Das Mitdasein der Anderen...
池田光穂
§ 26. Das Mitdasein der
Anderen und das alltägliche Mitsein
(S.117) Die Antwort auf die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins
soll in der Analyse der Seinsart gewonnen werden, darin das Dasein
zunächst und zumeist sich hält. Die Untersuchung nimmt die Orientierung
am In-der-Welt-sein, durch welche Grundverfassung des Daseins jeder
Modus seines Seins mitbestimmt wird. Wenn wir mit Recht sagten, durch
die vorstehende Explikation der Welt seien auch schon die übrigen
Strukturmomente des In-der-Welt-seins in den Blick gekommen, dann muß
durch sie auch die Beantwortung der Wer-frage in gewisser Weise
vorbereitet sein.
Die »Beschreibung« der nächsten Umwelt, zum Beispiel der Werkwelt des
Handwerkers, ergab, daß mit dem in Arbeit befindlichen Zeug die anderen
»mitbegegnen«, für die das »Werk« bestimmt ist. In der Seinsart dieses
Zuhandenen, das heißt in seiner Bewandtnis liegt eine wesenhafte
Verweisung auf mögliche Träger, denen es auf den »Leib zugeschnitten«
sein soll. Imgleichen begegnet im verwendeten Material der Hersteller
oder »Lieferant« desselben als der, der gut oder schlecht »bedient«.
Das Feld zum Beispiel, an dem wir (S.118) »draußen« entlang gehen,
zeigt sich als dem und dem gehörig, von ihm ordentlich instand
gehalten, das benutzte Buch ist gekauft" bei ... , geschenkt von ...
und dergleichen. Das verankerte Boot am Strand verweist in seinem
An-sich-sein auf einen Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt,
aber auch als »fremdes Boot« zeigt es Andere. Die so im zuhandenen,
umweltlichen Zeugzusammenhang »begegnenden « Anderen werden nicht etwa
zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese
»Dinge« begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden
sind, welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist. In der
bisherigen Analyse wurde der Umkreis des innerweltlich Begegnenden
zunächst eingeengt auf das zuhandene Zeug bzw. die' vorhandene Natur,
mithin auf Seiendes von nichtdaseinsmäßigem Charakter. Diese
Beschränkung war nicht nur notwendig zu Zwecken der Vereinfachung der
Explikation,
sondern vor allem deshalb, weil die Seinsart des innerweltlich
begegnenden Daseins der Anderen sich von Zuhandenheit und Vorhandenheit
unterscheidet. Die Welt des Daseins gibt demnach Seiendes frei, das
nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß
seiner Seins art als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins
»in« der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses
Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das
freigebende Dasein selbst - es ist auch und mit da. Wollte man denn
schon Welt überhaupt mit dem innerweltlich Seienden identifizieren,
dann müßte man sagen, »Welt« ist auch Dasein.
Die Charakteristik des Begegnens der Anderen orientiert sich so aber
doch wieder am je eigenen Dasein. Geht nicht auch sie von einer
Auszeichnung und Isolierung des »Ich« aus, so daß dann von diesem
isolierten Subjekt ein Übergang zu den Anderen gesucht werden muß? Zur
Vermeidung dieses Mißverständnisses ist zu beachten, in welchem Sinne
hier von »den Anderen« die Rede ist. »Die Anderen« besagt nicht soviel
wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich
heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich
zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist. Dieses
Auch-da-sein mit ihnen hat nicht den ontologischen Charakter eines
»Mit«-Vorhandenseins innerhalb einer Welt. Das »Mit«' ist ein
Daseinsmäßiges, das »Auch« meint die Gleichheit des Seins als
umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. »Mit« und »Auch« sind
existenzial und nicht kategorial zu verstehen. Auf dem Grunde dieses
mithaften Inder- Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich
mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein
ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist
Mitdasein.
