かならずよんで ね!

Grundlinien einer Rassenhygiene

Ploetz, Alfred, Berlin: Fischer, 1895.

池田光穂

アルフレート・プレッツ『人種衛生学の基礎』

書誌情報

Grundlinien einer Rassenhygiene Ploetz Alfred Geyken Alexander Haaf Susanne Jurish Bryan Boenig Matthias Thomas Christian Wiegand Frank Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe Vollständige digitalisierte Ausgabe. 265 58227 10553 428597 dta@bbaw.de Deutsches Textarchiv Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW) Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin Germany Berlin 2021-02-18T14:38:14Z Distributed under the Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 License. https://www.deutschestextarchiv.de/ploetz_rassenhygiene_1895 https://www.deutschestextarchiv.de/book/download_xml/ploetz_rassenhygiene_1895 https://www.deutschestextarchiv.de/book/download_html/ploetz_rassenhygiene_1895 https://www.deutschestextarchiv.de/book/download_text/ploetz_rassenhygiene_1895 ploetz_rassenhygiene_1895 16367 urn:nbn:de:kobv:b4-200905194617 Ploetz, Alfred: Grundlinien einer Rassenhygiene. Berlin: Fischer, 1895. Grundlinien einer Rassenhygiene Ploetz Alfred XI, VII, 240 S. Fischer Berlin 1895 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, La 4618-1 http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=410141100 Antiqua Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. font-family:sans-serif font-weight:bold color:blue display:block; text-align:center display:block; margin-left:2em; text-indent:0 display:block; margin-left:4em; text-indent:0 display:block; margin-left:6em; text-indent:0 border:1px dotted silver border:1px dotted silver letter-spacing:0.125em font-style:italic font-size:150% font-variant:small-caps font-size:larger color:red display:block; text-align:right text-decoration:line-through font-size:smaller vertical-align:sub; font-size:.7em vertical-align:super; font-size:.7em text-decoration:underline border-bottom:double 3px #000 (Früh-)

Neuhochdeutsch German Fachtext Gesellschaftswissenschaften Wissenschaft Anthropologie core ready china Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältniss zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus von Dr. Alfred Ploetz. BERLIN. S. Fischer. 1895. Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Ueber- Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: „Alles für mich!“ Friedrich Nietzsche. Grundlinien einer Rassen-Hygiene von Dr. Alfred Ploetz. I. THEIL: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. BERLIN. S. Fischer. 1895. Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältniss zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus von Dr. Alfred Ploetz. BERLIN. S. Fischer. 1895. Alle Rechte vorbehalten. Vorwort. Die vorliegende Arbeit ist aus den Bedürfnissen des Arztes entsprungen, aus zwiespältigen Gedanken und Empfindungen, wie sie sich wohl auch jedem anderen Aeskulapjünger und hilfsbereiten Menschen aufgedrängt haben, der einerseits die Schwächen und Krankheiten nicht nur in ihrer directen nosologischen Verursachung, sondern auch in ihren Abhängigkeiten von angeborenen Anlagen und von socialen und wirthschaftlichen Zuständen verstehen gelernt hat, und der andrerseits mit Sorge auf die Gefahren blickt, mit denen der wachsende Schutz der Schwachen die Tüchtigkeit unserer Rasse bedroht. Das Buch wendet sich nicht nur an den Wissenschaftler, sondern hauptsächlich an den socialen Practiker. Die reinen Wissenschaftler vergessen zu oft, dass die Mensch- heit nicht nur erkennen, sondern die Erkenntniss schliess- lich als Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche, zum Handeln nach ihren Motiven, benutzen will. Sie stehen deshalb oft kaltherzig und verständnissarm den allge- Vorwort. meinsten Culturbestrebungen gegenüber, die zu begreifen Kopf und Herz erfordert. Leider hat die Unmöglichkeit, bei unserem so weit- tragenden Gegenstand die Arbeit zu theilen, den Nachtheil aller mangelhaften Arbeitstheilung im Gefolge: die Un- gleichmässigkeit im Aufbau des Gebotenen. Dazu kommt noch als erschwerendes Moment die grosse Reihe von Hülfswissenschaften, die herangezogen werden müssen. Es konnte daher auch nur das lebhafte Verlangen nach einem einheitlichen Princip des ärztlichen Handelns mich, als practischen Arzt, dazu bewegen, ein so um- fassendes Problem wie die Hebung unserer Rasse in nähere Betrachtung zu ziehen. Die Geringfügigkeit unserer bisherigen Kenntnisse darüber hat bedingt, dass ich noch viele Fragen stellen musste, wo ich gern Antworten ge- geben hätte, hat mich aber auch bei der Wichtigkeit des Gegenstandes nur um so mehr veranlasst, Probleme systematisch aufzustellen, um wenigstens einen Theil des mächtigen Stroms der modernen Forschung auf dieses Gebiet hinzulenken. Ich bin mir also des Charakters meiner Arbeit als eines Versuchs bewusst. Was ich damit bezwecke und fordere, ist nicht nur die Interessirung weiterer Kreise für die gebrachten Probleme und Thatsachen, sondern auch eine dauernde Zusammenfassung aller in Betracht kommenden Wissenszweige zu einer ungetheilten, selbst- ständigen Specialdisciplin der Rassenhygiene, die ihre eigenen Wege wandelt. Vorwort. Die so nahe Berührung unseres Gegenstandes mit der Socialpolitik hat es nothwendig gemacht, in dem be- kannten Streit zwischen Socialismus und Darwinismus Stellung zu nehmen. Ich hoffe, durch meine Ausführungen dazu beizutragen, dass der Streit von seinem bisherigen Terrain abgedrängt und auf ein neues hingeleitet wird, wo er erspriesslicher werden kann, nämlich auf das Ge- biet der Erforschung und Beherrschung der Variation. Die Arbeit wird in zwei äusserlich von einander unabhängigen Theilen, einem theoretischen und einem mehr practischen, herausgegeben. Der erste Theil liegt hier vor, der zweite soll im Herbst erscheinen. Berlin W., Charlottenstr. 59, im Februar 1895. Inhalt. Seite Einleitung 1 Rassenhygiene und Individualhygiene 1 Ihre Verschiedenheit 3 Nothwendigkeit einer besonderen Hygiene der Rassen 4 Lykurgus 5 Darwinianer und Socialisten 8 Vervollkommnung 12 Hygiene des Individuums der Rassenhygiene unterzuordnen 13 1. Capitel. Allgemeine Factoren der Erhaltung und Entwickelung 15 Der Gesammtprocess 15 Darwin — Wallace 16 Vererbung 20 Keimplasma. Vererbung erworbener Eigenschaften 22 Praeformation und Epigenese 25 Variation 31 Ursachen 32 Keimauslese 34 Befruchtung 36 Spätere Wirkungen 36 Grenzen und Häufigkeit der Variirens 38 Vererbung von Variationen 39 Kampf um’s Dasein und natürliche Auslese 40 Vermehrungstendenz der Wesen 41 Regulationen im Organismus. Constitutionskraft 43 Extral- und Socialwirkungen 43 Nonselectorische und selectorische Factoren 45 Seite Starke und schwache Varianten 47 Kampf der Societäten 49 Bedeutung der drei Entwickelungsfactoren 50 2. Capitel. Die Erhaltung und Vermehrung der Zahl 54 Geburten- und Sterbeziffer 54 Höchste und niedrigste 55 Geburtenüberschuss 57 Schädlichkeiten und Constitutionskraft 60 Contraselection: Kriege, präventiver Geschlechtsverkehr, künstliche Fehlgeburt 61 Sinkende Rassen. Franzosen 65 Geburtenprävention als Ursache 68 Möglichkeiten der Abhülfe 72 Yankees 75 Amerikanische Juden 77 Aufsteigende Rassen. Westarier, Europäische Juden 78 Germanen. Engländer, Deutsche und Skandinavier 81 Europäische Sprachen 85 Deutsche im Reich, in der Schweiz, in Oesterreich-Ungarn und anderen Nachbarländern 86 3. Capitel. Die Vervollkommnung des Typus 91 Wesen der Vervollkommnung die Verstärkung und höhere Differenzirung der Regulationskraft. Gorilla, Neger, Weisser 91 Gehirnentwickelung 95 Vollkommnere und stärkere Convariante 98 Rückschritt der Organisation. Panmixie 98 Panmixie beim Menschen? 104 Schönheit, Altruismus, hohes Alter 107 Rassenhygienische Forderungen für Vervollkommnung des Typus und Vermehrung der Zahl 114 Hat sich der menschliche Typ in den letzten Jahrtausenden vervollkommnet? 117 Schreitet er gegenwärtig noch fort? 127 Die besten Rassen 130 Westarier 130 Juden 137 4. Capitel. Der ideale und der heutige Rassenprocess 143 Der ideale Rassenprocess 143 Erzeugung guter Devarianten, Natürliche und künstliche Zuchtwahl 144 Seite Der heutige Rassenprocess 148 Variation. Erzeugung schlechter Devarianten durch mangel- hafte sexuelle Zuchtwahl, Jugendlichkeit der Eltern, giftige Genussmittel 148 Auslese 150 Künstliche Ernährung von Säuglingen. Ungleiche Erziehung 150 Wirthschaftliche Ausjätung. Armuth ist selectorisch und nonselectorisch 151 Wirkungen der Armuth und des Wohlstandes auf Gesundheits- zustand, Ehe- und Geburtenziffer 156 Ersetzt sich die Bevölkerung mehr aus den Armen oder den Wohlhabenden? 