleich wenig aus den Gesetzen d e duz i erb a r. Ein kosmischer
"Urzustand", der einen nicht oder weniger in d i v i du e 11 c n
Charakter an sich trüge als die kosmische Wirklichkeit der Gegenwart
ist, wäre natürlich ein sinn 1 o s er Gedanke: - aber sp).lkt
nicht ein Rest ähnlicher Vorstellungen auf unserm Gebiet in jenen
bald naturrechtlich erschlossenen, bald durch Beobachtung an
"Naturvölkern'' verifizierten Annahmen ökonomisch-sozialer "Urzustände"
ohne historische "Zufalligkeiten", - so des "primitiven
Agrarkommunismus", der sexuellen "Promiscuität" usw., aus denen
heraus alsdann durch eine Art von Sündenfall ins Konkrete die
individuelle historische Entwicklung entsteht?
Ausgangspunkt des sozialwissenschaftliehen Interesses ist nun
zweifeiios die wirk 1 ich e, also individuelle Gestaltung des uns
umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem univer s e 11 e n, aber
:-
Max Weber,
deshalb natürlich nicht minder in d i v i du e 11 gestalteten, Zusammenhange
und in seinem Gewordensein aus anderen, selbstverständlich
wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen
heraus. Offenbar liegt hier der Sachverhalt, den wir eben an der
Astronomie als einem (auch von den Logikern regelmäßig zum
gleichen Behufe herangezogenen) Grenzfalle erläuterten, in spezifisch
gesteigertem Maße vor. Während für die Astronomie die Welt·
körper nur in ihren qua n t i tat i v e n, exakter Messung zugänglichen
Beziehungen für unser Interesse in Betracht kommen, ist
die qua 1 i tat i v e Färbung der Vorgänge das, worauf es uns in
der Sozialwissenschaft ankommt. Dazu tritt, daß es sich in den
Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge
handelt, welche nacherlebend zu "verstehen" natürlich eine Aufgabe
spezifisch anderer Art ist, als sie die Formeln der exakten Naturerkenntnis
überhaupt lösen können oder wollen. Immerhin sind
diese Unterschiede nicht an sich derart prinzipielle, wie es auf den
ersten Blick scheint. Ohne Qualitäten kommen - von der reinen
Mechanik abgesehen - auch die exakten Naturwissenschaften
nicht aus; wir stoßen ferner auf unserem Spezialgebiet auf
die - freilich schiefe - Meinung-, daß wenigstens die für unsere
Kultur fundamentale Erscheinung des geldwirtschaftlichen Verkehrs
quantifizierbar und eben des h a I b "gesetzlich" erfaßbar
sei; und endlich hängt es von der engeren oder weiteren
Fassung des Begriffs "Gesetz" ab, ob man auch Regelmäßigkeiten,
die, weil nicht quantifizierbar, keiner zahlenmäßigen Erfassung
zugänglich sind, darunter verstehen will. Was speziell die
Mitwirkung "geistiger" Motive anlangt, so schließt sie jedenfalls die
Aufstellung von Rege 1 n rationalen Handeins nicht aus, und vor
allem ist die Ansicht noch heute nicht ganz verschwunden, daß es
eben die Aufgabe der P s y c h o 1 o g i e sei, eine der Mathematik
vergleichbare Rolle für die einzelnen "Geisteswissenschaften"
zu spielen, indem sie die komplizierten Erscheinungen des Soziallebens
auf ihre psychischen Bedingungen und Wirkungen hin zu
zergliedern, diese auf möglichst einfache psychische Faktoren zurückzuführen,
letztere wieder gattungsmäßig zu klassifizieren und
in ihren funktionellen Zusammenhängen zu untersuchen habe. Damit
wäre dann, wenn auch keine "Mechanik", so doch eine Art von
"Chemie" des Soziallebens in seinen psychischen Grundlagen geschaffen.
Ob derartige Untersuchungen jemals wertvolle und -
was davon verschieden ist - für die Ku 1 tu r wissenschaften brauchDie
"Objektivität" sozialwissen~chaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 49
bare Ein z e 1 ergebnisse liefern würden, können wir hier nicht ent·
scheiden wollen. Für die Frage aber, ob das Z i e 1 sozialökono·
miseher Erkenntnis in unserem Sinn: Erkenntnis der Wirk I ich k e i t
in ihrer Kultur b e d e u tun g und ihrem kausalen Zusammenhang
durch die Aufsuchung des sich gesetzmäßig Wiederholenden erreicht
werden kann, wäre dies ohne allen Belang. Gesetzt den Fall, es
gelänge einmal, sei es mittels der Psychologie, sei es auf anderem
Wege, alle jemals beobachteten und weiterhin auch alle in irgend
einer Zukunft denkbaren ursächlichen Verknüpfungen von Vor·
gängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgend welche ein·
fache letzte "Faktoren" hin zu analysieren, und dann in einer un·
geheuren Kasuistik von Begriffen und streng gesetzlich geltenden
Regeln erschöpfend zu erfassen - was würde das Resultat für die
Erkenntnis der g es c h ich t I ich gegebenen Kulturwelt, oder auch
nur irgend einer Einzelerscheinung daraus,- etwa des Kapitalismus in
seinem Gewordensein und seiner Kulturbedeutung, - besagen? Als
Erkenntnismitte I ebensoviel und ebensowenig wie etwa ein Lexikon
der organischen chemischen Verbindungen für die b i o g e n e t i s c h e
Erkenntnis der Tier- und Pflanzenwelt. Im einen Falle wie im
andern würde eine sicherlich wichtige und nützliche Vorarbeit geleistet
sein. Im einen Fall so wenig wie im andern ließe sich aber
aus jenen "Gesetzen" und "Faktoren" die Wirklichkeit des Lebens
jemals d e du zieren - nicht etwa deshalb nicht, weil noch irgend
welche höhere und geheimnisvolle "Kräfte" ("Dominanten", "Entelechien"
oder wie man sie sonst genannt hat) in den Lebenserscheinungen
stecken müßten - das ist eine Frage ganz für sich -
sondern schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis
der Wirklichkeit auf die K o n s t e II a t i o n ankommt, in der sich
jene (hypo thetischen!) "Faktoren", zu einer geschichtlich für
uns b e d e u t s a m e n Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden, und
weil, wenn wir nun diese individuelle Gruppierung "kausal erklären"
wollen, wir immer auf andere, ganz ebenso individuelle
Gruppierungen zurückgreifen müßten, aus denen wir sie, natürlich
unter Benutzung jener (hypothetischen!) "Gesetzes"-Begriffe "erklären"
würden. Jene (hypothetischen) "Gesetze" und "Faktoren"
festzustellen, wäre für uns also jedenfalls nur die erste der
mehreren Arbeiten, die zu der von uns erstrebten Erkenntnis führen
würden. Die Analyse und ordnende Darstellung der jeweils
historisch gegebenen, individuellen Gruppierung jener "Faktoren"
und ihres dadurch bedingten konkreten, in seiner Art b e d e u t ~
Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) I. 4
so Max Weber,
s a m e n Zusammenwirkens und vor allen die Vers t ä n d 1 ichmachung
des Grundes und der Art dieser Bedeutsamkeit,
wäre die nächste, zwar unter Verwendung jener Vorarbeit zu lösende,
aber ihr gegenüber völlig neue und s e 1 b ständige Aufgabe.
Die Zurückverfolgung der einzelnen, für die Gegenwart bedeutsamen,
·individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen in
ihrem Gewordensein soweit in die Vergangenheit als möglich und
ihre historische Erklärung aus früheren wiederum individuellen
Konstellationen wäre die dritte, - die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen
endlich eine denkbare vierte Aufgabe.
Für alle diese Zwecke wäre das Vorhandensein klarer Begriffe
und die Kenntnis jener (hypothetischen) "Gesetze" offenbar als Erkenntnis
mit t e 1 - aber auch nur als solches - von großem Werte,
ja sie wäre zu diesem Zwecke schlechthin unentbehrlich. Aber
selbst in dieser Funktion zeigt sich an einem entscheidenden
Punkte sofort die Grenze ihrer Tragweite, und mit deren Feststellung
gelangen wir zu der entscheidenden Eigenart kulturwissenschaftlicher
Betrachtungsweise. Wir haben als "Kulturwissenschaften" solche Disziplinen
bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kultur b ed
e u tun g zu erkennen strebten. Die Bedeutung der Gestaltung
einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber
aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen
entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie
setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen
voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische
Wirklichkeit ist für uns "Kultur", weil und sofern wir sie
mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile
der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns b ed
e u t s a m werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils
betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene
Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für
uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge
ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind; nur weil und soweit
dies der Fall, ist er in seiner individuellen Eigenart für uns
wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich
durch keine "voraussetzunglose" Untersuchung des empirisch Gegebenen
zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung
dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird. Das Bed
e u t s a m e koinzidiert natürlich auch als solches mit keinem
Gesetze als solchem, und zwar um so weniger, je allgemeinDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 5 I
gültiger jenes Gesetz ist. Denn die spezifische Bedeutung, die
ein Bestandteil der Wirklichkeit für uns hat, findet sich natürlich
gerade nicht in denjenigen seiner Beziehungen, die er mit möglichst
vielen anderen teilt. Die Beziehung der Wirklichkeit auf
Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen und, die Heraushebung und
Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter
dem Gesichtspunkt ihrer Kultur b e d e u tu n g ist ein gänzlich
heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse
der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen
Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen
haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander. Sie
können in einem Einzelfall einmal koinzidieren, aber es ist von den
verhängnisvollsten Folgen, wenn dies zufällige Zusammentreffen
über ihr p r in z i p i e 11 es Auseinanderfallen täuscht. Es kann die
Kultur b e d e u tun g einer Erscheinung, z. B. des geldwirtschaftlichen
Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt,
wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens
ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er
diese Rolle spielt, das, was in seiner Kultur b e d e u tun g verständlich
zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären
ist. Die Untersuchung des g e n er e 11 e n Wesens des Tausches und
der Technik des Marktverkehrs ist eine - höchst wichtige und
unentbehrliche! - Vorarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage
nicht beantwortet, wie denn h ist o r i s c h der Tausch zu seiner
heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen
Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die
Ku 1 tu r b e d e u tu n g der Geldwirtschaft, um derentwillen· wir uns
für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um
derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit
jener Technik befaßt, - sie folgt aus keinem jener "Gesetze".
Die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, Kaufs etc.
interessieren den Juristen, - was uns angeht, ist die Aufgabe, eb~n
jene Ku 1 tu r b e d e u tun g der h ist o r i s c h e n Tatsache, daß der
Tausch heute Massenerscheinung ist, zu analysieren. Wo sie erklärt
werden soll, wo wir verstehen wollen, was unsere sozialökonomische
Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja genau
die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute,
unterscheidet, worin also die Bedeutung der "Geldwirtschaft"
liegt, da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft
in die Untersuchung hinein: wir werden jene Begriffe, welche die
4*
52 Max Weber,
Untersuchung der gattungsmäßigen Elemente der ökonomischen
Massenerscheinungen uns liefern, zwar, soweit in ihnen b ed
e u tun g s v o 11 e Bestandteile unserer Kultur enthalten sind, als
Darstellungsmitte 1 verwenden: - nicht nur aber ist das Z i e 1
unserer Arbeit durch die noch so genaue Darstellung jener Begriffe
und Gesetze nicht erreicht, sondern die Frage, was zum Gegenstand
der gattungsmäßigen Begriffsbildung gemacht werden soll,
ist gar nicht "voraussetzungslos", sondern eben im Hinblick auf die
Bedeutung entschieden worden, welche bestimmte Bestandteile
jener unendli~hen Mannigfaltigkeit, die wir "Verkehr" nennen, für die
Kultur besitzen. Wir erstreben eben die Erkenntnis einer h ist orischen,
d. h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen,
Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die
Voraussetzung, daß ein e n d 1 i c h e r Teil der unendlichen Fülle der
Erscheinungen allein b e d e u tu n g s voll sei, wird der Gedanke
einer Erkenntnis in d i v i du e 11 er Erscheinungen überhaupt logisch
sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis
a 11 er "Gesetze" des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale
Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt
m ö g 1 i c h , - da schon eine B es c h r e i b u n g selbst des kleinsten
Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist?
Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis
bestimmt haben, ist ja stets u n end 1 ich, und es gibt keinerlei
in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als
allein in Betracht kommend , auszusondern. Ein Chaos von
"Existenzialurteilen" über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre
das einzige, was der Versuch eines ernstlich "voraussetzungslosen"
Erkennens cer Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses
Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder
einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich
viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen
ausgesprochen werden können. In dieses Chaos
bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein
Te i 1 der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bed
e u tun g hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Ku 1 tu rwert
i d e e n, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten.
Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen:
diejenigen, welchen wir eine allgemeine Ku 1 tu rb
e d e u tu n g beimessen - sind daher wissenswert, s i e a 11 e i n
sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Auch diese kausale ErDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 53
klärung selbst weist dann wiederum die gleiche Erscheinung auf:
ein erschöpfender kausaler Regressus von irgend einer konkreten
Erscheinung in ihrer v o 11 e n Wirklichkeit aus ist nicht nur praktisch
unmöglich sondern einfach ein Unding. Nur diejenigen Ursachen,
welchen die im Einzelfalle "wes e n t 1 ich e n" Bestandteile eines Geschehens
zu zurechnen sind, greifen wir heraus: die Kausalfrage
ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt,
nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten
kausalen Zusammenhängen, nicht eine Frage, welcher Formel
die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage,
welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zu zurechnen
ist: sie ist Zurechnungsfrage. Wo immer die kausale Erklärung
einer "Kulturerscheinung" - eines "h ist o r i s c h e n In d iv
i du ums", wie wir im Anschluß an einen in der Methodologie
unserer Disziplin schon gelegentlich gebrauchten und jetzt in der
Logik in präziser Formulierung üblich werdenden Ausdruck sagen
wollen - in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen
der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mitte 1 der Untersuchung
sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung
der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile
der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit, und nur
soweit, als sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge
wertvoll. Und je "allgemeiner", d. h. abstrakter, die
Gesetze, desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen
Zurechnung in d i v i du e 11 er Erscheinungen und damit indirekt
für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge.
Was folgt nun aus alledem?
Natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften
die Erkenntnis des Gene r e 11 e n, die Bildung abstrakter
Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und der
Versuch der Formulierung von "g es e t z 1 ich e n" Zusammenhängen
keine wissenschaftliche Berechtigung hätte. Im geraden Gegenteil:
wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter
Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine g ü 1 t i g e Zurechnung
irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung
"nomologischer" Kenntnis - Kenntnis der Regelmäßigkeiten der
kaÜsalen Zusammenhänge - überhaupt nicht m ö g 1 ich. Ob einem
einzelnen individuellen Bestandteil eines Zusammenhanges in der
Wirklichkeit in concreto kausale Bedeutung für den Erfolg, um dessen
kausale Erklärung es sich handelt, beizumessen ist, kann ja im
54 Max Weber,
Zweifelsfalle nur durch Abschätzung der Einwirkungen, . welche wir
von ihm und den anderen für die Erklärung mit in Betracht
kommenden Bestandteilen des gleichen Komplexes g e n er e 11 zu erwarten
pflegen: welche "adäquate" Wirkungen der betreffenden ursächlichen
Elemente sind, bestimmt werden. Inwieweit der Historiker
(im weitesten Sinne des Wortes) mit seiner aus der persönlichen
Lebenserfahrung gespeisten und methodisch geschulten Phantasie
diese Zurechnung sicher vollziehen kann und inwieweit er auf die
Hilfe spezieller Wissenschaften angewiesen ist, welche sie ihm ermöglichen,
das hängt vom Einzelfalle ab. Überall aber und so auch
auf dem Gebiet komplizierter wirtschaftlicher Vorgänge ist die
Sicherheit der Zurechnung um so größer, je gesicherter und
umfassender unsere generelle Erkenntnis ist. Daß es sich dabei
stets, auch bei allen sog. "wirtschaftlichen Gesetzen" ohne Ausnahme,
nicht um im engeren, exakt naturwissenschaftlichen Sinne
"gesetzliche", sondern um in Regeln ausgedrückte a d ä q u a t e ursächliche
Zusammenhänge, um eine hier nicht näher zu analysierende
Anwendung der Kategorie der "objektiven Möglichkeit" handelt,
tut diesem Satz nicht den mindesten Eintrag. Nur ist eben die
Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Z i e 1, sondern Mitte 1
der Erkenntnis, und ob es Sinn hat, eine aus der Alltagserfahrung
bekannte Regelmäßigkeit ursächlicher Verknüpfung als "Gesetz" in
eine Formel zu bringen, ist in jedem einzelnen Fall eine Zweckmäßigkeitsfrage.
Für die exakte Naturwissenschaft sind die "Gesetze"
um so wichtiger und wertvoller, je a 11 g e m ein g ü 1 t i g er
sie sind, fi.ir die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer
konkreten Voraussetzung sind die a 11 gemeinsten Gesetze, weil
die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je umfassender
die Geltung eines Gattungs begriffe s - sein Umfang
- ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit
.ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen
zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß. Die
Erkenntnis des Gene r e 11 e n ist uns in den Kulturwissenschaften
nie um ihrer seI b s t willen wertvoll.
Was sich uns als Resultat des bisher Gesagten ergibt, ist, daß
·eine "objektive" Behandlung der Kulturvorgänge in dem Sinne, daß
.als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des
Empirischen auf "Gesetze" zu gelten hätte, sinnlos ist. Sie ist dies
nicht etwa, wie oft behauptet worden ist, deshalb weil die Kulturvorgänge
oder etwa die geistigen Vorgänge "objektiv" weniger
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 55
gesetzlich abliefen, sondern weil I) Erkenntnis von sozialen Gesetzen
keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von
den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Behufe
braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von Ku 1 tu r vorgängen
anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Be d e u tu n g, welche
die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten
einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in
w e 1 c h e n Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein
Gesetz, denn das entscheidet sich nach den Wertideen, unter
denen wir die "Kultur" jeweils im einzelnen Falle betrachten.
"Kultur" ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und
Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit
des Weltgeschehens. Sie ist es für den Menschen auch
dann, wenn er einer konkreten Kultur als Todfeind sich entgegenstellt
und "Rückkehr zur Natur" verlangt. Denn auch zu
dieser Stellungnahme kann er nur gelangen, indem er die konkrete
Kultur auf seine Wertideen bezieht und "zu leicht" befindet.
Dieser rein 1 o g i s c h- formale Tatbestand ist gemeint, wenn hier
von der logisch notwendigen Verankerung aller historichen Individuen
an "Wertideen" gesprochen wird. Transzendentale Voraussetzung
jeder Ku 1 tu r wissen s c h a f t ist nicht etwa, daß wir
eine bestimmte oder überhaupt irgend eine "Kultur" wert v o 11
finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der
Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt S t e I I u n g zu nehmen
und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein
mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen
des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus b e urt
e i 1 e n, zu ihnen als b e d e u t s a m (positiv oder negativ) Stellung
nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, -
diese Erscheinungen haben für uns Kultur b e d e u tun g, auf dieser
Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse. Wenn also
hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker yon
der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen
wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie
der Meinung, Kultur b e d e u tu n g solle nur wert v o 11 e n Erscheinungen
zugesprochen werden, nicht ausgesetzt. Eine Ku 1 tu rerscheinung
ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das
Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre
Existenz und die Form, die sie h ist o r i s c h annehmen, unsere
Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren
Max Weber,
Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind
aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen
Begriffen gedacht wird, für uns b e d e u t s a m machen.
Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist, wie sich daraus ergibt,
stets eine Erkenntnis unter spezifisch b es o n der t e n Gesichtspunkten.
Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher
als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges
von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung
die erforderlichen "Gesichtspunkte" habe, so heißt das
lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit,
- bewußt oder unbewußt - auf universelle "Kulturwerte" zu beziehen
und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für
uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt,
jene Gesichtspunkte könnten dem "Stoff selbst entnommen" werden,
so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten,
der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit
denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten
Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben
hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt. In
dieser immer und überall bewußt oder unbewußt erfolgenden Auswahl
einzeIne r spezieller "Seiten" des Geschehens waltet auch
dasjenige Element kulturwissenschaftlicher Arbeit, welches jener oft
gehörten Behauptung zugrunde liegt, daß das "Persönliche" eines
wissenschaftlichen Werkes das eigentlich Wertvolle an ihm sei, daß
sich in jedem Werk, solle es anders zu existieren wert sein, "eine
Persönlichkeit" aussprechen müsse. Gewiß: ohne Wertideen des
Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle
Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den G 1 a u b e n
des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte
jede Arbeit an der Erkenntnis der in d i v i du e 11 e n Wirklichkeit
schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen
Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele,
seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der
wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht,
werden die "Auffassung" einer ganzen Epoche zu bestimmen, d. h.
entscheidend zu sein vermögen nicht nur für das, was als "wertvoll",
sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos,
als "wichtig" und "unwichtig" an den Erscheinungen gilt.
Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist also
insofern an "subjektive" Voraussetzungen gebunden, als sie sich
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 57
nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche
irgend eine - noch so indirekte - Beziehung zu Vorgängen haben,
denen wir Kultur b e d e u tun g beilegen. Sie ist trotzdem natürlich
rein kau s a 1 e Erkenntnis genau in dem gleichen Sinn wie die Erkenntnis
bedeutsamer individueller Naturvorgänge, welche qualitativen
Charakter haben. Neben die mancherlei Verirrungen, welche
das Hinübergreifen formal-juristischen Denkens in die Sphäre der
Kulturwissenschaften gezeitigt hat, ist neuerdings u. a. der V ersuch
getreten, die "materialistische Geschichtsauffassung" durch eine Reihe
geistreicher Trugschlüsse prinzipiell zu "widerlegen", indem ausgeführt
wurde, daß, da alles Wirtschaftsleben sich in rechtlich oder konventionell
g er e g e 1 t e n Formen abspielen müsse, alle ökonomische
"Entwicklung" die Form von Bestrebungen zur Schaffung neuer
Rechtsformen annehmen müsse, also nur aus s i t t 1 i c h e n
Maximen verständlich und a u s diesem G r u n d e von jeder
"natürlichen" Entwicklung dem Wesen nach verschieden sei. Die
Erkenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung sei daher "teleologischen"
Charakters. Ohne hier die Bedeutung des vieldeutig·eren Begriffs
der "Entwicklung" für die Sozialwissenschaft oder auch den logisch
nicht minder vieldeutigen Begriff des "Teleologischen" erörtern zu
wollen, sei demgegenüber hier nur festgestellt, daß sie jedenfalls
nicht in dem Sinn "teleologisch" zu sein genötigt ist, wie diese
Ansicht voraussetzt. Bei völliger formaler Identität der geltenden
Rechtsnormen kann die Kultur b e d e u tun g der normierten Rechts·
ver h ä 1 t n iss e und damit auch der Normen selbst sich grundstürzend
ändern. Ja, will man sich denn einmal in Zukunftsphantasien
spintisierend vertiefen, so könnte jemand sich z. B. eine "Vergesellschaftung
der Produktionsmittel" theoretisch als vollzogen denken,
ohne daß irgend eine auf diesen Erfolg bewußt abzielende "Bestrebung"
entstanden wäre und ohne daß irgend ein Paragraph unserer
Gesetzgebung verschwände oder neu hinzuträte: das statistische
Vorkommen der einzelnen rechtlich normierten Beziehungen freilic!I
wäre von Grund aus geändert, bei vielen auf Null gesunken, ein großer
Teil der Rechtsnormen p r a k t i s c h bedeutungslos, ihre ganze Kulturbedeutung
bis zur Unkenntlichkein verändert. Erörterungen de
lege ferenda konnte daher die "materialistische" Geschichtstheorie
mit Recht ausscheiden, denn ihr zentraler Gesichtspunkt war gerade
der unvermeidliche Bedeutungswandel der Rechtsinstitutionen.
Wem die schlichte Arbeit kau s a 1 e n Verständnisses der historischen
Wirklichkeit subaltern erscheint, der mag sie meiden, - sie durch
58 Max Weber,
irgend eine "Teleologie" zu ersetzen ist unmöglich. "Zweck" ist
für unsere Betrachtung die Vorstellung eines Er f o 1 g es, welche
Ursache einer Handlung wird; wie jede Ursache, welche zu
einem · b e d e u tun g s v o 11 e n Erfolg beiträgt oder beitragen kann,
so berücksichtigen wir auch diese. Und ihre s p e z i fisch e Bedeutung
beruht nur darauf, daß wir menschliches Handeln nicht
nur konstatieren, sondern verstehen können und wollen.-
Ohne alle Frage sind nun jene Wertideen "subjektiv".