(S. 119)Die Anderen begegnen nicht im vorgängig unterscheidenden
Erfassen des zunächst vorhandenen eigenen Subjektes von den übrigen
auch vorkommenden Subjekten, nicht in einem primären Hinsehen auf sich
selbst, darin erst das Wogegen eines Unterschieds festgelegt wird. Sie
begegnen aus der Welt her, in der das besorgend-umsichtige Dasein sich
wesenhaft aufhält. Gegenüber den sich leicht eindrängenden theoretisch
erdachten »Erklärungen« des Vorhandenseins Anderer muß an
dem aufgezeigten phänomenalen Tatbestand ihres umweltlichen Begegnens
festgehalten werden. Diese nächste und elementare weltliche Begegnisart
von Dasein geht so weit, daß selbst das eigene Dasein zunächst
»vorfindlich« wird von ihm selbst im Wegsehen von, bzw. überhaupt noch
nicht »Sehen« von »Erlebnissen« und »Aktzentrum«. Dasein findet »sich
selbst« zunächst in dem, was es betreibt, braucht, erwartet, verhütet
- in dem zunächst besorgten umweltlich Zuhandenen.
Und sogar wenn das Dasein sich selbst ausdrücklich anspricht als:
Ich-hier, dann muß die örtliche Personbestimmung aus der existenzialen
Räumlichkeit des Daseins verstanden werden. Bei der Interpretation
dieser (§ 23) deuteten wir schon an, daß dieses Ich-hier nicht einen
ausgezeichneten Punkt des Ichdinges meint, sondern sich versteht als
In-Sein aus dem Dort der zuhandenen Welt, bei dem Dasein als Besorgen
sich aufhält.
W. v. Humboldt [1] hat auf Sprachen hingewiesen, die das »Ich« durch
»hier«, das »Du« durch »da«, das »Er« durch »dort« ausdrücken, die
demnach - grammatisch formuliert - die Personalpronomina durch
Ortsadverbien wiedergeben. Es ist strittig, welches wohl die
ursprüngliche Bedeutung der Ortsausdrücke sei, die adverbiale oder
die pronominale. Der Streit verliert den Boden, wenn beachtet wird, daß
die Ortsadverbien Bezug haben auf das Ich qua Dasein. Das »hier«,
»dort« und »da« sind primär keine reinen Ortsbestimmungen des
innerweltlichen an Raumstellen vorhandenen Seienden, sondern Charaktere
der ursprünglichen Räumlichkeit des Daseins. Die vermutlichen
Ortsadverbien sind Daseinsbestimmungen, sie haben primär existenziale
und nicht kategoriale Bedeutung. Sie sind aber auch keine Pronomina,
ihre Bedeutung liegt vor der Differenz von Ortsadverbien und
Personalpronomina; die eigentlich räumliche Daseinsbedeutung dieser
Ausdrücke dokumentiert aber, daß die theoretisch unverbogene (S.120)
Daseinsauslegung dieses unmittelbar in seinem räumlichen, das ist
entfernend- ausrichtenden »Sein bei« der besorgten Welt sieht. Im
»hier« spricht das in seiner Welt aufgehende Dasein nicht auf sich zu,
sondern von sich weg auf das »dort« eines umsichtig Zuhandenen und
meint doch sich in der existenzialen Räumlichkeit.
[1] Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in
einigen Sprachen (1829). Ges. Schriften (herausg. von der Preuß. Akad.
der Wiss.) Bd. VI, 1. Abt., S. 304-330.
(S.120)Dasein versteht sich zunächst und zumeist aus seiner Welt, und
das Mitdasein der Anderen begegnet vielfach aus dem innerweltlich
Zuhandenen her. Aber auch wenn die Anderen in ihrem Dasein gleichsam
thematisch werden, begegnen sie nicht als vorhandene Persondinge,
sondern wir treffen sie »bei der Arbeit«, das heißt primär in ihrem
In-der-Welt-sein. Selbst wenn wir den Anderen »bloß herumstehen« sehen,
ist er nie als vorhandenes Menschending erfaßt, sondern das
»Herumstehen« ist ein existenzialer Seinsmodus: das unbesorgte,
umsichtslose Verweüen bei Allem und Keinem. Der Andere begegnet in
seinem Mitdasein in der Welt.