181 Contraselection, grosse Städte 183 Nonselectorische Schädlichkeiten, Unfälle, Trinksitten 188 Kurze Gegenüberstellung der beiden Processe 193 5. Capitel. Der Conflict zwischen Rassen- und Individual-Hygiene und seine Lösung 196 Die nonselectorischen socialpolitischen Systeme 196 Ihre elementaren Forderungen: der angepassten Summen der Bevölkerung und der Productionsmittel, des gleichen Nutzrechtes der Productionsmittel und der Versicherung gegen Arbeitsunfähigkeit 199 Die Beziehungen dieser drei Postulate zur Erhaltung und Fort- pflanzung der Individuen. Socialismus und Malthusianismus 202 Conflict mit den Forderungen der Rassenhygiene 207 Angriffe bedeutender Darwinianer auf die nonselectorischen Systeme 208 Deren Vertheidiger und ihre Versuche zur Lösung des Conflicts 212 Wallace’s Lösung durch Verstärkung der sexuellen Auslese 217 Lösung durch Beherrschung der Variabilität 224 Beeinflussung und künstliche Auslese der Keime 230 Einwürfe 230 Die modifizirten Rassenforderungen 236 Nothwendigkeit, schon heute Kenntnisse zu verbreiten, die die Erzeugung tüchtiger Nachkommen betreffen 236 Der Socialismus vom rassenhygienischen Standpunkt 237 Berichtigung. Auf S. 93, Zeile 16 von oben, füge ein: Die Einwanderung fremder Weisser war nur gering. Einleitung. Rassenhygiene und Individualhygiene. Ihre Verschiedenheit. Noth- wendigkeit einer besonderen Hygiene der Rassen. — Lykurgus. Darwinianer und Socialisten. — Vervollkommnung. Hygiene des Individuums der Rassenhygiene unterzuordnen. Völker tauchen auf und versinken wieder, einige in’s Nichts, wie die Gothen, andere in unbedeutende Mittel- mässigkeit, wie die Griechen. Es waren nicht immer die schlechtesten, die so herabsanken. Gothen wie Griechen hatten viele hervorragende Eigenschaften, sie waren Völker von heldenhafter Gesinnung, und doch schwanden oder welkten sie hin unter Einwirkungen, denen sie nicht ganz angepasst waren. Auch in der Gegenwart, in unserer nächsten Nachbarschaft sehen wir ein Volk räthselhaft kranken. Die Franzosen sind als Rasse zum Stillstand gekommen, ja schreiten zurück trotz der materiell günstigen Bedingungen, unter denen sie leben, und nur der Nach- wuchs eingewanderter Fremder ersetzt ihren Namen, aber nicht ihre Rasse. Die Völker und Rassen sind eben organische Lebe- wesen, bestimmt wie Thiere und Pflanzen durch ihre Einzel- Constituenten, hier Zellen, dort Menschen, für die ihre Umgebung ein Complex günstiger oder ungünstiger Be- dingungen ist. Und grade wie wir für den Menschen durch Zusammen- fassen der günstigen Bedingungen eine Hygiene geschaffen haben, die, im Ende basirend auf dem Leben seiner Zellen, ihn lehrt, wie er möglichst lange die Gesundheit erhält 1 und den Tod hinausschiebt, so ist es an der Zeit, basirend auf den Lebensfunctionen der Menschen, die Grundlegung einer Hygiene der Rassen und der ganzen menschlichen Gattung zu versuchen, die lehrt, wie eine organische Ge- sammtheit von Menschen sich möglichst lebenskräftig erhält und ihr Vergehen möglichst lange hinausschiebt. Das Wort Rasse wird beim Menschen in verschiedenem Sinne gebraucht. So spricht man von der menschlichen Rasse schlechthin und meint damit die Gesammtheit des Menschengeschlechts. Ferner braucht man das Wort für die nächsten Unterabtheilungen, in die man die Species Homo sapiens getrennt hat; man spricht z. B. von der kaukasischen und der mongolischen Rasse. Aber auch für die noch weiter gehenden Zerspaltungen braucht man das- selbe Wort, so für die Germanen, Romanen u. s. w. Am wenigsten am Platze ist es zur Bezeichnung heutiger Rassen- gemische, die nur durch gemeinsame Sprache oder poli- tische Verwaltung als Einheiten erscheinen, so bei der französischen, britischen Rasse etc. Abgesehen von einer kurzen Besprechung der Rassen in naturwissenschaftlichem Sinne mit Bezug auf ihren Cultur- werth werde ich das Wort einfach als Bezeichnung einer durch Generationen lebenden Gesammtheit von Menschen in Hinblick auf ihre körperlichen und geistigen Eigen- schaften brauchen. Dies kann um so eher geschehen, als sämmtliche Ausführungen bis auf die im vorigen Satz er- wähnte, grade so gut Geltung haben für kleine wie für grosse Gemeinschaften von Menschen, für Rassen im zoo- logischen Sinne grade so gut wie für Mischrassen und moderne Staaten. Das Fehlen von umfangreichen Angaben über die Vitalstatistik eigentlicher Rassen im engeren Sinne zwingt zum Erläutern vieler Punkte an dem Material po- litisch abgegrenzter Complexe Auf den ersten Blick könnte man denken, dass die Bedingungen des Gedeihens einer Rasse einfach dadurch gegeben wären, dass man für das Gedeihen jedes einzelnen Mitgliedes derselben sorgt, dass also Rassenhygiene und die gewöhnliche Hygiene des Individuums eines und das- selbe wären.Zur Nomenclatur: Die Hygiene des Individuums zerfällt in die private und in die öffentliche oder soziale Hygiene. Die private Hygiene hat es mit den Gesundheitsbedingungen zu thun, die jeder selbst un- mittelbar beherrscht oder die wenigstens innerhalb der Familie zur Beach- tung kommen. Die öffentliche oder soziale Hygiene umfasst alle die Bedingungen für den Gesundheitszustand der Einzelnen, die von der Ge- sellschaft oder dem Staat ausgehen. Soziale Hygiene und Rassenhygiene sind also nicht zu verwechseln. Soziale Hygiene hat als directes Ziel immer noch das Wohl des Einzelnen, Rassenhygiene dagegen das Wohl einer zeitlich dauernden Gesammtheit als solcher. Das gilt aber keineswegs so ohne Weiteres. Es giebt hervorragende Forscher, die sogar einen tiefen Gegensatz zwischen der modernen Hygiene und dem Rassenwohl er- kennen wollen. Wallace, der Mitbegründer der Selections- theorie, constatirt dies in folgenden Worten: „Bisher hat man allgemein angenommen, dass wohlthätige Einflüsse, wie die der Bildung, Hygiene, sozialen Verfeinerung, eine po- sitive Wirkung hätten und an und für sich zu einer stetigen Hebung aller civilisirten Rassen führen müssten. Diese Anschauung ruhte auf dem Glauben, dass jede während der Lebenszeit erfolgte Hebung der Tüchtigkeit des Ein- zelnen sich auf seine Nachkommenschaft übertrage, und dass es so möglich sein werde, auch ohne irgend welche Auslese der besseren oder Ausscheidung der niedrigeren Typen einen stetigen Fortschritt in physischen, sittlichen und geistigen Eigenschaften zu schaffen. Aber in den letzten Jahren ist diese Meinung durch gewichtige Zweifel erschüttert worden, namentlich durch die bedeutsamen Forschungen Galton’s und Weismann’s über die Grundursachen der Vererbung.“Wallace, Menschliche Auslese. Zukunft von Harden No. 93. S. 10. Schallmeyer drückt sich noch directer so aus: „dass die denkbar grössten Fortschritte, welche die 1* therapeutische Medizin der Zukunft etwa machen könnte, wohl den jeweiligen kranken Individuen, nicht aber der mensch- lichen Gattung zum Heile gereichen werden.“W. Schallmeyer. Ueber die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit. Berlin-Neuwied 1891. S. 7. Citirt bei Ammon. Aehnlich äussert sich der Anthropologe Ammon in seinem inter- essanten Werk über die menschliche Auslese: „Die Beseitigung — der in sittlicher Beziehung am urgünstigsten ausgestat- teten Individuen durch die Rechtspflege, wirthschaftliches Elend etc. — ist eine Nothwendigkeit, wenn nicht die Durchschnittshöhe der Menschheit sinken soll. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Gesundheitspflege, wo die künstliche Erhaltung schwächlicher Individuen den Durch- schnitt der Gesundheit herabdrückt.“Otto Ammon. Die natürliche Auslese beim Menschen. Jena. Gustav Fischer 1893. S. 281. Thatsächlich invol- virt das Verlangen der meisten Darwinianer, der Kampf um’s Dasein innerhalb der menschlichen Gesellschaft müsse er- halten bleiben, weil sie sonst entarten würde, eine Ver- urtheilung der Hygiene, die Alle, die Starken und die Schwachen, schützen möchte. Ich müsste zuviel citiren, um den zahlreichen Aussprüchen der Darwinianer über diesen Punkt gerecht zu werden. Nur die Worte Darwin’s selbst sollen eine Stelle finden: „Wie jedes andere Thier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz als Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigem Kampf ausgesetzt bleiben.“ („It is to be feared, that he must remain subject to a severe struggle“).Darwin, Charles. Die Abstammung des Menschen. Uebersetzt von Carus. Stuttgart 1881. II. Bd. S. 379. Jedenfalls erhellt aus den Aeusserungen dieser Männer, zu denen auch der mild gesinnte Darwin gehört, dass die Anschauung, das Wohl unserer Rasse werde am besten erreicht durch die Sanirung der Lebensbedingungen aller Einzel-Individuen, durchaus nicht eine allgemein ange- nommene ist. Daraus folgt die Nothwendigkeit, dem Begriff der Hygiene im gewöhnlichen Sinne, der Individual-Hygiene, einen anderen Begriff gegenüber zu stellen, den der Hygiene einer Gesammtheit von Menschen. So könnte man von der Hygiene einer Nation, einer Rasse im engeren Sinne oder der gesammten menschlichen Rasse reden. Im weiteren Verlaufe des Buches werde ich stets, wenn nicht ausdrücklich anders bemerkt, das Wort Rassenhygiene im: allgemeinen Sinne anwenden, entsprechend meinem Gebrauch des Wortes Rasse. Dies schien mir um so eher gestattet, als, wie ich glaube, die Hygiene der gesammten mensch- lichen Gattung zusammenfällt mit derjenigen der arischen Rasse, die abgesehen von einigen kleineren, wie der jüdischen, die höchstwahrscheinlich ohnehin ihrer Mehrheit nach arisch ist, die Culturrasse par exellence darstellt, die zu fördern gleichbedeutend mit der Förderung der allgemeinen Mensch- heit ist. Ich weiss nicht, ob das Wort Rassenhygiene schon ausgesprochen wurde oder nicht; sicher ist, dass der da- rin enthaltene Begriff längst in vielen Köpfen lebte, und dass er in den Geisteskämpfen unserer