Zwischen dem "historischen" Interesse an einer Familienchronik
:· und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen,
welche einer Nation oder der Menschheit in
langen Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche
Stufenleiter der "Bedeutungen", deren Staffeln für jeden
einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden. Und
ebenso sind sie natürlich historisch wandelbar mit dem Charakter
der Kultur und der die Menschen beherrschenden Gedanken selbst.
Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die
kulturwissenschaftliche F o r s c h u n g nur E r g e b n i s s e haben
könne, die "subjektiv" in dem Sinne seien, daß sie für den einen
geIten und für den andern nicht. Was wechselt ist vielmehr
der Grad, in dem sie den einen inter es sie r e n und den andern
nicht. Mit anderen Worten: was Gegenstand der Untersuchungwird,
und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit
der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher
und seine Zeit beherrschenden Wertideen; - im Wie?, In der
Methode der Forschung ist der leitende "Gesichtspunkt" zwar -
wie wir noch sehen werden - für die Bildung- der begrifflichen
Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in der Art ihrer V erwendung
aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie überall
an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche
Wahrheit ist nur, was für alle g-elten w i 11, die Wahrheit wo 11 e n.
Aber allerdings folgt daraus eins: Die Sinnlosigkeit des
selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden
Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften
sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen
zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgend einem Sinne
end g ü 1 t i g e n Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus
sie dann wieder deduziert werden könnte. Endlos wälzt sich der
Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer
neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 59
Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was
aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn
und Bedeutung für uns erhält, "historisches Individuum" wird. Es
wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet
und wissenschaftlich er faßt wird. Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften
bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft
hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die
Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpfliche
Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch
nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden
Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie
zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich: stets kann
bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren,
spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und disparaten
Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit
für uns jeweils "Kultur", d. h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war
oder ist. -
Nach diesen langwierigen Auseinandersetzungen können wir uns
nun endlich der Frage zuwenden, die uns bei einer Betrachtung der
"Objektivität" der Kulturerkenntnis m e t h o d i s c h interessiert:
welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit
der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit
Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet: welches ist die
Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begriffsbildung für
die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit?
Die Nationalökonomie war, - wir sahen es schon - ursprünglich
wenigstens dem Schwerpunkt ihrer Erörterungen nach
"Technik", d. h. sie betrachtete die Erscheinungen der Wirklichkeit
von einem, wenigstens scheinbar, eindeutigen, feststehenden praktischen
Wertgesichtspunkt aus: dem der Vermehrung des ,,Reichtums"
der Staatsangehörigen. Sie war andererseits von Anfang an
nicht nur "Technik", denn sie wurde eingegliedert in die mächtige
Einheit der naturrechtliehen und rationalistischen Weltanschauung
des achtzehnten Jahrhunderts. Aber die Eigenart jener Weltanschauung
mit ihrem optimistischen Glauben an die theoretische
und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen wirkte wesentlich
insofern, als sie h in d er t e, daß der p r o b 1 e m a t i s c h e
Charakter jenes als selbstverständlich vorausgesetzten Gesichtspunktes
entdeckt wurde. Wie die rationale Betrachtung der sozialen Wirklichkeit
im engen Zusammenhalt mit der modernen Entwicklung
6o Max Weber,
der Naturwissenschaft entstanden war, so blieb sie m der ganzen
Art ihrer Betrachtung ihr verwandt. In den naturwissenschaftlichen
Disziplinen nun war der praktische Wertsgesichtspunkt des unmittelbar
technisch Nützlichen von Anfang an mit der als Erbteil
der Antike überkommenen und weiter entwickelten Hoffnung eng
verbunden, auf dem Wege der generalisierenden Abstraktion und
der Analyse des Empirischen auf gesetzliche Zusammenhänge hin
zu einer rein "objektiven", d. h. hier: von allen Werten losgelösten,
und zugleich durchaus rationalen, d. h. von allen individuellen "Zufälligkeiten"
befreiten monistischen Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit
in Gestalt eines Beg r i f f s systems von metaphysischer
Ge I tun g und von mathematischer Form zu gelangen. Die an
Wertgesichtspunkte geketteten naturwissenschaftlichen Disziplinen,
wie die klinische Medizin und noch mehr die gewöhnlich sogenannte
"Technologie", wurden rein praktische "Kunstlehren". Die Werte,
denen sie zu dienen hatten: Gesundheit des Patienten, technische
Vervollkommnung eines konkreten Produktionsprozesses etc. standen
für jede von ihnen jeweils fest. Die Mittel, die sie anwendeten,
waren und konnten nur sein die Verwertung der durch die theoretischen
Disziplinen gefundenen Gesetzesbegriffe. Jeder prinzipielle
Fortschritt in der Bildung dieser war oder konnte doch sein auch
ein Fortschritt der praktischen Disziplin. Bei feststehendem Zweck
war ja die fortschreitende Reduktion der einzelnen praktischen
Fragen (eines Krankheitsfalles, eines technischen Problems) als
Spezialfall auf generell geltende Gesetze, also die Erweiterung des
theoretischen Erkennens, unmittelbar mit der Ausweitung der technisch-
praktischen Möglichkeiten verknüpft und identisch. Als dann
die moderne Biologie auch diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit,
die uns h ist o r i s c h, d. h. in der Art ihres So-und-nicht-andersgeworden-
seins interessieren, unter den Begriff eines allgemeingültigen
Entwicklungsprinzips gebracht hatte, welches wenigstens dem
Anschein nach - aber freilich nicht in Wahrheit - alles an jenen
Objekten Wesentliche in ein Schema generell geltender Gesetze
einzuordnen gestattete, da schien die Götterdämmerung aller Wertgesichtspunkte
in allen Wissenschaften heraufzuziehen. Denn da
ja doch auch das sogenannte historische Geschehen ein Teil der
gesamten Wirklichkeit war, und da das Kausalprinzip, die Voraussetzung
aller wissenschaftlichen Arbeit, die Auflösung alles Geschehens
in generell geltende "Gesetze" zu fordern schien, da endlich
der ungeheure Erfolg der Naturwissenschaften, die mit diesem
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 61
Gedanken ernst gemacht hatten, zutage lag, so schien ein anderer
Sinn des wissenschaftlichen Arbeitens als die Auffindung der Gesetze
des Gesehehens überhaupt nicht vorstellbar. Nur das "Gesetzmäßige"
konnte das wissenschaftlich Wesentliche an den Erscheinungen
sein, "individuelle" Vorgänge nur als "Typen", d. h. hier:
als illustrative Repräsentanten der Gesetze in Betracht kommen;
ein Interesse an ihnen um ihrer selbst willen schien "kein wissenschaftliches"
Interesse.
Die mächtigen Rückwirkungen dieser glaubensfrohen Stimmung
des naturalistischen Monismus auf die ökonomischen Disziplinen
hier zu verfolgen, ist unmöglich. Als die sozialistische Kritik
und die Arbeit der Historiker die ursprünglichen Wertgesichtspunkte
in Probleme zu verwandeln begannen, hielt die mächtige Entwicklung
der biologischen Forschung auf der einen Seite, der Einfluß des
Hegel'schen Panlogismus auf der anderen Seite die Nationalökonomie
davon ab, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit
in vollem Umfang deutlich zu erkennen. Das Resultat, soweit es
uns hier interessiert, ist, daß trotz des gewaltigen Dammes, welchen
die deutsche idealistische Philosophie seit Fichte, die Leistungen der
deutschen historischen Rechtsschule und die Arbeit der historischen
Schule der deutschen Nationalökonomie, dem Eindringen naturalistischer
Dogmen entgegen baute, dennoch und zum Teil i n f o 1 g e
dieser Arbeit an entscheidenden Stellen die Gesichtspunkte des
Naturalismus noch immer unüberwunden sind. Dahin gehört insbesondere
das noch immer problematisch gebliebene Verhältnis
zwischen "theoretischer" und "historischer" Arbeit in unserem Fache.
In unvermittelter und anscheinend unüberbrückbarer Schroffheit
steht noch heute die "abstrakt"-theoretische Methode der empirischhistorischen
Forschung gegenüber. Sie erkennt durchaus richtig
die methodische Unmöglichkeit, durch Formulierung von "Gesetzen"
die geschichtliche Erkenntnis der Wirklichkeit zu ersetzen oder
umgekehrt durch bloßes Aneinanderreihen historischer Beobachtungen
zu "Gesetzen" im strengen Sinne zu gelangen. Um nun solche zu
gewinnen, - denn daß dies die Wissenscheft als höchstes Ziel
zu erstreben habe, steht ihr fest - , geht sie von der Tatsache
aus, daß wir die Zusammenhänge menschlichen Handeins be·
ständig selbst in ihrer Realität unmittelbar erleben, daher - so
meint sie - ihren Ablauf mit axiomatischer Evidenz direkt
verständlich machen und so in seinen "Gesetzen" erschließen
können. Die einzig exakte Form der Erkenntnis, die FormuMax
Weber,
lierung unmittelbar anschaulich evidenter Gesetze, sei aber,
zugleich die einzige, welche den Schluß auf die nicht unmittelbar
beobachteten Vorgänge zulasse, daher sei mindestens für
die fundamentalen Phänomene des wirtschaftlichen Lebens die Aufstellung
eines Systems von abstrakten und - infolgedessen - rein
formalen Lehrsätzen nach Analogie derjenigen der exakten Naturwissenschaften
das einzige Mittel geistiger Beherrschung der gesellschaftlichen
Mannigfaltigkeit. Trotz der prinzipiellen methodischen
Scheidung gesetzlicher und historischer Erkenntnis, welche der
Schöpfer der Theorie als Erster und Einziger vollzogen hatte,
wird nun aber für die Lehrsätze der abstrakten Theorie von ihm
empirische Ge I tun g im Sinne der D e duz i erb a r k e i t der Wirklichkeit
aus den "Gesetzen" in Anspruch genommen. Zwar nicht
im Sinne der empirischen Geltung der abstrakten ökonomischen
Lehrsätze für sich allein , sondern in der Art, daß, wenn man
entsprechende "exakte" Theorien von allen übrigen in Betracht
kommenden Faktoren gebildet haben werde, diese sämtlichen abstrakten
Theorien zusammen dann die wahre Realität der
Dinge - d. h. : das, was von der Wirklichkeit wissenswert sei -
in sich enthalten müßten. Die exakte ökonomische Theorie stelle
die Wirkung eines psychischen Motivs fest, andere Theorien
hätten die Aufgabe, alle übrigen Motive in ähnlicher Art in Lehrsätzen
von hypothetischer Geltung zu entwickeln. Für das Ergebnis
der theoretischen Arbeit, die abstrakten Preisbildungs-, Zins-,
Renten-etc.-Theorien, wurde demgemäß hie und da phantastischerweise
in Anspruch genommen: sie könnten, nach - angeblicher -
Analogie physikalischer Lehrsätze, dazu verwendet werden, aus gegebenen
realen Prämissen qua n t i tat i v bestimmte Resultate -
also Gesetze im strengsten Sinne - mit Gültigkeit für die Wirklichkeit
des Lebens d e duz i er e n, da die Wirtschaft des Menschen
bei gegebenem Zweck in bezug auf die Mittel eindeutig "determiniert"
sei. Es wurde nicht beachtet, daß, um dies Resultat in
irgend einem noch so einfachen Falle erzielen zu können, die Gesamt
h e i t der jeweiligen historischen Wirklichkeit einschließlich
aller ihrer kausalen Zusammenhänge als "gegeben" gesetzt und als
bekannt vorausgesetzt werden müßte und daß, wenn dem endlichen
Geist diese Kenntnis zugänglich würde, irgend ein Erkenntniswert
einer abstrakten Theorie nicht vorstellbar wäre. Das
naturalistische Vorurteil, das in jenen Begriffen etwas den exakten
Naturwissenschaften Verwandtes geschaffen werden solle, hatte
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 6 3
eben dahin geführt, daß man den Sinn dieser theoretischen Gedankengebilde
falsch verstand. Man glaubte, es handele sich um
die psychologische Isolierung eines spezifischen "Triebes", des Erwerbstriebes,
im Menschen, oder aber um die isolierte Beobachtung
einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, des sogenannten
wirtschaftlichen Prinzipes. Die abstrakte Theorie meinte, sich auf
psychologische Axiome stützen zu können und die Folge war, daß
die Historiker nach einer e m p irisch e n Psychologie riefen, um die
Nichtgeltung jener Axiome beweisen und den Verlauf der wirtschaftlichen
Vorgänge psychologisch ableiten zu können. Wir
wollen nun an dieser Stelle den Glauben an die Bedeutung einererst
zu schaffenden - systematischen Wissenschaft der "Sozialpsychologie"
als künftiger Grund Ia g e der Kulturwissenschaften,
speziell der Sozialökonomik, nicht eingehend kritisieren. Gerade
die bisher vorliegenden, zum Teil glänzenden Ansätze psycholo·
giseher Interpretation ökonomischer Erscheinungen zeigen jedenfalls,
daß nicht von der Analyse psychologischer Qualitäten des Menschen
zur Analyse der gesellschaftlichen Institutionen fortgeschritten wird,
sondern gerade umgekehrt die Aufhellung der psychologischen
Voraussetzungen und Wirkungen der Institutionen die genaue Bekanntschaft
mit diesen letzteren und die wissenschaftliche Analyse
ihrer Zusammer.hänge voraussetzt. Die psychologische Analyse
bedeutet alsdann lediglich eine im konkreten Fall höchst wertvolle
Vertiefung der Erkenntnis ihrer historischen Kultur b e dingt h e i t
und Kultur b e d e u tun g. Das, was uns an dem psychischen Verhalten
des Menschen in seinen sozialen Beziehungen interessiert, ist
eben in jedem Falle je nach der spezifischen Kulturbedeutung der
Beziehung, um die es sich handelt, spezifisch besondert. Es handelt
sich dabei um untereinander höchst heterogene und höchst konkret
komponierte psychische Motive und Einflüsse. Die sozial-psychologische
Forschung bedeutet eine Durchmusterung verschiedener
einzeIne r, untereinander vielfach disparater Gattungen voq
Kulturelementen auf ihre Deutungsfähigkeit für unser nacherlebendes
Verständnis hin. Wir werden durch sie, von der Kenntnis
der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und
Kulturbedeutung in steigendem Maße geistig ver s t eh e n lernen,
nicht aber die Institutionen aus psychologischen Gesetzen deduzieren
oder aus psychologischen Elementarerscheinungen er k I ä r e n wollen.