Aber der Ausdruck »Dasein« zeigt doch deutlich, daß dieses Seiende
»zunächst« ist in der Unbezogenheit auf Andere, daß es nachträglich
zwar auch noch »mit« anderen sein kann. Es darf jedoch nicht übersehen
werden, daß wir den Terminus Mitdasein zur Bezeichnung des Seins
gebrauchen, daraufhin die seienden Anderen innerweltlich freigegeben
sind. Dieses Mitdasein der Anderen ist nur innerweltlich für ein
Dasein und so auch für die Mitdaseienden erschlossen, weil das Dasein
wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist. Die phänomenologische Aussage:
Dasein ist wesenhaft Mitsein hat einen existenzial-ontologischen Sinn.
Sie will nicht ontisch feststellen, daß ich faktisch nicht allein
vorhanden bin, vielmehr noch andere meiner Art vorkommen. Wäre mit dem
Satz, daß das In-der-Welt-sein des Daseins wesenhaft durch das Mitsein
konstituiert ist, so etwas gemeint, dann wäre das Mitsein nicht eine
existenziale Bestimmtheit, die dem Dasein von ihm selbst her aus seiner
Seinsart zukäme, sondern eine auf Grund des Vorkommens Anderer sich
jeweils einstellende Beschaffenheit. Das Mitsein bestimmt existenzial
das Dasein auch dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden und
wahrgenommen ist. Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der
Welt. Fehlen kann der Andere nur in einem und für ein Mitsein. Das
Alleinsein ist ein defizienter Modus des Mitseins, seine Möglichkeit
ist der Beweis für dieses. Das faktische Alleinsein wird andererseits
nicht dadurch behoben, daß ein zweites Exemplar Mensch »neben« mir
vorkommt oder vielleicht zehn solcher. Auch wenn diese und noch mehr
vorhanden sind, kann das Dasein allein sein. Das Mitsein und die
Faktizität des Miteinanderseins gründet (S.121) daher nicht in einem
Zusammenvorkommen von mehreren »Subjekten «. Das Alleinsein »unter«
Vielen besagt jedoch bezüglich des Seins
der Vielen auch wiederum nicht, daß sie dabei lediglich vorhanden sind.
Auch im Sein »unter ihnen« sind sie mit da; ihr Mitdasein begegnet im
Modus der Gleichgültigkeit und Fremdheit. Das Fehlen und »Fortsein«
sind Modi des Mitdaseins und nur möglich, weil Dasein als Mitsein das
Dasein Anderer in seiner Welt begegnen läßt. Mitsein ist eine
Bestimmtheit des je eigenen Daseins; Mitdasein charakterisiert das
Dasein Anderer, sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt
freigegeben ist. Das eigene Dasein ist nur, sofern es die
Wesensstruktur des Mitseins hat, als für Andere begegnend Mitdasein.
(S.121) Wenn das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial
konstitutiv bleibt, dann muß es ebenso wie der umsichtige Umgang mit
dem innerweltlich Zuhandenen, das wir vorgreifend. als Besorgen
kennzeichneten, aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden, als
welche das Sein des Daseins überhaupt bestimmt wird (vgl. Kap. 6
dieses Abschn.). Der Seins charakter des Besorgens kann dem Mitsein
nicht eignen, obzwar diese Seinsart ein Sein zu innerweltlich
begegnendem Seienden ist wie das Besorgen. Das Seiende, zu dem sich das
Dasein als Mitsein verhält, hat aber nicht die Seinsart des zuhandenen
Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses Seiende wird nicht besorgt, sondern
steht in der Fürsorge.