Tage eine grosse Rolle spielt. Als im alten Sparta das Gesetz anordnete, dass die neugeborenen Kinder in kaltes Bergwasser getaucht und die schwächlichsten unter ihnen auf den unwirthlichen Höhen des Taygetos ausgesetzt würden; schadete es Ein- zelnen, nützte aber bewusst der Gesammtheit. Derselbe Ge- danke leitete Lykurg und die übrigen Mitarbeiter an der spar- tanischen Verfassung auch bei der Ordnung noch mancher anderen menschlichen Beziehungen. Nach Plutarch war Lykurg überhaupt ein sehr bewusster Rassenhygieniker, der auch die Bedeutung der Zeugung für seine Absichten klar erkannte. In seinen Biographien (Uebersetzung von Kaltwasser, Wien, 1805. Seite 181 u. ff.) berichtet Plutarch folgendes: „Bei der Erziehung, die er als das grösste und wichtigste Geschäft eines Gesetzgebers betrachtete, fing er ganz von vorn an und richtete sein Augenmerk zu allererst auf die Ehen und die Erzeugung der Kinder … Zuerst suchte er die Körper der Jungfrauen durch Laufen, Ringen und das Werfen der Wurfscheiben und Spiesse abzuhärten, da- mit die in einem starken Körper erzeugte Frucht kraftvoll aufkeimen und gedeihen könnte, sie selbst aber die zur Geburt erforderlichen Kräfte erlangen und die Schmerzen leicht und ohne Gefahr überstehen möchten. Um aber alle Weichlichkeit, Verzärtelung und andere weibliche Eigenschaften auszurotten, gewöhnte er die Mädchen so gut wie die Knaben, den feierlichen Aufzügen nackend beizuwohnen, und so an gewissen Festen in Gegenwart und vor den Augen der Jünglinge zu tanzen und zu singen … Uebrigens hatte diese Entblössung der Jungfrauen nichts Schändliches, da immer Schamhaftigkeit dabei ob- waltete und alle Lüsternheit verbannt war, sie wurde viel- mehr zu einer unschuldigen Gewohnheit, erzeugte eine Art von Wetteifer in Absicht der guten Leibesbeschaffen- heit und flösste auch dem weiblichen Geschlechte edle, erhabene Gesinnungen ein … Die Verheirathung selbst geschah auf die Art, das Jeder sich eine Jungfrau raubte, nicht aber eine kleine oder unmannbare, sondern eine solche, die völlig erwachsen und zur Ehe reif war. … Der Bräutigam schlich sich dann, nicht betrunken, nicht durch Schwelgerei entkräftet, sondern bei völliger Nüchternheit, und nachdem er wie immer mit seinen Tisch- genossen gespeist hatte, heimlich zu ihr, löste ihr den Gürtel und trug sie aufs Bett. Wenn er eine kurze Zeit mit ihr zugebracht hatte, ging er wieder sittsam weg, um an dem gewöhnlichen Orte in Gesellschaft der anderen jungen Männer zu schlafen. Ebenso hielt er es auch in der Folge; den Tag brachte er unter seinen Kameraden hin, schlief des Nachts bei ihnen und seine Braut besuchte er heimlich und mit der grössten Behutsamkeit. … Ein solches Zusammenkommen diente nicht allein zur Uebung in der Enthaltsamkeit und Mässigkeit, sondern sie beförderte auch die Fruchtbarkeit und machte, dass sie sich immer mit neuer und verjüngter Liebe umarmten. … Er (Ly- kurg) hielt es freilich für rathsam, dass der Frechheit und Ausschweifung in der Ehe gesteuert würde, auf der ande- ren Seite aber fand er es dem Staat zuträglich, wenn unter den würdigen Männern eine Gemeinschaft der Kinder und deren Erzeugung stattfände, und in so fern lachte er diejenigen aus, welche bei solchen Dingen durchaus keine Theilnahme gestatten. … Es war also einem bejahrten Manne, der eine junge Frau hatte, vergönnt, einen jungen wackeren Mann, der ihm gefiel, und den er für tüchtig hielt, bei seiner Frau einzuführen, und das von ihnen aus edlem Samen erzeugte Kind für das seinige anzuerkennen. Auf der anderen Seite stand es auch einem recht- schaffenen Manne frei, wenn er die Frau eines Anderen wegen ihrer Fruchtbarkeit und Tugend schätzte, den Gatten derselben um die Erlaubniss zu bitten, dass er ihr beiwohnen und gleichsam in einen fruchtbaren Boden pflanzen und gute Kinder erzeugen dürfte. … Lykur- gus glaubte, dass die Kinder … dem Staate gemein- schaftlich gehörten, und in dieser Rücksicht, wollte er die Bürger nur von den Besten, nicht aber von Jedem ohne Unterschied erzeugen lassen … Es hing nicht bloss von dem Vater ab, ob er das geborene Kind aufziehen wollte, sondern er musste es an einen ge- wissen Ort, Lesche genannt, tragen, wo die Aeltesten der Zünfte versammelt waren. Diese besichtigten es genau, und wenn es stark und wohlgebaut war, hiessen sie es ihn aufziehen, und wiesen ihm eins von den 9000 Loosen an; war es hingegen schwach und übelgestaltet, so liessen sie es gleich in ein tiefes Loch am Berge Taygetos werfen, weil man glaubte, dass ein Mensch, der schon vom Mutter- leibe an einen schwachen und gebrechlichen Körper hat. sowohl sich selbst als dem Staate zur Last fallen müsste.“ Was diese oder wenigstens eine ähnliche Verfassung erreicht hatte, bewiesen dreieinhalb Jahrhunderte später Leonidas und seine Schaar in dem Engpass der Thermopylen. Die Idee der Rasse-Veredelung lag wenigstens zum Theil auch der Sitte der alten Germanen zu Grunde, dem Vater zu gestatten, schwächliche, hässliche oder sonst nicht passende Neugeborne zu tödten.Vgl. auch Uffelmann, Handbuch der privaten und öffentlichen Hygiene des Kindes. Leipzig 1881. S. 4, 5 u. 12. Auch die ger- manischen Freien und Edelfreien, sowie die Kasten vieler andrer Völker und Zeiten verstanden oft vortrefflich oder versuchten es wenigstens, die Rasseinteressen ihrer Körper- schaft wahrzunehmen. Heutzutage ist bei den Culturnationen das Verständ- niss und die Pflege von Rasseinteressen beschränkt einer- seits auf die regierenden Fürstengeschlechter und den Adel, andrerseits auf Rennpferde, Jagdhunde, Rindvieh und sonstige Hausthiere. Das Christenthum und die moderne Demokratie mit ihren Gleichheitslehren und -Forderungen haben in den Massen den Sinn für Rasse so abgeschwächt, dass der Conflict zwischen den humanitär-socialistischen Forderun- gen und dem Rassenwohl gar nicht mehr in ihr Bewusst- sein dringt. In den Massen, sage ich. In dem kleinen Kreise der Führer und Forscher ist durch Darwin’s Auftreten und das politische Vordringen der Social- demokratie das Rasseninteresse wieder sehr lebendig geworden, und die Schwerthiebe grosser und kleiner Ritter vom Geist rasseln fröhlich durch die Frühlings- lüfte der modernen Wissenschaft. Hie Sozialismus — hie Darwinismus, hinter diesem Feldgeschrei bergen sich nichts weiter als die auf die Politik angewandte Individual- hygiene, die für jeden Einzelnen die möglichst günstigen Entfaltungsbedingungen schaffen möchte, und die Rassen- hygiene, die das Ausmerzen der schwachen und schlechten Individuen für das Wohl der Rasse nicht glaubt entbehren zu können. Manche Forscher zwar haben bei der Definition von Hygiene das Hauptgewicht auf das Wohl der Gesammt- heit gelegt, wie z. B. Prof. Demme, der Berner Kinder- Kliniker, in folgenden Worten: „Hygiene sammelt wie in einem Brennpunkt die gesammten Resultate wissenschaft- licher medizinischer Forschung, soweit sie zum Wohl des Staates und Volkes Verwendung finden können.“Demme, R. Ueber den Einfluss des Alkohols auf den Organis- mus des Kindes. Rede. Stuttgart 1891 S. 4. Allein er ist sich des Zwiespalts nicht weiter bewusst geworden. Andere wieder haben den Zwiespalt abgeläugnet. So sagt Georg in seiner socialen Hygiene: „Indessen hat es der frisch aufstrebenden Wissenschaft auch an ernsten Gegnern nicht gefehlt. Da sind zunächst die consequen- ten Darwinianer, die der socialen Hygiene nicht gewogen sind. Sie werfen ihr vor, die natürliche Auslese zu ver- fälschen, welche die lebensschwachen Elemente sonst im Kampf um’s Dasein zu Grunde gehen lässt und ein kräf- tiges Geschlecht verbürgen würde. … Hierauf ist, ganz abgesehen von der humanitären Seite der Sache, zu er- wiedern, dass die soziale Hygiene den Kräftigen und Ge- sunden nicht minder Schutz gewährt als den Schwachen und Kranken.“K. Georg. Soziale Hygiene. Berlin und Leipzig 1890 S. 8. Auch Rosenthal und Rubner äussern sich in ähn- licher Weise.J. Rosenthal. Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege. Erlangen 1887 S. 5. Max Rubner. Lehrbuch der Hygiene. Leipzig und Wien 1890 S. 3. Es ist offenbar, dass mit dieser Abläugnung des Wider- streits nichts gewonnen wird. Die Kräftigen und Gesunden brauchen eben den Schutz der Hygiene nicht, wenigstens nicht in dem Maasse als die Schwachen, und sind nur häufiger der Vermischung mit den Schwachen ausgesetzt. Auch das Argument, seit grösserer Ausbreitung hygieni- scher Maassregeln habe die durchschnittliche Lebensdauer bedeutend zugenommen, also die gesammte Rasse davon nicht nur keinen Schaden, sondern Vortheil gehabt, darf nicht ohne Weiteres zugelassen werden. Denn die Lebens- dauer ist die Resultante zweier entgegengesetzter Compo- nenten, der Constitutionskraft der Individuen und der Summe der schädlichen Einwirkungen darauf. Die Resul- tante, die Lebensdauer, kann bei Verminderung der schäd- lichen Einwirkungen in zweierlei Art steigen, erstens wenn die Constitutionskraft zunimmt oder wenigstens gleich bleibt, zweitens aber auch, wenn letztere abnimmt, nur muss diese Abnahme dann im Verhältniss geringer sein als die der Schädlichkeiten. Mit anderen Worten: ein irdener Topf kann länger aushalten als ein eiserner, wenn er nicht so häufigen und starken Stössen wie dieser ausgesetzt wird. Dass wir von dem Eisen in unserer Constitutionskraft wirklich verloren haben, geben sogar Rosenthal und Georg, sonst aber auch eine Menge der hervorragendsten Forscher zu, aller- dings im Widerspruch mit anderen. Die Berechtigung zur Gegenüberstellung von Indivi- dual- und Rassen-Hygiene bleibt also bestehen, und es er- hebt sich nun die Frage, welche von den beiden wir prinzipiell als die dominirende anzusehen haben. Der erste Maassstab aller menschlichen Thätigkeit ist die Erhaltung des gesunden, kräftigen, blühenden Lebens. Dieser Maassstab ergiebt sich ebenso aus der objectiven Betrachtung des Menschen als eines sich selbst erhalten- den anziehenden und abstossenden Mechanismus, als aus den Urmotiven der Triebwelt, den Erhaltungstrieben, deren Nicht- befriedigung als Unlust, deren Befriedigung als Lust unserer Psyche direct offenbar wird. Man lese hierüber nach in der „Metaphysik in der modernen Physiologie“ von Haupt- mann, einem der geistvollsten und bedeutendsten Werke, das auf dem Grenzgebiete der Physiologie und Philosophie in letzter Zeit erschienen ist. Karl Hauptmann. Die Metaphysik in der modernen Physiologie. Eine kritische Untersuchung. Jena. G. Fischer. 1894. Aus den Erhaltungsbestrebungen des Individuums ist auch die Individualhygiene hervorgegangen und bildet ihre am meisten verfeinerten und vertieften Ausläufer. Als hauptsächlich in den letzten Jahrzehnten entwickeltes Kind des Jahrhunderts ist sie ein wenig von der fin de siècle-Gesinnung angesteckt worden: Nach uns die Sint- fluth. Was bei ihrem flotten Wirthschaften aus dem Wohl der spätern Geschlechter wird, hat sie nicht viel gekümmert. Grade an die späteren Geschlechter nun knüpft die Rassenhygiene an, die hier in Bezug auf die Nach- kommenden mit dem Prinzip der individuellen Hygiene übereinstimmt, das höchste Wohl möglichst Vieler zu wollen. Der Begriff Rasse knüpft sich nicht an eine Generation, sondern an viele auf einander folgende, deren Werden und Vergehen das Leben der Rasse erst bilden. Für ein Geschlecht ist daher das unmittelbare Ziel der Rassenhygiene immer das Wohl des nächsten. Daraus ergeben sich ihre Wurzeln in der Triebwelt der Individuen. Das sind die Elternliebe und das Interesse für die grosse Gemeinschaft, der man angehört, sei es Familie, Stamm, Volk oder die ganze Gattung, also auch der Patriotismus und die Liebe zur Menschheit, die meist nichts weiter ist als die Liebe zu ihrem arischen Theil. Die Eltern, die versuchen, ihre Kinder unter den möglichst günstigen Umständen zu zeugen und heran- zuziehen, der Adlige, der die Wahl seiner Frau nach den Erhaltungsinteressen seines Stammes trifft, der Patriot, der mit Selbstverläugnung die Opfer auf sich nimmt, die für das Gedeihen seines Volks auch in fernerer Zeit nöthig sind, der Menschenfreund, der von einem goldenen Zeit- alter träumt, wo ein besseres, glücklicheres Geschlecht blüht, und der Künstler, der menschliche Schönheit nicht nur in Marmor und auf Leinwand, sondern noch viel herrlicher in Fleisch und Blut sehen möchte, sie alle haben Sinn für die Zukunft der Rasse und sind bereit, dafür in der Gegen- wart Opfer zu bringen. Sie leben, wie Nietzsche sagt, mehr für’s Kinderland, als für’s Vaterland. Alle diese Motive bilden psychische Erhaltungsvor- richtungen für die Art, knüpfen aber auch schliesslich alle an individuelle Lust- und Unlust-Empfindungen an; die Glücksfähigkeit der Nachkommen ist das Ziel. Ueber den Inhalt des menschlichen Glücks sind die Meinungen sehr verschieden. Es wäre trivial, dies weiter auszuführen. Aber in dem Punkt dürfte doch Ueberein- stimmung herrschen, dass es für das Lebensglück Aller eine Grundlage gemeinsamer notwendiger Bedingungen giebt, wie Gesundheit, körperliche und geistige Kraft, Ver- fügungsrecht über ein gewisses Minimum wirthschaftlicher Güter etc., und dass es ausserdem eine Reihe von wünschens- werthen Bedingungen giebt, deren Erfüllung nicht grade für Jeden zu seinem dauernden Wohlsein unumgänglich nöthig ist, aber doch von Allen als sehr begehrenswerther Zuwachs empfunden wird, wie z. B. schöne Körperformen, eine hübsche Wohnung, ein hübscher Garten, Kunstwerke etc. Und hier setzt ein ausschlaggebendes Moment ein. Die Erhöhung der innern, in unsern Eigenschaften liegenden Glücksbedingungen, also die Vervollkommnung der Menschheit, ist nur in sehr beschränkter Weise ein Problem in Bezug auf das Leben des Individuums. Aeussere Eindrücke, Erziehung, Uebung von Functionen können nur gegebene Anlagen bis zu einem bestimmten Punkte ent- falten, so dass sie für das betreffende Individuum besser functioniren, aber die Steigerung der guten Anlagen bei der Vererbung auf die nächste Generation, also die wirk- liche Vermehrung des Kapitals menschlicher Glücksfähigkeit, ist ein Problem des Gattungslebens und fällt daher voll- kommen in die Sphäre der Rassenhygiene. Die Vervollkommnung muss noch aus den Gründen neben der blossen Erhaltung der Gattung Object der Rassenhygiene bleiben, weil nicht nur die Wege zur blossen Erhaltung unmerklich in die der Vervollkommnung übergehen, sondern auch, weil bei allen rassenhygienischen Maass- nahmen das Resultat der blossen Erhaltung bei der Un- sicherheit unserer Methoden nur dann mit Sicherheit erreicht werden würde, wenn wir die Vervollkommnung erstreben. Die Steigerung unsrer Gehirnanlagen ist die nothwen- digste Bedingung einer Verbesserung unserer Glücksbedin- gungen, die wir kennen. Aller Fortschritt hierin heisst besseres Erkennen und dadurch leichteres Beherrschen unserer eigenen und der äusseren Natur. Werkzeug und Waffe dafür ist unser Gehirn. Nur eine Steigerung seiner Anlagen von Geschlecht zu Geschlecht kann der Mensch- heit die nöthige Kraft geben, sich den umklammernden Armen des Elends zu entringen. Die Rassenhygiene, das Bestreben, die Gattung gesund zu erhalten und ihre Anlagen zu vervollkommnen, muss also das herrschende Princip bleiben, und die Individual-Hygiene sammt ihren socialen und politischen Ausläufern muss sich unterordnen, sobald sie dies Princip ernstlich gefährdet. In den folgenden Blättern soll zuerst der allgemeine Theil der Rassenhygiene abgehandelt werden, nämlich die Praecisirung der genaueren Ziele sowohl für die Erhaltung, als die Vervollkommnung der Rasse; die bisher in dieser Richtung wirkenden Factoren; die Diskussion der Frage, ob wir heute degeneriren oder nicht; schliesslich die For- mulirung der allgemeinen rassenhygienischen Anforderungen an Staat, Familie, und Individuum und ihre Zusammenhänge mit den social-oekonomischen Systemen, die zu einem Schutz der Schwachen tendiren. In einem zweiten Theil, der speciellen Rassenhygiene, sollen die Mittel besprochen werden, diesen Anforderungen gerecht zu werden; er wird nach einer Besprechung des Schutzes der guten Variationen im Wesen eine Unter- suchung über die Mittel zur Erzeugung tüchtiger Nach- kommen enthalten. 1. Capitel. Allgemeine Factoren der Erhaltung und Entwickelung. Der Gesammtprocess. Darwin — Wallace. — Vererbung. Keimplasma. Vererbung erworbener Eigenschaften. Praeformation und Epigenese. — Variation. Ursachen. Keimauslese. Befruchtung. Spätere Wirkungen. Grenzen und Häufigkeit der Variirens. Vererbung von Variationen. — Kampf um’s Dasein und natürliche Auslese. Vermehrungstendenz der Wesen. Regulationen im Organismus. Constitutionskraft. Extral- und Socialwirkungen. Nonselectorische und selectorische Factoren. Starke u. schwache Varianten. Kampf der Societäten. — Bedeutung der drei Entwickelungsfactoren. Der Gesammt-Process. Die menschliche, überhaupt die gesammte organische Entwickelung wurde unserem Verständniss bisher am näch- sten gebracht durch die Untersuchungen von Darwin, Wallace und ihren Nachfolgern, wenn auch für die Auf- deckung der eigentlichen mechanischen Vorgänge dabei wenig geleistet wurde. Wen es interessirt, wie weit es nach dem heutigen Stande unseres Wissens überhaupt nur gelingen kann, Lebenserscheinungen auf rein mechanischem Wege zu erklären, sei auf Karl Hauptmann’s Darstellung in seiner „Metaphysik in der modernen Physiologie“ hin- gewiesen und zwar hauptsächlich auf den fünften Theil des Buchs: Leitende Gesichtspunkte für eine dynamische Theorie der Lebewesen. Karl Hauptmann, a. a. O. pag. 315. Am meisten Licht wurde noch verbreitet über die Formen des Kampfes um’s Dasein in speciellerem Sinne. Vererbung und Veränderlichkeit blieben ziemlich im Dun- keln. Ihrem geheimnissvollen Weben zu lauschen wird immer wieder die Forscher reizen. Und wenn sie wohl noch auf lange unfähig sein werden, ein volles mechanisches Verständniss dieser Erscheinungen herzustellen, so wird doch schon das Auffinden entfernterer Abhängigkeiten fruchtbare practische Gesichtspunkte ergeben. Das Leben der Menschheit verläuft in demselben grossen Rahmen wie das der übrigen Thiergattungen. Es werden zuviel Nachkommen gezeugt, als dass die Ver- mehrung der für sie erreichbaren Nährstellen damit Schritt halten könnte. Aus dem Nachweis dieser Thatsache für die Menschen durch Malthus Malthus, Versuch über das Bevölkerungsgesetz. Berlin 1879. schöpfte Darwin bekannt- lich die