So ist denn auch die weitschichtige Polemik, welche sich um
die Frage der psychologischen Berechtigung der abstrakt theoreMax
vVeber,
tischen Aufstellungen, um die Tragweite des "Erwerbstriebes" und
des "wirtschaftlichen Prinzips" , etc. gedreht hat, wenig fruchtbar
gewesen.-
Es handelt sich bei den Aufstellungen der abstrakten Theorie
nur scheinbar um "Deduktionen" aus psychologischen Grundmotiven,
in Wahrheit vielmehr um einen Spezialfall einer Form der Begriffsbildung,
welche den Wissenschaften von der menschlichen Kultur
eigentümlich und in gewissem Umfange unentbehrlich ist. Es lohnt
sich, sie an dieser Stelle etwas eingehender zu charakterisieren,
da wir dadurch der prinzipiellen Frage nach der Bedeutung der
Theorie für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis näher kommen.
Dabei lassen wir es ein für allemal unerörtert, ob die theoretischen
Gebilde, welche wir als Beispiele heranziehen, oder auf die wir
anspielen, so wie sie sind, dem Zwecke entsprechen, dem sie dienen
wollen, ob sie also sachlich z w e c km ä ß i g gebildet sind. Die
Frage, wie weit z. B. die heutige "abstrakte Theorie·' noch ausgesponnen
werden soll, ist schließlich auch eine Frage der Ökonomie
der wissenschaftlichen Arbeit, deren doch auch andere Probleme
harren. Auch die "Grenznutztheorie" untersteht dem "Gesetz des
Grenznutzens". -
Wir haben in der abstrakten Wirtschaftstheorie ein Beispiel
jener Synthesen vor uns, welche man als "Ideen" historischer Erscheinungen
zu bezeichnen pflegt. Sie bietet uns ein I d e a 1 bild der
Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation,
freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln.
Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge
des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen
Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion
den Charakter einer Utopie an sich, die durch g e dank-
1 i ehe Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen
ist. Ihr Verhältnis zu dem empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens
besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener
Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom "Markt" abhängige
Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam
fest g es t e 11 t sind oder vermutet werden, wir uns die Eigen -
a r t dieses Zusammenhangs an einem I d e a 1 t y p u s pragmatisch
veranschau 1 ich e n und verständlich machen können. Diese
Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von
Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische
Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine "HypoDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlieber und sozialpolitischer Erkenntnis. 6 5
these", aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen.
Er ist nicht eine Dar s t e II u n g des Wirklichen, aber er will der
Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die
"Idee" der h ist o r i s c h gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen
Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben
logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z. B. die Idee der,
"Stadtwirtschaft" des Mittelalters als "genetischen" Begriff konstruiert
hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff "Stadtwirtschaft"
nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten
Städten tat sä c h 1 ich bestehenden Wirtschaftsprinzipien,
sondern ebenfalls als einen I d e a 1 t y p u s. Er wird gewonnen durch
einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und
durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr,
dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Ein z e 1 erscheinungen,
die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten
fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedanken bilde. In seiner
begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit
empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die
historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen
Fa 11 e festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem
Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse
einer bestimmten Stadt als "stadtwirtschaftlich" im begrifflichen
Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung
und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet
seine spezifischen Dienste. - Ganz in der gleichen Art kann man, um
noch ein weiteres Beispiel zu analysieren, die "Idee" des "Handwerks"
in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich
diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder
vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen g·esteigert zu einem in
sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt und auf einen Ge·
danken ausdruck bezieht, den man darin manifestiert findet. Man
kann dann ferner den V ersuch machen, eine Gesellschaft zu zeichnen,
in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit
von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des
gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen
"Handwerk" charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem
Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Idealtypus
einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen
der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran
anschließend den Versuch machen, die Utopie einer "kapitalistischen"
Archiv fiir Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX). r. 5
66 Max \Veber,
d. h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschten
Kultur zu zeichnen. Sie hätte einzelne diffus vorhandene
Züge des modernen materiellen und geistigen Kulturlebens in ihrer
Eigenart gesteigert zu einem für unsere Betrachtung widerspruchslosen
Idealbilde zusammenzuschließen. Das wäre dann ein V ersuch
der Zeichnuug einer "Idee" der k a p i t a I ist i s c h e n Ku I tu r -
ob und wie er etwa gelingen könnte, müssen wir hier ganz dahingestellt
sein lassen. Nun ist es möglich, oder vielmehr es muß als
sicher angesehen werden, daß mehrere, ja sicherlich jeweils sehr zahlreiche
Utopien dieser Art sich entwerfen lassen, von denen keine
der anderen gleicht, von denen erst recht keine in der empirischen
Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen
Zustände zu beobachten ist, von denen aber doch jede den Anspruch
erhebt, eine Darstellung der "Idee" der kapitalistischen
Kultur zu sein, und von denen auch j e d e diesen Anspruch insofern
erheben kann, als jede tatsächlich gewisse, in ihrer Eigenart
b e d e u tun g s v o 11 e Züge unserer Kultur der Wirklichkeit entnommen
und in ein einheitliches Idealbild gebracht hat. Denn
diejenigen Phänomene, die uns als Kulturerscheinungen interessieren,
leiten regelmäßig dies unser Interesse - ihre "Kultur b e d e u -
tun g" - aus sehr verschiedenen Wertideen ab, zu denen wir sie
in Beziehung setzen können. Wie es deshalb die verschiedensten
"Gesichtspunkte" gibt, unter denen wir sie als für uns bedeutsam
betrachten können, so lassen sich die allerverschiedensten Prinzipien
der Auswahl der in einen Idealtypus einer bestimmten Kultur aufzunehmenden
Zusammenhänge zur Anwendung bringen.
Was ist nun aber die Bedeutung solcher idealtypischen Begriffe
für eine Erfahrungswissenschaft, wie wir sie treiben wollen? Vorweg
sei hervorgehoben, daß der Gedanke des Seins o 11 enden,
"Vorbildlichen" von diesen in rein 1 o g i s c h e m Sinn "idealen''
Gedankengebilden, die wir besprechen, hier zunächst sorgsam fernzuhalten
ist. Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen,
welche unserer P h an t a sie als zulänglich motiviert und
also "objektiv möglich", unserem nomologischen Wissen als a d äqua
t erscheinen.
Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen
Wirklichkeit "voraussetzungslose" Abbildung "objektiver"
Tatsachen" sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen.
Und selbst wer erkannt hat, daß es eine "Voraussetzungslosigkeit"
im logischen Sinn auf dem Boden der Wirklichkeit nicht
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 67
gibt und auch das einfachste Aktenexzerpt oder Urkundenregest
nur durch Bezugnahme auf "Bedeutungen", und damit auf Wertideen
als letzte Instanz, irgend welchen wissenschaftlichen Sinn
haben kann, wird doch die Konstruktion irgend welcher historischer
"Utopien" als ein für die Unbefangenheit der historischen
Arbeit gefährliches Veranschaulichungsmittel, überwiegend aber einfach
als Spielerei ansehen. Und in der Tat: ob es sich um reines
Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung
handelt, kann a priori niemals entschieden werden: es gibt
auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis
konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen
Bedingtheit und ihrer Be d e u tun g. Nicht als Ziel,
sondern als Mitte 1 kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen
in Betracht. Jede aufmerksame Beobachtung der begrifflichen
Elemente historischer Darstellung zeigt nun aber, daß der
Historiker, sobald er den Versuch unternimmt, über das bloße
Konstatieren konkreter Zusammenhänge hinaus die Ku 1 tu rb
e d e u tun g eines noch so einfachen individuellen Vorgangs festzustellen,
ihn zu "charakterisieren", mit Begriffen arbeitet und
arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf
und eindeutig bestimmbar sind. Oder sind Begriffe wie etwa:
"Individualismus", ,,Imperialismus", Feudalismus", "Merkantilismus"
"konventionell" und die zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art,
mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu
bemächtigen suchen, ihrem Inhalt nach durch "voraussetzungslose"
Beschreibung irgend einer konkreten Erscheinung oder aber
durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren
konkreten Erscheinungen gemeinsam ist, zu bestimmen? Die
Sprache, die der Historiker spricht, enthält in hunderten von
Worten solche unbestimmten, dem unreflektiert waltenden Bedürfnis
des Ausdrucks entnommenen Gedankenbilder, deren Bedeutung zunächst
nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird. In unendlich
vielen Fällen, zu mal auf dem Gebiet der darstellenden po 1 i t is
c h e n Geschichte, tut nun die Unbestimmtheit ihres Inhaltes der
Klarheit der Darstellung sicherlich keinen Eintrag. Es genügt dann,
daß im einzelnen Falle e m p f und e n wird, was dem Historiker
vorschwebt, oder aber man kann sich damit begnügen, daß eine
partikuläre Bestimmtheit des Begriffsinhaltes von relativer
Bedeutung für den einzelnen Fall als gedacht vorschwebt. Je
schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren
s*
,,
68 Max Weber,
Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das
Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig bestimmten
Begriffen zu arbeiten. Eine "Definition" jener Synthesen
des historischen Denkens nach dem Schema: genus proximum
und differentia specifica ist natürlich ein Unding: man mache doch
die Probe. Eine solche Form der Feststellung der Wortbedeutung
gibt es nur auf dem Boden dogmatischer Disziplinen, welche mit
Syllogismen arbeiten. Eine einfach "schildernde Auflösung" jener
Begriffe in ihre Bestandteile gibt es ebenfalls nicht oder nur scheinbar,
denn es kommt eben darauf an, w e 1 c h e dieser Bestandteile
denn · als wesentlich gelten sollen. Es bleibt, wenn eine genetische
Definition des Begriffsinhaltes versucht werden soll, nur die Form
des Idealtypus im oben fixierten Sinn. Er ist ein Gedankenbild,
welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die "eigentliche"
Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist~ als ein
Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Ex e m p 1 a r
eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein
idealen Grenz begriffe s hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung
bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen
Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche
Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung
der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, welche
unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte P h an t a sie
als adäquat b e ur t e i 1 t. · .
Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Versuch,
historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in g e -
n e t i s c h e Begriffe zu fassen. Man nehme etwa die Begriffe:
"Kirche" und "Sekte". Sie lassen sich rein klassifizierend in Merkmalskomplexe
auflösen, wobei dann nicht nur die Grenze zwischen
beiden, sondern auch der Begriffsinhalt stets flüssig bleiben muß.