Auch das »Besorgen« von Nahrung und Kleidung, die Pflege des kranken
Leibes ist Fürsorge. Diesen Ausdruck verstehen wir aber
entsprechendder Verwendung von Besorgen als Terminus für ein
Existenzial. Die » Fürsorge« als faktische soziale Einrichtung zum
Beispiel gründet in der Seinsverfassung des Daseins als Mitsein. Ihre
faktische Dringlichkeit ist darin motiviert, daß das Dasein sich
zunächst und zumeist in den defizienten Modi der Fürsorge hält. Das
Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das
Einander-nichtsangehen sind mögliche Weisen der Fürsorge. Und gerade
die zuletzt genannten Modi der Defizienz und Indifferenz
charakterisieren das alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein.
Diese Seinsmodi
zeigen wieder den Charakter der Unauffälligkeit und
Selbstverständlichkeit, der dem alltäglichen innerweltlichen Mitdasein
Anderer ebenso eignet wie der Zuhandenheit des täglich besorgten Zeugs.
Diese indifferenten Modi des Miteinanderseins verleiten die
ontologische Interpretation leicht dazu, dieses Sein zunächst als pures
Vorhandensein mehrerer Subjekte auszulegen. Es scheinen nur
geringfügige Spielarten derselben Seins art vorzuliegen und doch
besteht ontologisch zwischen dem »gleichgültigen« Zusammenvorkommen
beliebiger Dinge und dem (S.122) Einander-nichts-angehen miteinander
Seiender ein wesenhafter Unterschied.
(S.122) Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei
extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die »Sorge« gleichsam
abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn
einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für
den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt
zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu
übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge
kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese
Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten
verborgen bleiben. Diese einspringende, die »Sorge« abnehmende
Fürsorge bestimmt das Miteinandersein in weitem Umfang, und sie
betrifft zumeist das Besorgen des Zuhandenen.
Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den
Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem
existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die »Sorge«
abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese
Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge - das heißt die
Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt,
verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für
sie frei zu werden.
Die Fürsorge erweist sich als eine Seinsverfassung des Daseins, die
nach ihren verschiedenen Möglichkeiten mit dessen Sein zur besorgten
Welt ebenso wie mit dem eigentlichen Sein zu ihm selbst verklammert
ist. Das Miteinandersein gründet zunächst und vielfach ausschließlich
in dem, was in solchem Sein gemeinsam besorgt wird. Ein
Miteinandersein, das daraus entspringt, daß man dasselbe betreibt, hält
sich meist nicht nur in äußeren Grenzen, sondern kommt in den Modus von
Abstand und Reserve. Das Miteinandersein derer, die bei derselben Sache
angestellt sind, nährt sich oft nur von Mißtrauen. Umgekehrt ist das
gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache aus dem je eigens
ergriffenen Dasein bestimmt. Diese eigentliche Verbundenheit ermöglicht
erst die rechte Sachlichkeit, die den Anderen in seiner Freiheit für
ihn selbst freigibt.
Zwischen den beiden Extremen der positiven Fürsorge - der
einspringend- beherrschenden und der vorspringend-befreienden - hält
sich das alltägliche Miteinandersein und zeigt mannigfache Mischformen,
deren Beschreibung und Klassifikation außerhalb der Grenzen dieser
Untersuchung liegen.
(S.123) Wie dem Besorgen als Weise des Entdeckens des Zuhandenen die
Umsicht zugehört, so ist die Fürsorge geleitet durch die Rücksicht
und Nachsicht. Beide können mit der Fürsorge die entsprechenden
defizienten und indifferenten Modi durchlaufen bis zur
Rücksichtslosigkeit und dem Nachsehen, das die Gleichgültigkeit
leitet.