Anregung zu seiner Theorie. Aus dem Missverhältniss ergiebt sich ein Wettbewerb um Nahrung und indirekt um Fortpflanzung und Kinder- pflege, der Sieg des stärkern Theils, die mehr oder minder vollständige Unterdrückung und das Elend des schwächern Theils. Aber dieser Wettbewerb mit seinen ungeheuren Opfern an menschlicher Glückseligkeit war, wie Darwin und Wallace dargelegt haben, andrerseits auch eine der Bedingungen der Erhaltung und Vervollkommnung der Gattung. Es giebt ausser der Selections-Theorie noch verschiedene Entwickelungshypothesen, die sich aber nicht entfernt einer solchen weitverbreiteten Anerkennung unter den Wissen- schaftlern erfreuen, und die das Stadium nebelhafter Hypo- thesen so wenig überwunden haben, dass ich mich in diesen Blättern darauf beschränken muss, nur die Darwin- Wallace’sche Form der Entwickelungslehre in’s Auge zu fassen, also die Selectionstheorie mit ihren drei Factoren: Variation, Auslese und Vererbung. Höchstens können wir über die relative Bedeutung der einzelnen Factoren streiten. Besonders kommt dies für die Auslese in Betracht, die der einzige der drei Factoren ist, der auch nach Darwin’s Zugeständniss in manchen Fällen eine nur facultative Be- deutung haben kann. Die Kinder haben etwas andere Eigenschaften als ihre Eltern, sie variiren. Von diesen neuen, oder anders gra- duirten Eigenschaften sind einige im — bewussten und unbewussten — Kampf um’s Dasein, d. h. um die Existenz und den Nachwuchs den Trägern vortheilhaft und helfen mit dazu, dass sie erfolgreicher darin sind, mehr und kräftigere Kinder aufzubringen als diejenigen, die diese Eigenschaften nicht oder in nicht so hohem Grade haben. Auf einen Theil der Kinder werden diese Eigenschaften wieder vererbt, einige Male sogar in erhöhtem Grade; dieser Theil ist dadurch wiederum im Kampf um das Dasein begünstigt und vererbt seinerseits die Eigenschaften weiter. Wenn nun diese neuen Eigenschaften, die ja zu- erst nur geringe Unterschiede von den Eltern zu bedeuten brauchen, bei den Nachkommen immer wieder im Sinne ihrer steigenden Entwickelung variiren und im Kampf um’s Dasein ausgelesen werden, so werden auf diese Weise die Besitzer der neuen Eigenschaften im Lauf der Genera- tionen einen immer grösseren Procentsatz der Art aus- machen, bis sie schliesslich alle übrigen Individuen ver- drängt haben, und die Art nunmehr bloss aus den Indivi- duen mit diesen neuen Eigenschaften besteht. Es muss ausdrücklich bemerkt werden, dass das Wort „Kampf um’s Dasein“ im Sinne Darwin’s die Concurrenz in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft ein- schliesst. Darwin selbst sagt: „Ich will vorausschicken dass ich diesen Ausdruck, Kampf um’s Dasein, in einem weiten und metaphorischen Sinn ge- brauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit 2 der Wesen von einander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in Bezug auf das Hinter- lassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird. Darwin. Entstehung der Arten. Uebersetzt von Carus. Stutt- gart 1876 S. 84. Sehr häufig, besonders von Sozialisten, ist dieser Be- griff nicht auf die Fortpflanzung erstreckt und also falsch aufgefasst worden; es ist desshalb auch oft genug von Naturwissenschaftlern bemerkt worden, dass er unglücklich gewählt ist. Aber er hat sich einmal eingebürgert und desshalb müssen wir ihn beibehalten. Wir müssen uns eben denken, dass die Kinder gewissermassen zum Sein der Eltern hinzugehören. Um es bei der grossen Wichtig- keit des Gegenstandes noch einmal zu wiederholen: der Kampf um’s Dasein begreift in sich sowohl den Kampf des Individuums um seine eigene Erhaltung, als den um einen geeigneten Gatten und schliesslich den um das Auf- bringen der erzeugten Kinder, die ja in der nächsten Generation den gegen die vorige vermehrten oder ver- minderten Antheil des elterlichen Blutes ausmachen. Ein Unterliegen im Kampf ums Dasein tritt also ein, wenn das Individuum vorher stirbt, ehe es zur Fortpflanzung kommt, oder wenn es aus irgend einem Grunde keinen Gatten findet, oder wenn die Verbindung mit dem Gatten unfruchtbar bleibt, oder wenn von den erzeugten Kindern bis zur vollendeten Brutpflege weniger erhalten bleiben, als zum prozentualen Ersatz der Eltern nöthig sind. In diesem Falle wäre natürlich auch der andere Gatte durch die Schädi- gung seiner Fortpflanzung in gleichem Maasse unterlegen. Eine Behauptung im Kampf um’s Dasein findet statt, wenn die Zahl der erhaltenen Kinder dem Antheil der Eltern an der Art entspricht, ein Siegen über andere Theilnehmer, wenn eine grössere Zahl Kinder erhalten bleiben. Zur Illustration ein thatsächliches Beispiel aus dem Thierreich. Bei den russischen Wölfen zeigt sich in immer wachsender Zahl eine langbeinige Spielart. Darwin würde diese etwa so erklären: Unter den Jungen werden ab und zu einige geboren, die etwas längere Beine mit auf die Welt brachten als ihre Mitwölfe. Zur Zeit des Nahrungsmangels, im Winter, wo viele Wölfe zu Grunde gehen, ist diese neue Eigenschaft ein grosser Vortheil. Ein weiteres Areal kann nach Nahrung durchstreift und die Beute besser verfolgt werden. Dadurch überwintern die Langbeine in verhältnissmässig grösserer Zahl als die Kurz- beine und machen, da sie durch Vererbung zum grossen Theil die neue Eigenschaft übertragen, in der nächsten Generation einen etwas grösseren Procentsatz der Art aus als früher. Wenn dieser Process des öfteren Erzeugens der langbeinigen Spielart und ihrer Auslese im Kampf um’s Dasein sich durch sehr viele Generationen wiederholt, so muss allmählich die russische Wolfsart fast nur noch lang- beinige Exemplare aufweisen. Bei den Menschen findet mutatis mutandis derselbe Vorgang statt. Vergleichen wir den heutigen Cultur- menschen mit dem noch heute lebenden Wilden, also mit Menschen, die unsern Vorfahren ähnlich sind, so fällt am meisten unsere stärkere Gehirnentwickelung auf und damit verbunden unsere höhere Intelligenz, die uns über die niedriger entwickelten Stämme hat siegen lassen. Auch die socialen Instincte (im Sinne Darwin’s) haben sich vervoll- kommnet. Der Fortschritt in diesen beiden Punkten ist jedenfalls der wichtigste, und sein Andauern zur weiteren Entfaltung des Menschengeschlechts unumgänglich nöthig. Selbstverständlich ist neben der Entwicklung der Intelligenz und der socialen Instincte die Erhaltung der Consti- tutions- und Fortpflanzungskraft gegangen. Alle Individuen, die in diesen beiden Punkten schwach beanlagt waren, wurden durch die äusseren Schädlichkeiten beeinträchtigt, 2* oder hatten bei Vermischung mit Kräftigeren die Tendenz, die Nachkommen leichter unterliegen zu lassen. Wir müssen diesen Erhaltungs- und Umänderungsprocess mit seinen drei Grundphaenomenen, der Variation oder Abänderung der Nachkommen, der Auslese (Zuchtwahl, Selection) der guten Variationen durch den Kampf um’s Dasein und drittens der Vererbung der elterlichen Eigenschaften auf die nächste Generation, für unsere Zwecke noch etwas näher betrachten. Vererbung. Unter Vererbung Zum Studium der Vererbung empfehlen sich: Darwin, Ch. Das Variiren der Pflanzen und Thiere im Zustand der Domestication. Cap. 27. — Galton Fr., Natural Inheritance, London 1889. — Haeckel, E. Perigenesis der Plastidule 1876. — Hertwig, O. Die Zelle und die Gewebe. Jena 1892. und Zeit- und Streitfragen der Bio- logie, Heft I. Praeformation oder Epigenese? Jena 1894. — Hertwig, O. und R. Problem der Befruchtung und Isotropie des Eies, eine Theorie der Vererbung. Jena 1884 — Ribot, Th. Die Erblichkeit. Deutsch von Hotzen. Leipzig 1876. — Roth. E. Die Thatsachen der Vererbung. II. Aufl. Berlin 1885. — Spencer: H. Die Principien der Biologie. Deutsch von Vetter. Stuttgart 1876. — Vries, H. In- tracellulare Pangenesis. Jena 1889. — Weismann, Aug. Das Keim- plasma, eine Theorie der Vererbung. Jena 1893. versteht man jedes Wiederauftreten von Eigenschaften der Eltern bei den Nachkommen durch den Akt der Fortpflanzung hindurch. Oft werden die elterlichen Anlagen beim Kinde bis auf feinste Einzelheiten wiederholt. Die Erblichkeit ist die Tendenz, die Kinder den Eltern gleich zu machen, sie ist also der grosse conservative Factor in der Natur, der viele von den neu aufgetretenen wie auch die alten Eigenschaften zu erhalten strebt. In so fern be- steht zwischen der Vererbung und der Veränderlichkeit oder Variabilität der Organismen ein gewisser Gegensatz. Die Variabilität vereinigt das fortschrittliche und reaktionäre Princip, sie ändert eben nur um, fügt entweder den ver- erbten Charakteren hinzu, modificirt sie oder nimmt etwas von ihnen fort. Einige specielle Bezeichnungen der Vererbung sind für unsere Zwecke nöthig. Von „Vererbung im entsprechenden Lebensalter“ (homochrone Vererbung Haeckel’s) spricht man, wenn Eigenschaften, die bei einem Elter in einem bestimmten Lebensalter auftraten, auch bei dem Kinde in demselben Lebensalter auftreten. Hierher gehört das Eintreten der Pubertät, das Erscheinen der secundären Geschlechts- charaktere, aber auch sehr individueller Eigenheiten. Streng genommen gehört es zum Begriff der Vererbung, dass sie homochron ist; denn wenn z. B. eine Tochter mit 10 Jahren in die Pubertät