Will ich aber den Begriff der "Sekte" g e n e t i s c h, z. B. im bezug
auf gewisse wichtige Kulturbedeutungen, die der "Sektengeist" für
die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merkmale
beider wes e n t 1 ich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung
zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann
zugleich i d e a 1 typisch, d. h. in voller begrifflicher Reinheit sind
sie nicht oder nur vereinzelt vertreten. Hier wie überall führt eben
jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab.
Aber die diskursive Natur unseres Erkennens: der Umstand, daß wir
die Wirklichkeit nur durch eine Kette von Vorstellungsveränderungen
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher nnd sozialpolitischer Erkenntnis. 69
hindurch erfassen, postuliert eine solche Begriffsstenographie. Unsere
Phantasie kann ihre aus,drückliche begriff;liche Formulierung sicherlich
oft als Mittel der Forschung entbehren, - für die Dars
t e 11 u n g ist, soweit sie eindeutig sein will, ihre Verwendung auf
dem Boden der Kulturanalyse in zahlreichen Fällen ganz unvermeidlich.
Wer sie grundsätzlich verwirft, muß sich auf die formale,
etwa die rechtshistorische Seite der Kulturerscheinungen beschränken.
Der Kosmos der recht 1 ich e n Normen ist natürlich zugleich
begrifflich klar bestimmbar und (im recht 1 ich e n Sinn!)
für die historische Wirklichkeit g e 1 t end. Aber ihre praktische
Bedeutung ist es, mit der die Arbeit der Sozialwissenschaft in
unserem Sinn zu tun hat. Diese Bedeutung aber ist sehr oft nur
durch Beziehung des empirisch Gegebenen auf einem idealen
Grenzfall eindeutig zum Bewußtsein zu bringen. Lehnt der Historiker
(im weitesten Sinne des Wortes) einen Formulierungsversuch
eines solchen Idealtypus als "theoretische Konstruktion", d. h. als für
seinen konkreten Erkenntniszweck nicht tauglich oder entbehrlich,
ab, so ist die Folge regelmäßig entweder, daß er, bewußt oder unbewußt,
andere ähnliche ohne sprachliche Formulierung und
logische Bearbeitung verwendet, oder daß er 1m Gebiet des unbestimmt
"Empfundenen" stecken bleibt.
Nichts aber ist allerdings gefährlicher, als die, naturalistischen
Vorurteilen entstammende, Vermischung von Theorie und Geschichte,
sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen theoretischen
Begriffsbildern den "eigentlichen" Gehalt, das "Wesen" der
geschichtlichen Wirklichkeit · fixiert zu haben, oder daß man sie als
ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt
werden soll, oder daß man gar die "Ideen" als eine hinter der Flucht
der Erscheinungen stehende "eigentliche" Wirklichkeit, als reale
"Kräfte" hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.
Speziell diese letztere Gefahr liegt nun um so näher, als wir
unter "Ideen" einer Epoche auch und sogar in erster Linie Gedanken
oder Ideale zu verstehen gewohnt sind, welche die Masse
oder einen geschichtlich ins Gewicht fallenden Teil der Menschen
jener Epoche selbst b eh er r s c h t haben und dadurch für deren
Kultureigenart als Komponenten bedeutsam gewesen sind. Und es
kommt noch zweierlei hinzu: Zunächst der Umstand, daß zwischen
der "Idee" im Sinn von praktischer oder theoretischer Gedankenrichtung
und der "Idee" im Sinn eines von uns als begriffliches
Hilfsmittel konstruierten Ideal typ u s einer Epoche regelmäßig be,.
Max Weber,
stimmte Beziehungen bestehen. Ein Idealtypus bestimmter gesellschaftlicher
Zustände, welcher sich aus gewissen charakteristischen
sozialen Erscheinungen einer Epoche abstrahieren läßt, kann - und
dies ist sogar recht häufig der Fall - den Zeitgenossen selbst als
praktisch zu erstrebendes Ideal oder doch als Maxime für die
Regelung bestimmter sozialer Beziehungen vorgeschwebt haben.
So steht es schon mit der "Idee" des "Nahrungsschutzes" und
manchen Theorien der Kanonisten, speziell des heiligen Thomas,
im Verhältnis zu dem heute verwendeten idealtypischen Begriff
der "Stadtwirtschaft" des Mittelalters, den wir oben besprachen.
Erst recht steht es so mit dem berüchtigten "Grundbegriff" der
Nationalökonomie: dem des "wirtschaftlichen Werts". Von der
Scholastik an bis in die Marxsche Theorie hinein verquickt sich
hier der Gedanke von etwas "objektiv" Ge1tendem, d. h. also: Seinso
11 enden, mit einer Abstraktion aus dem empirischen Verlauf
der Preisbildung. Und jener Gedanke, daß der "Wert" der Güter
nach bestimmten {naturrechtlichen) Prinzipien reguliert sein so 11 e,
hat unermeßliche Bedeutung für die Kulturentwicklung - und
zwar nicht nur des Mittelalters - gehabt und hat sie noch. Und
er hat speziell auch die empirische Preisbildung intensiv beeinfl.ußt.
Was aber unter jenem theoretischen Begriff gedacht wird
und gedacht werden kann, das ist nur durch scharfe, das heißt
idealtypische Begriffsbildung wirklich eindeutig klar zu machen, -
das sollte der Spott über die "Robinsonaden" der abstrakten Theorie
jedenfalls so lange bedenken, als er nichts besseres, d. h. hier:
K 1 a r e r es an die Stelle zu setzen vermag.
Das Kausalverhältnis zwischen der historisch konstatierbaren,
die Menschen beherrschenden, Idee und denjenigen Bestandteilen
der historischen Wirklichkeit, aus welchen der ihr korrespondierende
Idealtyp u s sich abstrahieren läßt, kann dabei natürlich höchst
verschieden gestaltet sein. Festzuhalten ist prinzipiell nur, daß
beides selbstverständlich grundverschiedene Dinge sind. Nun aber
tritt noch etwas weiteres hinzu: Jene die Menschen einer
Epoche beherrschenden, d. h. diffus in ihnen wirksamen "Ideen"
s e 1 b s t können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere
Gedankengebilde handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur
in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja
in den Köpfen einer unbestimmten und wechselnden Vielzahl von
Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen
nach Form und Inhalt, Klarheit und Sinn erfahren. Diejenigen BeDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 7 r
standteile des Geisteslebens der einzelnen Individuen in einer bestimmten
Epoche des Mittelalters z. B., die wir als "das Christentum"
der betreffenden Individuen ansprechen dürfen, würden,
wenn wir sie vollständig zur Darstellung zu bringen vermöchten,
natürlich ein Chaos unendlich differenzierter und höchst widerspruchsvoller
Gedanken- und Gefühlszusammenhänge aller Art sein,
trotzdem die Kirche des Mittelalters die Einheit des Glaubens und
der Sitten sicherlich in besonders hohem Maße durchzusetzen vermocht
hat. Wirft man nun die Frage auf, was denn in diesem
Chaos das "Christentum" des Mittelalters, mit dem man doch fortwährend
als mit einem feststehenden Begriff operieren muß, gewesen
sei, worin das "Christliche", welches wir in den Institutionen
des Mittelalters finden, denn liege, so zeigt sich ·alsbald, daß auch
hier in jedem einzelnen Fall ein von uns geschaffenes reines Gedankengebilde
verwendet wird. Es ist eine Verbindung von
Glaubenssätzen, Kirchenrechts- und sittlichen Normen, Maximen der
Lebensführung und zahllosen Einzelzusammenhängen, die wir zu
einer "Idee" verbinden: eine Synthese, zu der wir ohne die V erwendung
idealtypischen Begriffe gar nicht widerspruchslos zu gelangen
vermöchten.
Die logische Struktur der Begriffssysteme, in denen wir solche
"Ideen" zur Darstellung bringen, und ihr Verhältnis zu dem, was
uns in der empirischen Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, sind
nun natürlich höchst verschieden. Verhältnismäßig einfach gestaltet
sich die Sache noch, wenn es sich um Fälle handelt, in denen ein
oder einige wenige leicht in Formeln zu fassende theoretische Leitsätze
- etwa der Prädestinationsglaube Calvins - oder klar formulierbare
sittliche Postulate es sind, welche sich der Menschen bemächtigt
und historische Wirkungen erzeugt haben, so daß wir die "Idee"
in einer Hierarchie von Gedanken gliedern können, welche logisch
aus jenen Leitsätzen sich entwickeln. Schon dann wird freilich leicht
übersehen, daß, so gewaltig die Bedeutung auch der rein 1 o g i s c h
zwingenden Macht des Gedankens in der Geschichte gewesen ist, -
der Marxismus ist ein hervorragendes Beispiel dafür - doch der
empirisch-historische Vorgang in den Köpfen der Menschen regelmäßig
als ein p s y c h o logisch, nicht als ein logisch bedingter verstanden
werden muß. Deutlicher noch zeigt sich der idealtypische
Charakter solcher Synthesen von historisch wirksamen Ideen dann,
wenn jene grundlegenden Leitsätze und Postulate gar nicht oder
nicht mehr in den Köpfen derjenigen Einzelnen leben, die von den
72 Max Weber,
aus ihnen logisch folgenden oder von ihnen durch Assoziation ausgelösten
Gedanken beherrscht sind, weil die historisch ursprünglich
zugrunde liegende "Idee" entweder abgestorben ist, oder überhaupt
nur in ihren Konsequenzen in die Breite gedrungen war. Und
noch entschiedener tritt der Charakter der Synthese als einer "Idee",
die wir schaffen, dann hervor, wenn jene grundlegenden Leitsätze
von Anfang an nur unvollkommen oder gar nicht zum deutlichen
Bewußtsein gekommen sind oder wenigstens nicht die Form klarer
Gedankenzusammenhänge angenommen haben. vVenn alsdann
diese Prozedur von uns vorgenommen wird, wie es unendlich oft
geschieht und auch geschehen muß, so handelt es sich bei dieser
"Idee" - etwa des "Liberalismus" einer bestimmten Periode oder
des "Methodismus" oder irgend einer gedanklich unentwickelten
Spielart des "Sozialismus", - um einen reinen Idealtypus ganz des
gleichen Charakters wie die Synthesen von "Prinzipien" einer Wirtschaftsepoche,
von denen wir ausgingen. Je umfassender die Zusammenhänge
sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je
vielseitiger ihre Kultur b e d e u tun g gewesen ist, desto mehr nähert
sich ihre zusammenfassende systematische Darstellung in einem Begriffs-
und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus, desto
weniger ist es möglich , mit einem derartigen Begriffe
auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die
immer wiederholten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsamkeit
durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu
bringen. Alle Darstellungen eines "Wesens" des Christentums
z. B. sind Idealtypen von stets und notwendig nur sehr relativer
und problematischer Gültigkeit, wenn sie als historische Darstellung
des e m p irisch Vorhandenen angesehen sein wollen, dagegen
von hohem heuristischen Wert für die Forschung und hohem
systematischen Wert für die Darstellung, wenn sie lediglich als begriffliche
Mittel zur Ver g 1 eich u n g und Messung der Wirklichkeit
an ihnen verwendet werden. In dieser Funktion sind sie
geradezu unentbehrlich. Nun aber haftet solchen idealtypischen
Darstellungen regelmäßig noch ein anderes, ihre Bedeutung noch
weiter komplizierendes Moment an. Sie wollen sein, oder sind unbewußt,
regelmäßig Idealtypen nicht nur im 1 o g i s c h e n, sondern
auch im praktischen Sinne: vorbildliche Typen, welche- in
unserem Beispiel - das enthalten, was das Christentum nach der Ansicht
des Darstellers sein so 11, was an ihm das für ihn "Wesentliche",
weil dauernd Wertvolle ist. Ist dies aber bewußtoder-häuDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 7 3
figer - unbewußt der Fall, dann enthalten sie Ideale, auf welche der
Darsteller das Christentum wertend bezieht: Aufgaben und Ziele,
auf die hin er seine "Idee" des Christentums ausrichtet und welche
natürlich von den Werten, auf welche die Zeitgenossen, etwa die
Urchristen, das Christentum bezogen, höchst verschieden sein können,
ja zweifellos immer sein werden. In dieser Bedeutung sind die
"Ideen" dann aber natürlich nicht mehr rein 1 o g i s c h e Hilfsmittel,
nicht mehr Begriffe, an welchen die Wirklichkeit vergleichend g emessen,
sondern Ideale, aus denen sie wertend b e u rt e i 1 t wird.