Die Welt gibt nicht nur das Zuhandene als innerweltlich begegnendes
Seiendes frei, sondern auch Dasein, die Anderen in ihrem
Mitdasein. Dieses umweltlich freigegebene Seiende ist aber seinem
eigensten Seins-sinn entsprechend In-Sein in derselben Welt, in der es,
für andere begegnend, mit da ist. Die Weltlichkeit wurde interpretiert
(§ 18) als das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit. Im vorgängig
verstehenden Vertrautsein mit dieser läßt das Dasein Zuhandenes als in
seiner Bewandtnis Entdecktes begegnen. Der Verweisungszusammenhang der
Bedeutsamkeit ist festgemacht im Sein des Daseins zu seinem eigensten
Sein, damit es wesenhaft keine Bewandtnis haben kann, das vielmehr das
Sein ist, worumwillen das Dasein selbst ist, wie es ist.
Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein des
Daseins, um das es ihm in seinem Sein selbst geht, das Mitsein mit
Anderen. Als Mitsein »ist« daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.
Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. Auch wenn das
jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer
unbedürftig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der
Weise des Mitseins. Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer
sind diese in ihrem Dasein schon erschlossen. Diese mit dem Mitsein
vorgängig konstituierte Erschlossenheit der Anderen macht demnach auch
die Bedeutsamkeit, d. h. die Weltlichkeit mit aus, als welche sie im
existenzialen Worum-willen festgemacht ist. Daher läßt die so
konstituierte Weltlichkeit der Welt, in der das Dasein wesenhaft je
schon ist, das umweltlich Zuhandene so begegnen, daß in eins mit ihm
als umsichtig Besorgtem das Mitdasein Anderer begegnet. In der Struktur
der Weltlichkeit der Welt liegt es, daß die Anderen nicht zunächst als
freischwebende Subjekte vorhanden sind neben anderen Dingen, sondern in
ihrem umweltlichen besorgenden Sein in der Welt aus dem in dieser
Zuhandenen her sich zeigen.
Die zum Mitsein gehörige Erschlossenheit des Mitdaseins Anderer .
besagt: im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein
Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie
Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis,
sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und
Kenntnis (S.124) allererst möglich macht. pas Sichkennen gründet in
dem ursprünglich verstehenden Mitsein. Es bewegt sich zunächst gemäß
der nächsten Seinsart des mitseienden In-der-Welt-seins im verstehenden
Kennen dessen, was das Dasein mit den Anderen umweltlich umsichtig
vorfindet und besorgt. Aus dem Besorgten her und mit dem Verstehen
seiner ist das fürsorgende Besorgen verstanden. Der Andere ist so
zunächst in der besorgenden Fürsorge erschlossen.
Weil nun aber zunächst und zumeist die Fürsorge sich in den
defizienten oder zum mindesten indifferenten Modi aufhält - in der
Gleichgültigkeit des Aneinandervorbeigehens -, bedarf das nächste und
wesenhafte Sichkennen eines Sichkennenlernens. Und wenn gar das
Sichkennen sich verliert in die Weisen der Zurückhaltung, des
Sichversteckens und Verstellens, bedarf das Miteinandersein besonderer
Wege, um den Anderen nahe, bzw. »hinter sie« zu kommen.
Aber so wie das Sichoffenbaren, bzw. Verschließen in der jeweiligen
Seinsart des Miteinanderseins gründet, ja nichts aJ?deres als diese
selbst ist, erwächst auch das ausdrückliche fürsorgende Erschließen
des Anderen je nur aus dem primären Mitsein mit ihm. Solches obzwar
thematisches, aber nicht theoretisch-psychologisches Erschließen des
Anderen wird nun leicht für die theoretische Problematik des
Verstehens »fremden Seelenlebens« zu dem Phänomen, das zunächst in den
Blick kommt. Was so phänomenal »zunächst« eme Weise des verstehenden
Miteinanderseins darstellt, wird aber zugleich als das genommen, was
»anfänglich« und ursprünglich überhaupt das Sein zu Anderen
ermöglicht und konstituiert. Dieses nicht eben glücklich als
»Einfühlung« bezeichnete Phänomen soll dann ontologisch gleichsam erst
die Brücke schlagen von dem zunächst allein gegebenen eigenen Subjekt
zu dem zunächst überhaupt verschlossenen anderen Subjekt.