eintritt, während die Mutter, die unter denselben Bedingungen aufwuchs, erst mit 14 Jahren mannbar wurde, so hatte sie eben einen anderen Organismus und gleicht in dem herangezogenen Punkte nicht der Mutter, sondern stellt eine Variation dar. Auch die „gleichörtliche“ Vererbung ist selbstverständlich und ein Pleonasmus. Unter „gekreuzter Vererbung“ versteht man die Ver- erbung einer Eigenschaft von dem einen Geschlecht der Eltern auf ein anderes Geschlecht bei den Kindern, also z. B. vom Vater auf die Tochter. Dies wird nicht nur unmittelbar beobachtet, sondern auch in mehr latenter Weise, wenn z. B. Jemand schon in jungen Jahren eine graue Locke an einer bestimmten Stelle des Bartes be- sitzt, die in ähnlicher Weise bei dem Sohn seiner Tochter wieder auftritt. Von „gemischter Vererbung“ spricht man im Hin- blick auf die Thatsache, dass ein Kind Eigenthümlichkeiten von beiden Eltern in sich wiederholt. Verschiedene andere Bezeichnungen, die man aufge- stellt hat, wie atavistische, pot- und praeponirende, un- gleichartige und noch manche andere gehören streng ge- nommen nicht unter den Begriff Vererbung, sondern unter den der Variabilität, und werden dort ihre Erwähnung finden. Dies gilt auch, wenigstens zum Theil, von der „latenten Vererbung“, wo bei einer oder mehreren Zwischen- generationen die betreffende Eigenschaft nicht zur Ent- wickelung kommt. Das nähere Geschehen bei der Vererbung ist noch nicht sehr aufgeklärt. Zwar darüber ist man ziemlich im Einverständniss, dass der Process hauptsächlich an die Kernsubstanz der Ei- und Samenzelle gebunden ist, die, von beiden Eltern herrührend, durch die Begattung einander nahe gebracht werden und bei der Befruchtung zu einem neuen Kern in der Eizelle verschmelzen, aus der dann durch Theilung alle späteren Zellen des neuen Körpers hervorgehen. Allein es bestehen doch noch so wichtige Meinungs- verschiedenheiten, dass sehr bedeutende Fragen, wie die der Herkunft der Keimstoffe in Bezug auf den elterlichen Organismus noch ungelöst sind. Ob direkte Abstammung der Keimsubstanz eines Individuums von der Keimsubstanz seiner Eltern besteht, oder ob die Keimstoffe eines Indivi- duums neu von den Körperzellen desselben Individuums wiedergebildet werden, das ist eine wichtige und dement- sprechend stark ventilirte Frage. Francis Galton und Weis- mann, sowie die zahlreichen Anhänger ihrer absoluten Weigerung, irgend eine Art der Abstammung von Keim- plasma aus Körperplasma anzunehmen, stehen in diesem Streit gegen Darwin, Haeckel, Hertwig, Romanes, Spencer, Vries und andere. Für uns hat dieser Streit insofern Bedeutung, als die Frage der sog. „Vererbung erworbener Eigenschaften“ eng damit verbunden wird Vergl. auch Ernst Ziegler. Können erworbene pathologische. Unter erworbenen Eigenschaften werden in dieser Discussion Eigenschaften verstanden, die von einem Individuum zu irgend einer Zeit im Lauf seines gesammten Lebens erworben wurden, also von der Zeit an, wo es noch eine ungetheilte, aber schon befruchtete Eizelle war, bis zu seinem Tode. Hierhin gehören haupt- sächlich die Resultate der Uebung und Nichtübung. Alle vor oder durch das Zusammentreffen der elterlichen Keimstoffe von diesen letzteren erfahrene Aenderungen werden nicht erworbene, sondern anerzeugte Eigenschaften genannt. Weismann hielt die Entscheidung dieser Frage natürlich für seine Theorie der Continuität der Keimplas- mata von grosser Bedeutung, da der Nachweis der Ver- erbung erworbener Eigenschaften, also der Wieder- holung von Eigenschaften, die von der Körpersub- stanz erworben waren, durch den Keimstoff, sehr gegen seine Annahme in’s Gewicht fiel. Desshalb haben er und seine Anhänger, begünstigt durch die weit verbreitete Schwierigkeit, bei den Charakteren eines Individuums den Antheil der Anlagen und der äusseren Einwirkungen fest- zustellen, bisher jede thatsächliche Berechtigung der An- nahme des Vererbens erworbener Eigenschaften abge- stritten, in einer Weise, die uns nicht gestattet, diese Form der Vererbung als unzweifelhaft vorkommend und dess- halb als wirksamen Entwickelungsfactor anzunehmen. Auch die angestellten Experimente, die ausnahmslos die Vererbung nur von Verletzungen betrafen, sind nicht zwingend, am ehesten noch die Brown-Sequard’schen über die Vererbung der künstlichen Epilepsie der Meer- schweinchen. Mit Sicherheit geht jedenfalls aus der ganzen Discussion hervor, dass eine Vererbung erworbener Eigen- schaften, also auch von Uebungsresultaten, bis jetzt nicht als verlässlicher Entwickelungsfactor von uns in Rechnung gestellt werden kann. Eigenschaften vererbt werden und wie entstehen erbliche Krankheiten und Missbildungen? Jena 1886. Es wäre sehr zu wünschen, dass Experimente in dieser Richtung angestellt würden, die positive Uebungsresultate, nicht Defecte, zur Basis nähmen. Bei der einen Hälfte einer grossen Anzahl von unter gleichen Bedingungen aufgewachsenen Thieren müssten die Resultate der maxi- malen Uebung eines Organs notirt werden. Die andere Hälfte müsste in der Nichtübung verharren. Bei allen Nachkommen beider Gruppen, die sich untereinander nicht mischen dürften, werden nun die Resultate der maximalen Uebung des verglichenen Organs festgestellt. Stellt sich eine grössere Leistung bei der Gruppe heraus, die von den geübten Thieren abstammt, so könnte man, falls eine genügend grosse Anzahl von Versuchsthieren verwendet wäre, und Nachprüfungen dasselbe Resultat liefern würden, die Vererbung von Uebungsresultaten in Form einer ge- steigerten Anlage nicht leugnen. Die ursprüngliche An- zahl der Versuchsthiere muss gross genug sein, um bei Theilung in zwei willkürliche Hälften die Anlagen des zu prüfenden Organs als durchschnittlich gleich bei beiden Hälften annehmen zu können. Hier giebt’s Aufgaben für reiche, oder sagen wir lieber sehr reiche Freunde der Wissenschaft. Im Anschluss noch ein paar Worte über die Weis- mann’sche Theorie, insofern sie Bedeutung für die Ent- wickelungsfactoren hat. Bei Annahme der Weismann’schen Lehre der Continuität der Keimstoffe ist man natürlich keineswegs gezwungen, irgend eine Einwirkung der Körper- zellen und der Aussenwelt durch die Körperzellen auf den Keimstoff zu leugnen. Das thut auch Weismann nicht mehr. Die Beeinflussbarkeit giebt eben Anlass zum Ent- stehen von Variationen. Von einer Vererbung könnte man aber erst dann sprechen, wenn die durch die Aussenwelt an den Körperzellen hervorgerufene Veränderung solche Folgen für das Keimplasma hätte, dass die gleiche Ver- änderung im Kinde aufträte. Diese Möglichkeit ist jedoch auch bei Annahme der Weismann’schen Lehre offen. Man könnte sich denken, dass die Organe in chemischer Be- ziehung den Theilen der Keimstoffe sehr ähnlich sind, aus denen Weismann sie entstehen lässt, den Determinanten. Wenn nun irgend welche klimatische, toxische oder Uebungs- einflüsse, die ja schliesslich alle den Körper chemisch verändern, auf denselben einwirken, so ist es möglich, dass ausser einem gewissen Organ oder Organsystem der chemischen Aehnlichkeit halber auch der entsprechende Theil des Keimstoffes in correspondirender Art getroffen wird, so dass bei ihm entsprechende Veränderungen hervorgerufen werden, die die Tendenz haben, bei der Befruchtung das neue Wesen in derselben Weise geändert entstehen zu lassen, wie das Elterwesen primär geändert wurde. Noch einen anderen Theil der Weismann’schen Ver- erbungstheorie wollen wir betrachten, die Determinanten- lehre, da es von ihrer Annahme abhängt, ob wir uns die Beeinflussung eines Individuums während seiner Entwicke- lung vom befruchteten Ei ab leicht oder schwer vorstellen, Dinge, die, im Fall sich die Vererbung erworbener Eigen- schaften als Thatsache herausstellen sollte, grosse Bedeu- tung für den Entwickelungsprocess einer Rasse haben könnten. Weismann betrachtet, wie fast sämmtliche Autoren, die Kernsubstanz der Keimzellen als den Träger der Ver- erbungsanlagen. Er nennt die Kernstäbchen „Idanten“ und lässt jeden Idanten aus einer Anzahl von „Iden“ oder Ahnenplasmen zusammengesetzt sein. Ein Id entspricht der Entwickelungsmöglichkeit eines Individuums der früheren Generationen, auch der Eltern. Jedes Id besteht wieder aus „Determinanten“, eine solche für jede einer selbstän- digen Abänderung fähige Zelle oder Zellgruppe des spä- teren Lebewesens. Die Determinanten bauen sich aus ein- zelnen „Biophoren“ auf, welche einzelne Charaktere der künftigen Zellen bestimmen, und die Biophoren bestehen aus Molekülen und Atomen. Bei den Zelltheilungen während der individuellen Ent- wickelung finden ungleiche Kerntheilungen statt, wodurch die Differenzirung in die verschiedenen Zellarten und Ge- webe des Körpers ermöglicht wird. Die Art der Zu- sammensetzung des Keimplasmas (Keimstoffs) bedingt die körperliche und geistige Organisation des entstehenden Individuums. Im Keimplasma ist ein bestimmter Aufbau der Bestandtheile, eine Architektur, anzunehmen, wodurch zu Stande kommt, dass bei der Entwickelung des Indivi- duums jede Zelle oder Zellgruppe an den richtigen Platz im Organismus zu liegen kommt. Mit der Befruchtung des Eies ist somit die ganze Individualität des Kindes be- stimmt. Gegen diese