Es handelt sich hier nicht mehr um den rein theoretischen
Vorgang der B e ~ i eh u n g des Ern pirischen auf Werte, sondern um
Wert ur t e i 1 e, welche in den "Begriff" des Christentums aufgenommen
sind. W e i 1 hier der Idealtypus empirische Ge 1 tun g beansprucht,
ragt er in die Region der wertenden D e u tun g des
Christentums hinein: der Boden der Erfahrungswissenschaft ist
ver 1 a s s e n: es liegt ein persönliches Bekenntnis vor, nicht eine
ideal·typische Begriffs bildung. So prinzipiell dieser Unterschied
ist, so tritt die Vermischung jener beiden grundverschiedenen
Bedeutungen der "Idee" im Verlauf der historischen Arbeit doch
außerordentlich häufig ein. Sie liegt immer sehr nahe, sobald der
darstellende Historiker seine "Auffassung" einer Persönlichkeit oder
Epoche zu entwickeln beginnt. Im Gegensatz zu den konstant bleibenden
ethischen Maßstäben, die Schlosser im Geiste des Rationalismus
verwendete, hat der moderne relativistisch eingeschulte Historiker,
der die Epoche, von der er spricht, einerseits "aus ihr selbst verstehen",
andererseits doch auch "beurteilen" will, das Bedürfnis, die Maßstäbe
seines Urteils "dem Stoff" zu entnehmen, d. h. die "Idee" im
Sinne des Ideals aus der "Idee" im Sinne des "Idealtypus" herauswachsen
zu lassen. Und das ästhetische Reizvolle eines solchen
Verfahrens verlockt ihn lortwährend dazu, die Linie, wo beide sich
scheiden, zu verwischen - eine Halbheit, welche einerseits das
wertende Urteilen nicht lassen kann, andererseits die Verantwortung
für ihre Urteile von sich abzulehnen trachtet. Demgegenüber ist
es aber eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen
Se 1 b s t k o n t r o 11 e und das einzige Mittel zur Verhütung von Erschleichungen,
die logisch-ver g 1 eichende Beziehung der Wirklichkeit
auf Idealtypen im logischen Sinne von der wertenden
Be ur t e i 1 u n g der Wirklichkeit aus I d e a 1 e n heraus scharf zu
scheiden. Ein "Idealtypus" in unserem Sinne ist, wie noch ein~al
wiederholt sein mag, etwas gegenüber der wertenden Beurteilung
74 Max Weber,
völlig indifferentes, er hat mit irgend einer anderen als einer rem
1 o g i s c h e n "Vollkommenheit" nichts zu tun. Es gibt Idealtypen
von Bordellen so gut wie von Religionen, und es gibt von den
ersteren sowohl Idealtypen von solchen, die voin Standpunkt der
heutigen Polizeiethik aus technisch "zweckmäßig" erscheinen würden,
wie von solchen, bei denen das gerade Gegenteil der Fall ist.
Notgedrungen muß hier die eingehende Erörterung des weitaus
kompliziertesten und interessantesten Falles: die Frage der logischen
Struktur des Staats begriffes, beiseite bleiben. Nur folgendes
sei dazu bemerkt: Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit
dem Gedanken "Staat" entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit
diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und
Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils
einmaligen teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammen·
gehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder
gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen
über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter
geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen
und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der einzelnen
vorhanden, welche, wenn sie die "Idee" wirklich selbst klar
als solche dächten, ja nicht erst der "allgemeinen Staatslehre"
bedürften, die sie entwickeln will. Der wissenschaftliche Staatsbegriff,
wie immer er formuliert werde, ist nun natürlich stets eine
Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen.
Aber er ist andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Synthesen,
welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden
werden. Der konkrete Inhalt aber, den der historische
"Staat" in jenen Synthesen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum
nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung
gebracht werden. Und ferner unterliegt es nicht dem mindesten
Zweifel, daß die Art, wie jene Synthesen, in logisch stets unvollkommener
Form, von den Zeitgenossen vollzogen werden, die
"Ideen" die sie sich vom Staat machen, - die deutsche "organische"
Staatsmetaphysik z. B. im Gegensatz zu der "geschäftlichen" amerikanischen
Auffassung, - von eminenter praktischer Bedeutung ist,
daß mit anderen Worten auch hier die als geltensollend oder
geltend g e g 1 a u b t e praktische Idee und der zu Erkenntnis·
zwecken konstruierte theoretische Idealtypus nebeneinander herlaufen
und die stete Neigung zeigen, ineinander überzugehen. -
Wir hatten oben absichtlich den "Idealtypus" wesentlich -
I
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 7 5
wenn auch nicht ausschließlich - als gedankliche Konstruktion
zur Messung und systematischen Charakterisierung von in d i v id
u e 11 e n, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen
- wie Christentum, Kapitalismus usw. - betrachtet. Dies
geschah, um die landläufige Vorstellung zu beseitigen, als ob auf
dem Gebiet der Kulturerscheinungen das abstrakt Typisch e
mit dem abstrakt Gattungs m ä ß i g e n identisch sei. Das ist
nicht der Fall. Ohne den viel erörterten und durch Mißbrauch
stark diskreditierten Begriff des "typischen" hier prinzipiell analysieren
zu können, entnehmen wir doch schon unserer bisherigen
Erörterung, daß die Bildung von Typenbegriffen im Sinn der
Ausscheidung des "Zufälligen" auch und gerade bei h ist or
i s c h e n In d i v i du e n ihre Stätte findet. Nun aber können
natürlich auch diejenigen Gattungs begriffe, die wir fortwährend
als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter historischer
Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter
ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtypen geformt werden.
Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger Anwendungsfall
der idealtypischen Begriffe und jeder in d i v i du e 11 e
Idealtypus setzt sich aus begrifflichen E 1 e m e n t e n zusammen, die
gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind. Auch
in rliesem Falle zeigt sich aber die spezifische logische Funktion
der idealtypischen Begriffe. Ein einfacher Gattungsbegriff im Sinne
eines Komplexes von Merkmalen, die an mehreren Erscheinungen
gemeinsam sich vorfinden, ist z. B. der Begriff des "Tausches", so
lange ich von der Bedeutung der Begriffsbestandteile absehe, also
einfach den Sprachgebrauch des Alltags analysiere. Setze ich diesen
Begriff nun aber etwa zu dem "Grenznutzgesetz" in Beziehung und
bilde der Begriff des "ökonomischen Tausches" als eines ökonomisch
rat i o n a I e n Vorgangs, dann enthält dieser, wie j e der logisch
voll entwickelte, Begriff ein Ur t e i 1 über die "typischen" Be d ing
u n g e n des Tausches in sich. Er nimmt g e n e t i s c h e n Charakter
an und wird d a mit zu g 1 eich im logischen Sinn idealtypisch,
d. h. er entfernt sich von der empirischen Wirklichkeit, die nur
mit ihm ver g 1 ich e n, auf ihn bezogen werden kann. Ähnliches
gilt von allen sogenannten "Grundbegriffen" der Nationalökonomie:
sie sind in g e n e t i scher Form . nur als Idealtypen zu entwickeln.
Der Gegensatz zwischen einfachen Gattungsbegriffen, welche lediglich
das e m p irischen Erscheinungen Gemeinsame zusammenfassen,
und gattungsmäßigen I d e a 1 typen - wie etwa eines idealMax
Weber,
typischen Begriffs des "Wesens" des Handwerks - ist natürlich im
einzelnen flüssig. Aber kein Gattungsbegriff hat als solcher
"typischen" Charakter und einen reinen gattungsmäßigsn "Durchschnitts"-
Typus gibt es nicht. Wo immer wir - z. B. in der
Statistik - von "typischen" Größen reden, liegt m eh r als ein
bloßer Durchschnitt vor. ] e mehr es sich um einfache K 1 a s s ifikation
von Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in
der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um Ga ttun
g s begriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammenhänge
in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische
Ku I tu r b e d e u tun g ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr
wird der Begriff - oder das Begriffs s y s t e m - den Charakter des
I d e a I typus an sich tragen. Denn Zweck der i d e a I typischen
Begriffsbildung ist es über a I I, nicht das Gattungsmäßige, sondern
umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein
zu bringen.
Die Tatsache, daß Idealtypen auch gattungsmäßige verwendet
werden können und verwendet werden, bietet m e t h o d i s c h es
Interesse erst im Zusammenhang mit einem anderen Tatbestand.
Bisher haben wir die Idealtypen wesentlich nur als abstrakte
Begriffe von Zusammenhängen kennen gelernt, welche als im Fluß
des Geschehens verharrend, als historische Individuen, an denen
sich Entwicklungen vollziehen, von uns vorgestellt werden. Nun
aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische V arurteil,
daß das Ziel der Sozialwissenschaften die Reduktion der
Wirklichkeit auf "Gesetze" sein müsse, mit Hilfe des Begriffes
des "Typischen" außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert.
Auch E n t w i c k I u n g e n lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren
und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen
Wert haben. Aber es entsteht dabei in ganz besonders
hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander
geschoben werden. Man kann z. B. zu dem theoretischen Ergebnis
gelangen, daß in einer streng "handwerksmäßig" organisierten
Gesellschaft die einzige Quelle der Kapitalakkumulation die Grundrente
sein könne. Daraus kann man dann vielleicht - denn die
Richtigkeit der Konstruktion wäre hier nicht zu untersuchen - ein
rein durch bestimmte einfache Faktoren:- begrenzter Boden, steigende
V olkszahl, Edelmetallzufluß, Rationalisierung der Lebensführung, -
bedingtes Idealbild einer Umbildung der handwerksmäßigen in die
kapitalistische Wirtschaftsform konstruieren. Ob der empirischDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 77
historische Verlauf der Entwicklung tatsächlich der konstruierte
gewesen ist, wäre nun erst mit Hilfe dieser Konstruktion als heuristischem
Mittel zu untersuchen im Wege der Vergleichung zwischen
Idealtypus und "Tatsachen". War der Idealtypus "richtig" konstruiert
und entspricht der tatsächliche Verlauf dem idealtypischen nicht,
so wäre damit der Beweis geliefert, daß die mittelalterliche Gesellschaft
eben in bestimmten Beziehungen keine streng "handwerksmäßige"
war. Und wenn der Idealtypus in heuristisch "i d e a 1 er"
Weise konstruiert war, - ob und wie dies in unserem Beispiel
der Fall sein könnte, bleibt hier gänzlich außer Betracht, - dann
wird er zugleich die Forschung auf den Weg lenken, der zu einer
schärferen Erfassung jener nicht handwerksmäßigen Bestandteile der
mittelalterlichen Gesellschaft in ihrer Eigenart und historischen Bedeutung
führt. Er hat, wenn er zu diesem Ergebnis führt, seinen
logischen Zweck erfüllt, gerade indem er seine eigene Unwirklichkeit
manifestierte. Er war - in diesem Fall - die Erprobung
einer Hypothese. Der Vorgang bietet keinerlei methodologische
Bedenken, so I an g e man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische
Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei
streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion hier
lediglich das Mittel war, p I an v o 11 die g ü I t i g e Zurechnung eines
historischen Vorganges zu seinen wirklichen Ursachen aus dem
Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis m ö g 1 ich e n zu vollziehen.
Diese Scheidung streng aufrecht zu erhalten wird nun erfahrungsgemäß
durch einen Umstand oft ungemein erschwert. Im Interesse
der anschaulichen Demonstration des Idealtypus oder der idealtypischen
Entwicklung wird man sie durch Anschauungsmaterial
aus der empirisch-historischen Wirklichkeit zu verdeutlichen
suchen. Die Gefahr dieses an sich ganz legitimen Verfahrens liegt
darin, daß das geschichtlich Wissen hier einmal als Diener
der Theorie erscheint statt umgekehrt. Die Versuchung liegt für
den Theoretiker recht nahe, dieses Verhältnis entweder als das nor·
male anzusehen, oder, was schlimmer ist, Theorie und Geschichte
ineinander zu schieben und geradezu miteinander zu verwechseln.