Das Sein zu Anderen ist zwar ontologisch verschieden vom Sein zu
vorhandenen Dingen. Das »andere« Seiende hat selbst die Seinsart des
Daseins. Im Sein mit und zu Anderen liegt demnach ein Seinsverhältnis
von Dasein zu Dasein. Dieses Verhältnis, möchte man sagen, ist aber
doch schon konstitutiv für das je eigene Dasein, das von ihm selbst
ein Seinsverständnis hat und so sich zu Dasein verhält. Das
Seinsverhältnis zu Anderen wird dann zur Projektion des eigenen Seins
zu sich selbst »in ein Anderes«. Der Andere ist eine Dublette des
Selbst.
Aber es ist leicht zu sehen, daß diese scheinbar selbstverständliche
Überlegung auf schwachem· Boden ruht. Die in Anspruch genommene
Voraussetzung dieser Argumentation, daß das Sein des (S.125) Daseins zu
ihm selbst das Sein zu einem Anderen sei, trifft nicht zu. Solange
diese Voraussetzung sich nicht evident in ihrer Rechtmäßigkeit erwiesen
hat, so lange bleibt es. rätselhaft, wie sie das Verhältnis" des
Daseins zu ihm selbst dem Anderen als Anderem erschließen soll.
Das Sein zu Anderen ist nicht nUr ein eigenständiger, irreduktibler
Seins bezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend.
Zwar ist nicht zu bestreiten, daß das auf dem Grunde des Mitseins
lebendige Sich-gegenseitig-kennen ·oft abhängig ist davon, wie weit das
eigene Dasein jeweilig sich selbst verstanden hat; das besagt aber nur,
wie weit es das wesenhafte Mitsein mit Anderen sich durchsichtig
gemacht und nicht verstellt hat, was nur möglich ist, wenn Dasein als
In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist. ,.Einfühlung « konstituiert
nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und
durch die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer
Unumgänglichkeit motiviert.
Daß die »Einfühlung« kein ursprüngliches existenziales Phänomen ist,
so wenig wie Erkennen überhaupt, besagt aber nicht, es bestehe
bezüglich ihrer kein Problem. Ihre spezielle Hermeneutik wird zu
zeigen haben, wie die verschiedenen Seinsmöglichkeiten des Daseins
selbst das Miteinandersein und dessen Sichkennen mißleiten und
verbauen, so daß ein echtes »Verstehen« niedergehalten- wird und das
Dasein zu Surrogaten die Zuflucht nimmt; welche positive existenziale
Bedingung rechtes Fremdverstehen für. seine Möglichkeit voraussetzt.
Die Analyse hat gezeigt: Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens
des In-der-Welt-seins. Das Mitdasein erweist sich als eigene Seinsart
von innerweltlich begegnendem Seienden. Sofern Dasein überhaupt ist,
hat es die Seinsart des Miteinanderseins. Dieses kann nicht als
summatives Resultat des Vorkommens mehrerer »Subjekte« begriffen
werden. Das Vorfinden einer Anzahl von »Subjekten« wird selbst nur
dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitdasein begegnenden
Anderen lediglich noch als »Nummern« behandelt werden. Solche Anzahl
wird nur entdeckt durch ein bestimmtes Mit- und Zueinandersein. Dieses
»rücksichtslose« Mitsein »rechnet« mit den Anderen, ohne daß es
ernsthaft »auf sie zählt« oder auch nur mit ihnen »zu tun haben« möchte.
Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer· begegnet zunächst
und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. Das Dasein ist im
Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den
Anderen, nicht es selbst. Wer ist es denn, der das Sein als
alltägliches Miteinandersein übernommen hat?
Heidegger, Martin, "Sein und Zeit," Tübingen : M. Niemeyer., 2006.
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