Determinantenlehre und die ähnliche Mo- saiktheorie von Roux hat sich in jüngster Zeit Oscar Hertwig Hertwig, O. Zeit- und Streitfragen der Biologie. Heft 1. Prae- formation oder Epigenese? Jena 1894. gewandt, um einen mehr epigenetischen Stand- punkt zu betonen. Seine Geltendmachung einer stets erb- gleichen Theilung der Zellkerne als Thatsache scheint mir noch nicht berechtigt in Anbetracht unserer für so enorm delikate Untersuchungs-Objecte wie Kernstäbchen noch sehr rohen Methoden. Seine andere, speciell epigenetische Argumentation, die den äusseren Ursachen, die er fort- während von Etappe zu Etappe innere werden lässt, einen viel grösseren Einfluss zuschreibt wie Weismann und Roux, hat nur dann Sinn, wenn er die Complication der befruch- teten Eizelle als geringer ansetzt als die des fertigen Orga- nismus. Das nimmt nun zwar Hertwig auch ganz aus- drücklich zur Basis seiner Herleitung, allein durch die Acceptirung von Naegeli’s Satz, (S. 131) dass das Ei des Huhns vom Ei des Frosches ebenso weit verschieden sei als das Huhn vom Frosch, möchte es für Einige scheinen, als wenn er wieder Concessionen machte. Denn, wenn man die Eier irgend einer Art als einfacher annimmt als die fertigen Individuen derselben Art, so sollte doch daraus folgen, dass die Eier verschiedener Arten nicht ebenso weit von einander verschieden sein können als die fertigen Individuen von einander. Wir wollen desshalb die in Betracht kommenden principiellen Verhältnisse noch etwas näher erläutern. Weismann geht davon aus, dass trotz allerlei verschie- dener äusserer Einflüsse doch ein zäher Gang zu ziemlich gleicher Organisation während der Entwickelung von Kindern statthat, und dass ferner oft die minimsten elterlichen Eigenthümlichkeiten, die nur an wenige Zellen gebunden sind, vererbt werden. Daraus schliesst er, sie müssten bereits im Ei stofflich vorgebildet sein, und nimmt desshalb im Ei eine dem Elter entsprechend grosse Compli- cation an. Diese Annahme ist aber rein theoretisch nicht not- wendig. Zwar ist richtig, dass irgend einer entstandenen Complication eine vorhergehende gleich grosse Compli- cation entspricht, wenn man das ganze Riesengewebe des Ursachencomplexes in Betracht zieht.Ganz genau genommen ist bei Vergleichung von zwei zeitlich getrennten Complicationen jedesmal der Zusammenhang mit dem ge- sammten Weltprocess nöthig, da ja jede Kraft fortwährend unter dem Gesammteinfluss der Welt steht. Wir müssen hier jedoch relativ mög- liche Vergleiche machen. Wir haben zwei zeitlich verschiedene Complexe von Kräften zu ver- gleichen. Das müssen wir auch auf den Fall: Ei und daraus entstandenes Individuum anwenden. In Wirklichkeit haben wir also gegenüberzustellen den zusammengesetzten Functionencomplex des fertigen Individuums und den ganzen Complex von Kräften, aus dem er hervorgegangen ist. Dieser letztere besteht aber nur z. Th. aus den Kräften, die an das befruchtete Ei gebunden sind. Der andere Theil wird von dem ganzen complicirten Complex der Um- gebungskräfte gebildet. Nun ist es durchaus nicht noth- wendig, dass bei den beiden Kräftecomplexen der Antheil der zu einem lebendigen Individuum centrirten Kräfte gleich ist. Nur die Gesammtsumme muss gleich sein. Das eine Mal, beim Ei, kann der Kräftecomplex, der zum Lebe- wesen gehört, von dem gesammten Ausgangscomplex der Entwickelung nur einen kleinen Theil ausmachen, kann also weniger complicirt sein, als das spätere Mal beim Individuum, wo ein grösserer Theil äusserer Kräfte in das wachsende Wesen als innere Anlage eingegangen ist. Man könnte sich also ganz gut bei einer einfacheren Zusammensetzung des Eies beruhigen und der Epigenese einen bedeutend weiteren Spielraum einräumen als Weis- mann es thut. An einem Gleichniss wollen wir uns das Verhältniss noch etwas anschaulicher machen: Wir haben einen mit Schnee bedeckten Berg, dessen einer Abhang nur Felsen mit Flechten und Moos, dessen anderer Abhang dagegen weiter thalwärts mit Moos, Knieholz und Nadelholz bestanden ist. Die Spitze des Berges ist kegelförmig, etwas weiter unten erhebt sich zwischen den beiden beschrie- benen Abhängen ein scharfer Grat. Grade da, wo der Grat aus dem kegelförmigen Theil entspringt, liegt ein Stein so vor dem bewaldeten Abhang, dass er eine schief nach aussen und abwärts gehende Fläche dem kahlen Abhang zukehrt. Oben an der Bergspitze löst sich nun eine kleine Schnee- masse ab und rollt, sich vergrössernd zu einem kleinen Ball, hinunter bis zu dem Stein. Zu schwach, über den Stein hinüberzurollen, wird der Schneeball von der schiefen Fläche des Steins so abgelenkt, dass er nach dem kahlen Abhang zu weiter hinabrollt, um unten als Lawine aus Schnee, Felsgeröll und niederen Pflanzen anzukommen. Das befruchtete Ei gleicht der in’s Rollen kommenden Schneemasse, das entstandene Individuum der zu Thal gegangenen Lawine. Eine dem Individuum gleiche Com- plication des befruchteten Eies braucht man ebenso wenig anzunehmen — ehe sie nicht durch zwingende Schlüsse auf Grund von gesicherten Beobachtungen bewiesen wird — als eine derjenigen der Lawine gleiche Complication in der sich ablösenden Schneemasse. In Wirklichkeit hatte es natürlich sehr complicirte Ursachen, dass sich eine Schnee- masse ablöste, grade in der bestimmten Grösse, von der bestimmten Dichtigkeit, von der bestimmten Entfernung unter dem Gipfel, von der bestimmten Richtung etc. Nur die grob sinnliche Concentrirung einiger dieser ursächlichen Momente in der Schneemasse bringt uns zur Gegenüber- stellung mit der Lawine. Wir können dies Bild noch weiter brauchen, um an- schaulich zu machen, wie die befruchteten Eier sehr ver- schiedener. Arten lange nicht so verschieden zu sein brauchen, als die ausgewachsenen Individuen es sind. Nehmen wir an, die ursprüngliche Schneemasse, die in’s Rollen kam, wäre grösser gewesen, so dass der Ball, der bis zum Stein entstanden war, auch ein gut Theil grösser geworden wäre und Kraft genug gehabt hätte, über den Stein hinwegzurollen. Dann wäre die Schneemasse nach dem bewaldeten Abhang zu gerollt, hätte als wachsende Lawine nicht nur Schnee und Felsgeröll, sondern auch Moose, Knieholz, Fichten, allerlei andere Pflanzen und Thiere, vielleicht Häuser und Menschen mit sich zu Thal geschmettert. Ihre Zusammensetzung wird eine ganz an- dere, sehr viel complicirtere sein, als die der ersten La- wine. Die ersten Keime waren anscheinend so ähnlich, nur quantitativ verschiedene Schneemassen. Wir könnten sogar die beiden ersten Schneemassen ganz gleich an- nehmen, und uns denken, dass kurz vor dem Prellstein ein Windstoss den rollenden Ball dem bewaldeten Abhang zutriebe, so dass er trotz der gleichen Grösse diesmal einen anderen Weg nähme als der erste. Damit wäre veranschaulicht, dass sehr verschiedene, grob sinnlich be- grenzte Endmassen sogar aus gleichen Anfangsmassen ent- stehen können, wenn nur die äusseren Einwirkungen ver- schieden werden. Dies würde nur noch mehr zeigen, dass wir an und für sich durch starke Verschiedenheit der Individuen zweier Arten noch nicht gezwungen sind, den gleichen Grad der Verschiedenheit bei den befruchteten Eiern anzunehmen, aus denen sie entstehen. Selbstverständlich will ich damit nicht sagen, dass die Epigenese bei der Entwickelung des Individuums alles und die Evolution nichts zu thun hätte. Die Eier haben unzweifelhaft bereits eine ausserordent- lich complicirte Zusammensetzung, und es handelt sich nur um die Frage, wieviel beiden Factoren zuzuschreiben ist, und ob durch zwingende Schlüsse die Epigenese auf einen so völlig unbedeutenden Antheil beschränkt werden muss, wie Weismann es zu Gunsten seiner Hypothese thut. Wir wollen durch diese Betrachtung nur verhindern, dass wir ohne Weiteres, ehe es wirklich durch logische Schlüsse aus einwandsfreien Thatsachen nöthig ist, den Glauben daran verlieren und dadurch die Forscher-Arbeit in der Richtung einstellen, dass wir die individuelle Ent- wickelung besonders in ihren ersten Stadien auch in ihren Anlagen beeinflussen lernen, was nicht nur für die Entfaltung des einzelnen Individuums, sondern auch für die Weiterentwickelung der Gattung von grossem Werth wäre, im Fall sich die Vererbung erworbener Eigenschaf- ten als möglich erweist. Andrerseits muss auch wieder betont werden, dass uns die denkbare Möglichkeit sowohl der stärkeren Beein- flussung der Anlagen des werdenden Organismus in den ersten Stadien der Entwickelung, als auch der Vererbung er- worbener Eigenschaften noch nicht dazu veranlassen darf, diese beiden Momente zu Gunsten einer grösseren Macht- entfaltung der Rassenhygiene in die Reihe der Entwicke- lungsfactoren aufzunehmen. Ich werde in den späteren Erörterungen die beiden Momente daher nicht berück- sichtigen. Variation. Variation Vergleiche über Variation ausser den bereits früher zum Studium der Vererbung empfohlenen Schriften: Ammon O. Die natürliche Auslese beim Menschen. Jena 1893. — Brooks, W. K. The Law of Heredity. Baltimore 1883. — Darwin, Ch. Entstehung der Arten VI. Stuttgart 1876, besond. Cap. I, II, V. — Eimer, G. H. Die Entstehung der Arten. I. Theil. Jena 1888. — Häckel, E. Natür- liche Schöpfungsgeschichte. VII. Aufl. Berlin 1879. IX und