In noch gesteigertem Maße liegt dieser Fall dann vor, wenn die
Idealkonstruktion einer Entwicklung mit der begrifflichen Klassifikation
von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde (z. B. der gewerblichen
Betriebsformen von der "geschlossenen Hauswirtschaft" ausgehend,
oder etwa der religiösen Begriffe, von den "Augenblicksgöttern"
anfangend), zu einer g e n e t i s c h e n Klassifikation ineinander
Max Weber,
gearbeitet wird. Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich
ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich
notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ordnung
der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen
in Raum, Zeit und ursächlicher Verknüpfung andererseits
erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Versuchung, der
Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion
in der Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.
Absichtlich ist es vermieden worden, an dem für uns weitaus
wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen zu demonstrieren: an
M a r x. Es geschah, um die Darstellung nicht durch Hineinziehen
von Marx-Interpretationen noch zu komplizieren und um den ErÖrterungen
in unserer Zeitschrift, welche die Literatur, die über
und im Anschluß an den großen Denker erwächst, zum regelmäßigen
Gegenstand kritischer Analyse machen wird, nicht vorzugreifen.
Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich a 11 e spezifischmarxistischen
"Gesetze" und Entwicklungskonstruktionen - soweit
sie t h e o r e t i s c h fehlerfrei sind - idealtypischen Charakter haben.
Die eminente, ja einzigartige h e ur ist i s c h e Bedeutung dieser
Idealtypen, wenn man sie zur Ver g 1 eich u n g der Wirklichkeit
mit ihnen benutzt und ebenso ihre Gefährlichkeit, sobald sie als empirisch
geltend oder gar als reale (d. h. in Wahrheit metaphysische)
"wirkende Kräfte", "Tendenzen" usw. vorgestellt werden, kennt
jeder, der je mit marxistischen Begriffen gearbeitet hat.
Gattungsbegriffe - Idealtypen - idealtypische Gattungsbegriffe,
- Ideen im Sinne von empirisch in historischen Menschen
wirksamen Gedankenverbindungen - Idealtypen solcher Ideen -
Ideale, welche historische Menschen beherrschen- Idealtypen solcher
Ideale - Ideale, auf welche der Historiker die Geschichte bezieht; -
t h e o r e t i s c h e Konstruktionen unter i 11 u s trat i ver Benutzung
des Empirischen - g es c h ich t 1 ich e Untersuchung unter Benutzung
der theoretischen Begriffe als idealer Grenzfälle, - dazu dann die
verschiedenen möglichen Konplikationen, die hier nur angedeutet
werden konnten: lauter gedankliche Bildungen, deren Verhältnis zur
empirischen Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen in jedem einzelnen
Fall problematisch ist: - diese Musterkarte allein zeigt
schon die unendliche Verschlurigenheit der begrifflich-methodischen
Probleme, welche auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften fortwährend
lebendig bleiben. Und wir mußten uns schlechthin versagen,
auf die praktisch methodologischen Fragen hier, wo die ProDie
"Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 79
bleme nur gezeigt werderi sollten, ernstlich einzugehen, die Beziehungen
der idealtypischen zur "gesetzlichen" Erkenntnis, der
idealtypischen Begriffe zu den Kollektivbegriffen usw. eingehender
zu erörtern. -
Der Historiker wird nach allen diesen Auseinandersetzungen
doch immer wieder darauf beharren, daß die Herrschaft der idealtypischen
Form der Begriffsbildung und Konstruktion spezifische
Symptome der ] u g end 1 ich k e i t einer Disziplin seien. Und
darin ist ihm in gewissem Sinne recht zu geben, freilich mit
anderen Konsequenzen, als er sie ziehen wird. Nehmen wir ein
paar Beispiele aus anderen Disziplinen. Es ist gewiß wahr: der
geplagte Quartaner ebenso wie der primitive Philologe stellt sich
zunächst eine Sprache "o r g an i s c h", d. h. als ein von Normen
beherrschtes überempirisches Ganzes vor, die Aufgabe der Wissenschaft
aber als die: festzustellen, was - als Sprachregel - gelten
so 11 e. Die "Schriftsprache" logisch zu bearbeiten wie etwa die
Crusca es tat, ihren Gehalt auf Rege 1 n zu reduzieren, ist die
normalerweise erste Aufgabe, welche sich eine "Philologie" stellt.
Und wenn demgegenüber heute ein führender Philologe das
"Sprechen jedes einzeIne n'' als Objekt der Philologie proklamiert,
so ist selbst die Aufstellung eines solchen Programms nur möglich,
nachdem in der Schriftsprache ein relativ fester I d e a 1 t y p u s
vorliegt, mit welchem die sonst gänzlich orientierungs- und uferlose
Durchforschung der unendlichen Mannigfaltigkeit des Sprechen s
(mindestens s t i 11 schweigend) operieren kann. - Und nicht
anders funktionierten die Konstruktionen der naturrechtliehen und der
organischen Staatstheorien, oder etwa - um an einen Idealtypus in
unser m Sinn zu erinnern- die Benjamin Constantsche Theorie des
antiken Staats, gewissermaßen als Nothäfen, bis man gelernt hatte,
sich auf dem ungeheueren Meere der empirischen Tatsachen zurechtzufinden.
Die reif werdende "Wissenschaft bedeutet also in
der Tat immer Überwindung des Idealtypus, sofern er als empirisch
g e 1 t end oder als Gattungsbegriff, gedacht wird. Allein
nicht nur ist z. B. die Benutzung der geistvollen Constantschen
Konstruktion zur Demonstration gewisser Seiten und historischer
Eigenarten antiken Staatslebens noch heute ganz legitim, sobald
man sorgsam ihren idealtypischen Charakter festhält. Sondern vor
allem: es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden
ist, und das sind alle h ist o r i s c h e n Disziplinen, alle
die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue
8o Max Weber,
Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit
a 11 er, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer
Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.
Stets wiederholen sich die Versuche, den "eigentlichen",
"wahren" Sinn historischer Begriffe festzustellen, und niemals gelangen
sie zu Ende. Ganz regelmäßig- bleiben infolgedessen die
Synthesen, mit denen die Geschichte fortwährend arbeitet, entweder
nur relativ bestimmte Begriffe, oder, sobald Eindeutigkeit
des Begriffsinhaltes erzwungen werden soll, wird der Begriff zum
abstrakten Idealtypus und enthüllt sich damit als ein theoretischer,
also "einseitiger" Gesichtspunkt, unter dem die Wirklichkeit beleuchtet,
auf den sie bezogen werden kann, der aber zum Schema,
in das sie restlos ein geordnet werden könnte, sich selbstverständlich
als ungeeignet erweist. Denn keines jener Gedanken·
systeme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestandteile
der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unendlichen
Reichtum erschöpfen. Keins ist etwas anderes als der V ersuch,
auf Grund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der
uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ordnung
in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in
den Kreis unseres Interesses jeweils einbezogen haben. Der
Gedankenapparat, welchen die Vergangenheit durch denkende Bearbeitung,
das heißt aber in Wahrheit: denkende Um b i 1 dun g der
unmittelbar gegebenen Wirklichkeit und durch Einordnung in diejenigen
Begriffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Richtung
ihres Interesses entsprachen, entwickelt hat, steht in steter
Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der
Wirklichkeit gewinnen können und wo 11 e n. In diesem Kampf
vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit.
Ihr Ergebnis ist ein steter Umbildungsprozeß jener Begriffe, in denen
wir die Wirklichkeit zu erfassen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften
vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel
zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich
zu ordnen, - der Auflösung der so gewonnenen Gedankenbilder
durch Erweiterung und Verschiebung des wissenschaftlichen Horizontes,
- und der Neubildung von Begriffen auf der so veränderten
Grundlage. Nicht etwa das Fehlerhafte des Versuchs, Begriffssysteme
überhaupt zu bilden, spricht sich darin aus: - eine
jede Wissenschaft, auch die einfach darstellende Geschichte, arbeitet
mit dem Begriffsvorrat ihrer Zeit - sondern der Umstand kommt
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 8 I
darin zum Ausdruck, daß in den Wissenschaften von der menschlichen
Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme
abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt
der Kultur selbst. Das Verhältnis von Begriff und Begriffenen in
den Kulturwissenschaften bringt die Vergänglichkeit jeder solchen
Synthese mit sich. Große begriffliche Konstruktionsversuche haben
auf dem Gebiet unserer Wissenschaft ihren Wert regelmäßig gerade
darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen
Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten. Die weittragendsten
Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften
knüpfen sich s a chIich an die Verschiebung der praktischen Kulturprobleme
und kleiden sich in die Form einer Kritik der Begriffsbildung.
Es wird zu den vornehmsten Aufgaben unserer Zeitschrift
gehören, dem Zweck dieser Kritik und damit der Untersuchung
der Prinzipien der Synthese auf dem Gebiet der
Sozialwissenschaft zu dienen. --
Bei den Konsequenzen, die aus dem Gesagten zu ziehen sind,
gelangen wir nun an einen Punkt, wo unsere Ansichten sich vielleicht
hier und da von denen mancher, auch hervorragender, Vertreter
der historischen Schule, zu deren Kindern wir ja selbst gehören,
scheiden. Diese letzteren nämlich verharren vielfach ausdrücklich
oder stillschweigend in der Meinung, es sei das Endziel, der
Zweck, jeder Wissenschaft, ihren Stoff in einem System von Begriffen
zu ordnen, deren Inhalt durch Beobachtung empirischer
Regelmäßigkeiten, Hypothesenbildung und Verifikation derselben
zu gewinnen und langsam zu vervollkommnen sei, bis irgend wann
eine "vollendete" und des h a I b deduktive Wissenschaft daraus
entstanden sei. Für dieses Ziel sei die historisch-induktive Arbeit
der Gegenwart eine durch die Unvollkommenheit unserer Disziplin
bedingte Vorarbeit: nichts muß naturgemäß vom Standpunkt dieser
Betrachtungsweise aus bedenklicher erscheinen, als die Bildung und
Verwendung scharfer Begriffe, die ja jenes Ziel einer fernen Zukunft
voreilig vorweg zu nehmen trachten müßte. -Prinzipiell unanfechtbar
wäre diese Auffassung auf dem Boden der antik-scholastischen
Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter
der historischen Schule noch tief im Blute steckt: Als Zweck der
Begriffe wird vorausgesetzt, vorstellungsmäßige Ab b i 1 der der "objektiven"
Wirklichkeit zu sein: daher der immer wiederkehrende
Hinweis auf die U n wirk I ich k e i t aller scharfen Begriffe. Wer den
Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnis-
Archiv fiir Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) I. 6
;,,
82 Max Weber,
lehre: daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der
geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein
können, zu Ende denkt, dem wird der Umstand, daß scharfe genetische
Begriffe notwendig Idealtypen sind, nicht gegen die Bildung von
solchen sprechen können. Ihm kehrt sich das Verhältnis von Begriff
und historischer Arbeit um: Jenes Endziel erscheint ihm logisch
unmöglich, die Begriffe nicht Z i e 1, sondern Mitte 1 zum Zweck der
Erkenntnis der unter individuellen Gesichtspunkten bedeutsamen
Zusammenhänge: gerade w e i 1 die Inhalte der historischen Begriffe
notwendig wandelbar sind, müssen sie jeweils notwendig
scharf formuliert werden. Er wird nur das Verlangen stellen, daß
bei ihrer Verwendung stets ihr Charakter als idealer Gedankengebilde
sorgsam festgehalten, Idealtypus und Geschichte nicht verwechselt
werde. Er wird, da wirklich definitive historische Begriffe
bei dem unvermeidlichen Wechsel der leitenden Wertideen als
generelles Endziel nicht in Betracht kommen, glauben, daß eben
dadurch, daß für den ein z e 1 n e n, jeweils leitenden Gesichtspunkt,
scharfe und eindeutige Begriffe gebildet werden, die Möglichkeit .
gegeben sei, die Schranken ihrer Geltung jeweils klar im Bewußtsein
zu behalten.
Man wird nun darauf hinweisen, und wir haben es selbst zugegeben,
daß ein konkreter historischer Zusammenhang im einzelnen
Fall sehr wohl in seinem Ablauf anschaulich gemacht werden
könne, ohne daß er fortwährend mit definierten Begriffen in Beziehung
gesetzt werde. Und man wird demgemäß für den Historiker
unserer Disziplin in Anspruch nehmen, daß er ebenso, wie
man dies von dem politischen Historiker gesagt hat, die "Sprache
des Lebens" reden dürfe. Gewiß I Nur ist dazu zu sagen, daß es
bei diesem V erfahren bis zu einem oft sehr hohen Grade notwendig
Zufall bleibt, ob der Gesichtspunkt, unter welchem der behandelte
Vorgang Bedeutung gewinnt, zu klarem Bewußtsein gelangt.
Wir sind im allgemeinen nicht in der günstigen Lage des
politischen Historikers, bei welchem die Kulturinhalte, auf die er
seine Darstellung bezieht, regelmäßig eindeutig sind - oder zu sein
scheinen. Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart
der Bedeutung künstlerischer Darstellung an: "Ein jeder sieht,
was er im Herzen trägt," - gültige Ur t e i I e setzen überall die
1 o g i s c h e Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die V erwendung
von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft
ästhetisch reizvoll , diese in petto zu behalten , aber es gefährdet
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 83
stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schriftstellers
selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile.
Ganz hervorragend gefährlich aber kann nun die Unterlassung
scharfer Begriffsbildung ftir praktische, wirtschafts- und sozialp
o 1 i t i s c h e Erörterungen werden. Was hier z. B. die Verwendung
des Terminus "Wert" - jenes Schmerzenskindes unserer Disziplin,
welchem eben nur idealtypisch irgend ein eindeutiger Sinn gegeben
werden kann -, oder Worte wie "produktiv", "vom volkswirtschaftlichen
Standpunkt" usw., die überhaupt keiner begriffiich klaren
Analyse standhalten, für Verwirrung gestiftet haben, ist für den
Außenstehenden geradezu unglaublich. Und zwar sind es hier vornehmlich
die der Sprache des Lebens entnommenen K o 11 e k t i vbegriffe
welche Unsegen stiften. Man nehme, um ein für den Laien
möglichst durchsichtiges Schulbeispiel herauszugreifen, den Begriff
"Landwirtschaft", wie er in der Wortverbindung "Interessen der
Landwirtschaft" auftritt. Nehmen wir zunächst die "Interessen der
Landwirtschaft" als die empirisch konstatierbaren mehr oder minder
klaren sub j e k t i v e n Vorstellungen der einzelnen wirtschaftenden
Individuen von ihren Interessen, und sehen wir dabei ganz und gar
von den unzähligen Konflikten der Interessen viehzüchtender, vieh- ·
mästender, kornbauen der, kornverfütternder, schnapsdestillierender etc.
Landwirte hier ab, so kennt zwar nicht jeder Laie, aber doch jeder
Fachmann den gewaltigen Knäuel von durch- und gegeneinander
laufenden Wertbeziehungen, der darunter unklar vorgestellt wird.
Wir wollen hier nur einige wenige aufzählen: Interessen von Landwirten,
welche ihr Gut verkaufen wollen und deshalb lediglich an
einer schnellen Hausse des Bodenpreises interessiert sind; das gerade
entgegengesetzte Interesse von solchen, die sich ankaufen,
arrondieren oder pachten wollen; das Interesse derjenigen, die ein
bestimmtes Gut ihren Nachfahren um sozialer Vorteile willen zu
erhalten wünschen und deshalb an Stabilität des ·Bodenbesitzes
interessiert sind; - das entgegengesetzte Interesse solcher, die in
ihrem und ihrer Kinder Interesse Bewegung des Bodens in der
Richtung zum besten Wirt oder - was nicht ohne weiteres dasselbe
ist- zum kapitalkräftigsten Käufer wünschen;- das rein ökonomische
Interesse der im privatwirtschaftliehen Sinne "tüchtigsten
Wirte" an ökonomischer Bewegungsfreiheit; - das damit im Konflikt
stehende Interesse bestimmter herrschender Schichten an der Erhaltung
der überkommenen sozialen und politisc):len Position des eigenen
"Standes" und damit der eigenen Nachkommen; - das soziale der
6*
J
Max W"eber,
ni eh t herrschenden Schichten der Landwirte am Wegfall jener
oberen, ihre eigene Position drückenden Schichten; - ihr unter
Umständen damit kollidierendes Interesse, in jenen politische
Führer zur Wahrung ihrer Erwerbsinteressen zu besitzen; - die
Liste könnte noch gewaltig vermehrt werden, ohne ein Ende zu
finden, obwohl wir so summarisch und unpräzis wie nur möglich
verfahren sind. Daß sich mit den mehr "egoistischen" Interessen
dieser Art die verschiedensten rein idealen Werte mischen, verbinden,
sie hemmen und ablenken können, übergehen wir, um uns
vor allem zu erinnern, daß, wenn wir von "Interessen der Landwirtschaft"
reden, wir regelmäßig nicht nur an jene materiellen
und idealen Werte denken, auf welche die jeweiligen Landwirte
selbst ihre "Interessen" beziehen, sondern daneben an die zum Teil
ganz heterogenen Wertideen, auf welche wir die Landwirtschaft
,., beziehen können,- beispielsweise: Produktionsinteressen, hergeleitet
aus dem Interesse billiger und dem damit nicht immer zusammenfallenden
Interesse qualitativ guter Ernährung der Bevölkerung,
wobei die Interessen von Stadt und Land in den mannigfachsten
Kollisionen liegen können, und wobei das Interesse der gegenwärtigen
Generation mit den wahrscheinlichen Interessen künftiger Generationen
keineswegs identisch sein muß; - populationistische Interessen
: insbesondere Interesse an einer z a h 1 reichen Landbevölkerung,
hergeleitet, sei es aus Interessen "des Staates", machtpolitischen
oder innerpolitischen, oder aus anderen ideellen Interessen von unter
sich verschiedener Art, z. B. an dem erwarteten Einfluß einer zahlreichen
Landbevölkerung auf die Kultureigenart eines Landes; -
dies populationistische Interesse kann mit den verschiedensten privatwirtschaftlichen
Interessen aller Teile der Landbevölkerung, ja denkbarerweise
mit allen Gegenwartsinteressen der Masse der Landbevölkerung
kollidieren. Oder etwa das Interesse an einer bestimmten
Art der sozialen G 1 i e d e r u n g der Landbevölkerung wegen
der Art der politischen oder Kultureinflüsse, die sich daraus ergeben:
dies Interesse kann je nach seiner Richtung mit allen denkbaren,
auch den dringlichsten Gegenwarts- und Zukunftsinteressen
der einzelnen Landwirte sowohl wie "des Staates" kollidieren.
Und - dies kompliziert die Sache weiter - der ,,Staat", auf dessen
"Interesse" wir solche und zahlreiche andere ähnliche Einzelinteressen
gern beziehen, ist uns dabei ja oft nur Deckadresse für ein in
sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen, auf die er seinerseits
von uns im einzelnen Falle bezogen wird: rein militärische
Die "Objekti vität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 8 5
Sicherung nach außen; Sicherung der Herrscherstellung einer
Dynastie oder bestimmter Klassen nach innen; Interesse an der
Erhaltung und Erweiterung der formal-staatlichen Einheit der
Nation, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Erhaltung bestimmter
objektiver, unter sich wieder sehr verschiedener Kulturwerte,
die wir als staatlich geeintes Volk zu vertreten glauben;
Umgestaltung des sozialen Charakters des Staates im Sinne bestimmter,
wiederum sehr verschiedener Kulturideale - es würde zu
weit führen, auch nur anzudeuten, was alles unter dem Sammelnamen
"staatlicher Interessen" läuft, auf die wir "die Landwirtschaft"
beziehen können. Das hier gewählte Beispiel und noch mehr
unsere summarische Analyse sind plump und einfach. Der Laie
möge sich nun einmal etwa ?en Begriff "Klasseninteresse der Arbeiter"
ähnlich (und gründlicher) analysieren, um zu sehen, welch
widerspruchsvoller Knäuel teils von Interessen und Idealen der
Arbeiter, teils von Idealen, unter denen wir die Arbeiter betrachten,
dahinter steckt. Es ist unmöglich, die Schlagworte des Interessenkampfes
durch rein empiristische Betonung ihrer "Relativität" zu
überwinden: klare, scharfe, begriftliche Feststellung der verschiedenen
m ö g I ich e n Gesichtspunkte ist der einzige Weg, der hier
über die Unklarheit der Phrase hinausführt. Das "Freihandelsargument"
als W e 1 t anschau u n g oder gültige Norm ist eine Lächerlichkeit,
aber schweren Schaden hat es für unsere handelspolitischen
Erörterungen mit sich gebracht - und zwar ganz gleichgültig,
weIche handelspolitischen Ideale der einzelne vertreten will -
daß wir die m solchen idealtypischen Formeln niedergelegte
alte Lebensweisheit der größten Kaufleute der Erde in ihrem
heuristischen Wert unterschätzt haben. Nur durch idealtypische Begriffsformeln
werden die Gesichtspunkte, die im Einzelfalle in Betracht
kommen, in ihrer Eigenart im Wege der K o n front i er u n g
des Empirischen mit dem Idealtypus wirklich deutlich. Der Gebrauch
der undifferenzierten Kollektivbegriffe, mit denen die Sprache des
Alltags arbeitet, ist stets Deckmantel von Unklarheiten des Denkens
oder Wollens, oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen,
immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problemstellung
zu hemmen.
Wir sind am Ende dieser Ausführungen, die lediglich den
Zweck verfolgten, die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaft und
Glauben scheidet, hervortreten und den Sinn sozialökonomischen Erkenntnisstrebens
erkennen zu lassen. Die ob j e k t i v e Gültigkeit alles
'··
86 Max Weber,
Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene
·Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen
Sinn s u b j e k t i v, nämlich die Voraus s e t zu n g unserer
Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen
Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns
zu geben vermag. Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist, -und der
Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter
Kulturen und nichts Naturgegebenes - dem haben wir mit
den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten. Freilich wird er
vergeblich nach einer anderen Wahrheit suchen, die ihm die Wissenschaft
in demjenigen ersetzt, was sie allein leisten kann: Begriffe
und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht
sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen.
Auf dem Gebiet der empirischen sozialen Kulturwissenschaften ist,
so sahen wir, die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnis des für uns
.Wesentlichen in der unendlichen Fülle des Geschehens gebunden an
die unausgesetzte Verwendung von Gesichtspunkten spezifisch besonderten
Charakters, welche alle in letzter Instanz ausgerichtet
sind auf Wertideen, die ihrerseits zwar empirisch als Elemente alles
sinnvollen menschlichen Handeins konstatierbar und erlebbar, n ich t
aber aus dem empirischen Stoff als geltend begründbar sind. Die
,,Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hängt vielmehr
davon ab, daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen,
die ihr allein Erkenntniswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer
Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber nie m a I s zum
Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung gemacht
wird. Und der uns allen in irgend einer Form innewohnende
GI a u b e an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen,
an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern, schließt die
unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter
denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa
aus, sondern ein : das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit, und
sein Gehalt an m ö g 1 ich e n Bedeutungen sind unausschöpfbar, die
konkrete Gestaltung der Wertbeziehuug bleibt daher fließend,
dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen
Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden,
fallt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren
chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die
Zeit dahinwälzt -
Das alles möge nun nicht dahin mißverstanden werden, daß
Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 87
die eigentliche Aufgabe der Sozialwissenschaft eine stete Hetzjagd
nach neuen Gesichtspunkten und begrifflichen Konstruktionen sein
solle. Im Gegen t e i 1: nichts sollte hier schärfer betont werden als
der Satz, daß der Dienst an der Erkenntnis der Ku 1 tu r b e d e u tun g
konkreter h ist o r i scher Zu s a m m m e n hänge ausschließlich
und allein das letzte Ziel ist, dem, neben anderen Mitteln, auch
die begriffsbildende und begriffskritische Arbeit dienen will. - Es
gibt, um mit F. Th. Vischer zu reden, auch auf unserem Gebiete
"Stoffhuber" und "Sinnhuber". Der tatsachengierige Schlund der
ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und
Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er
unempfindlich. Die Go~rmandise der letzteren verdirbt sich den
Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate.
Jene echte Künstlerschaft, wie sie z. B. unter den Historikern Ranke
in so grandiosem Maße besaß, pflegt sich darin gerade zu manifestieren,
daß sie durch Beziehung bekannter Tatsachen auf b ekannte
Gesichtspunkte dennoch ein Neues zu schaffen weiß.
Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung
wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal
auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen
Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes
als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen
Tatsachen stets bewußt an den letzten Wertideen zu kontrollieren,
ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt bewußt
zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt
die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte
wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung.
Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann
rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat
zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf
den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestit:
nen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu
weisen vermögen:
" ... der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen."
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