X. Vor- trag. — Hauptmann, K. a. a. O. Fünfter Theil. — Lucas, Prosper. Traité philosophique et physiologique de l’hérédité naturelle. Paris 1850. — Wallace, A. R. Der Darwinismus. Braunschweig 1891. bes. Cap. III. u. IV. — Wiedersheim, R. Der Bau des Menschen als Zeugniss für seine Vergangenheit. Freiburg 1887. — Ziegler, Ernst a. a. O. S. 34 bis Schluss. bedeutet im Allgemeinen nichts weiter als das Abändern eines Organismus von anderen Organis- men. Die Fähigkeit dazu nennt man Variabilität oder Veränderlichkeit. Dieses Abändern kann sowohl auf die Eltern eines Individuums bezogen werden, als auf die gleichzeitig vorhandenen gleichaltrigen Individuen der Art, der es angehört, als auf den sich aus längeren Zeiträumen ergebenden Durchschnitts-Typus der Art. Man versteht unter dem Wort Variation nicht nur den Vorgang des Abänderns, sondern auch sein Resultat, die hervorge- brachten Unterschiede selbst, ja schliesslich auch die ganzen Organismen, die die Träger dieser Unterschiede sind. Für unsere Betrachtungen ist es zweckmässig, wenigstens eine kleine Spezialisirung vorzunehmen. Wir wollen das Wort Variation beschränken auf den Vorgang des Abänderns und auf den hervorgebrachten Unterschied. Die Träger der Variationen wollen wir mit zwei Namen belegen, nämlich Convarianten, sobald das Abändern auf die gleichzeitig lebenden Altersgenossen der betreffenden Art bezogen wird, und Devarianten, sobald es auf die Eltern des variirenden Individuums oder Mit- glieder vergangener Generationen sonst bezogen wird. Diese beiden Worte scheinen etwas willkürlich gewählt, aber man kann dem Gedächtniss dadurch zu Hilfe kommen dass man sich denkt, dass beim Vergleich mit den Eltern und älteren Generationen das eine Glied des Vergleiches von den anderen herstammt, dass dagegen beim Vergleich der verschiedenen Individuen mit den gleichzeitig lebenden alle Glieder zusammen der Gegenwart angehören. con = zusammen, de = von — her. Man muss unter den Variationen auseinander halten solche, die sich auf dauernde Anlagen, also auf den Be- stand und die Beschaffenheit der Regulationsvorrichtungen beziehen und solche, die nur die Folgen der Thätigkeit dieser Mechanismen sind. Wenn ein ganz normaler Mensch durch Mästung fett wird, so ist das Resultat keine Variation von Anlagen. Wenn dagegen ein Mensch bei demselben Verfahren mager, ein anderer bei magerer Diät fett bleibt, so beruht dies auf dem Complex ihrer Anlagen. Nur die Variationen von Anlagen sind echte Variationen und von solchen allein wird fernerhin die Rede sein. Leider ist die Grenze oft schwer zu ziehen. Die Ursachen der Variation liegen natürlich zu guter Letzt in äusseren Einwirkungen. Es können die folgenden Fälle stattfinden. Die Keimstoffe jedes der Eltern können, von ihrem Zustand in der elterlichen Furchungszelle an, als der Elter erst ein befruchtetes Ei war, bis zum Moment der Abstossung aus dem elterlichen Organismus bei der Begattung, irgend welche indirecten Einwirkungen der Aussenwelt durch das Mittel des Elterkörpers hindurch erfahren, da ja die Keimstoffe durch den Stoffwechsel des Elters sicher mit beeinflusst werden. Beispiele für diesen Fall sind das häufige Kleinbleiben bei den Kindern der Säufer und Quecksilberarbeiter. Hierher gehören auch geänderte Ernährungs- und allerlei Krankheits-Einflüsse, ebenso die der Uebung und Nichtübung von Organen, wenn sich dieselben nicht in der Weise der Vererbung geltend machen. Veränderung speciell des Klimas und der son- stigen directen Umgebung haben ebenfalls einen starken Einfluss, was man aus der Thatsache schliessen kann, dass sie manchmal die Keimstoffe sogar völlig unfähig zur Be- fruchtung machen. Ein Beispiel hierfür bieten manche wilden Thiere in unseren zoologischen Gärten, die sich zwar häufig noch begatten, aber nicht mehr oder erst nach längeren Zeiträumen wieder befruchten, und zwar wird dies nicht bloss bei Säugethieren beobachtet, wie sehr oft bei Elefanten, Bären und Affen, wo immer noch eine verän- derte Gebärmutter eine Rolle spielen könnte, sondern auch bei Vögeln, z. B. bei Raubvögeln, ebenso bei wilden Pflanzen, die in Gartenzucht kommen. Eine zweite Ursache von Variation liegt in dem Ein- fluss der äusseren Umgebung von der Zeit der Ausstossung der Keimstoffe aus dem elterlichen Körper an bis zum Zusammentritt des Samenfadens und des Eies. Sehr leicht sieht man diese Möglichkeit ein z. B. bei Pflanzen, wo der Pollen von einer Blüthe zur andern durch die Luft oder durch Insecten getragen wird, und bei vielen Thieren, wo die Keimzellen zuerst in’s Wasser entleert werden, ehe sie sich treffen. Auch beim Menschen ist eine Beeinflussung dieserart denkbar, selbst wenn der Samen direct in die Gebärmutter aufgenommen wird, be- sonders aber, wenn er in der Scheide eine Zeitlang ver- harrt, oder wenn er gar nur an den Scheideneingang ent- leert wird, ein Fall, in dem erwiesenermassen, wenn auch sehr selten, doch noch eine Befruchtung stattfinden kann. Die beiden besprochenen Quellen von Variationen geben Anlass, ein paar Worte über Keimauslese einzufügen. 3 Betrachten wir einen Tropfen verdünnten Samens unter dem Mikroskop, so sehen wir, wie sich die meisten Samen- fäden lebhaft schlängelnd hin- und herbewegen, einige sehr rasch, andere, denen noch Klümpchen von Protoplasma anhängen, schwerfällig, manche bleiben ruhig oder fangen später auch an, sich zu bewegen. Allmählich hört das Herumfahren bei mehr und mehr Samenfäden auf, aber einige wenige halten sehr lange aus und pendeln noch hin und her, wenn alles herum schon regungslos ist. Ausser- dem sehen wir aber auch noch Formunterschiede; die Länge der Köpfe schwankt von 0,003—0,005, die Breite von 0,0018—0,0033 mm; einige Exemplare sind missge- staltet, stark lichtbrechende Klümpchen erscheinen hier und da, die augenscheinlich z. Th. zurückgebliebene oder ge- schädigte Spermatozoenköpfe sind, wie man sie bei gewissen Hodenaffectionen häufig sieht. Diese Unterschiede können irgendwo an der Bildungsstätte im Hoden Bei Anfertigung meiner Arbeit über den Froschhoden hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, dass die Spermatozoen-Köpfe der am Ueber- gang in die Vasa deferentia gelegenen Bündel manchmal kürzer waren als die der mehr nach dem Innern zu gelegenen Bündel. als auch auf dem Wege durch die Samenleiter, Samenblasen und Harn- röhre erworben werden. Jedenfalls ist anzunehmen, dass diese Unterschiede der Spermatozoen (Samenfäden, Samenthierchen) oft eine Be- deutung für die Befruchtung haben. Bei der Begattung wird der Same, der viele Millionen Samenfäden enthält, in die weibliche Scheide ergossen, z. Th. direct an den Mutter- mund, und seine Samenthierchen müssen nun in die Gebär- mutter und oft noch weiter bis in die Tuben (Eileiter) und nahe an den Eierstock hinaufdringen. Bei diesem Wett- rennen der Samenthierchen werden die am ehesten siegen, die sich gegen die schädlichen Scheiden-Absonderungen und eventuell (bei Krankheiten) schädlichen Gebärmutter- und Tubensecrete am besten erhalten, und welche die grösste Bewegungskraft entwickeln können, um an dem verhältnissmässig fernen Ziel zuerst anzulangen. Diejenigen Samenfäden, die zuerst in der Nähe des befruchtungsfähigen Eies angelangt sind, unterliegen auch wieder einer Auslese, da sie nun durch die sexuelle Affinität Vgl. Hertwig, O. Die Zelle und die Gewebe. Jena 1892 S. 240. sehr energisch angezogen werden, und da nur ein Samenfaden normaler Weise in das Ei eindringen kann. Eine ähnliche Auslese wie unter den Samenfäden findet auch unter den Eiern statt. Der menschliche Eierstock enthält viele Tausende Eier, von denen zeitweilig nur eines oder einige frei werden. Schon hier ist die Möglichkeit einer Auslese. Eine fernere Möglichkeit wird dadurch ge- geben, dass ausser dem grade abgestossenen Ei noch ältere Eier in dem Genitalschlauch liegen können, die nun darum concurriren, den Sieger in dem Wettlauf der Samen- thierchen zuerst zu empfangen. Was wir von thierischen Eiern wissen, macht es so gut wie gewiss, dass ältere Eier nicht mehr so kräftig sind, also höchst wahrscheinlich auch nicht mehr eine so ener- gische Affinität auf den herankommenden Samenfaden aus- üben. Angenommen, derselbe wäre von beiden Eiern nur wenig verschieden entfernt, so würde das jüngere stärkere Ei das Samenthierchen dem älteren Ei so zu sagen vor der Nase wegfischen. Sind zwei oder mehrere Eier gleichzeitig befruchtet worden, so ist auch hier immer noch die Möglichkeit vor- handen, dass eine Auslese eintritt in Bezug auf die Fähig- keit, sich in die Gebärmutterwand einzubetten; bei befruch- teten älteren Eiern wird das wohl manchmal nicht eintreten. Dies sowie der spätere Kampf zweier angesiedelter und in der Fortentwickelung begriffener Eier, oder vielmehr Früchte, um die beste Ernährung durch die Mutter, wobei 3* oft genug die eine Frucht umkommt, gehört bereits in das Gebiet des eigentlichen Kampfes um’s Dasein der Individuen. Eine beträchtliche Quelle von Variationen entspringt ferner aus der Vereinigung der beiden Keimstoffe bei der Befruchtung. Es ist durchaus ungerechtfertigt, anzunehmen, dass durch die sexuelle Verschmelzung der beiden Keim- plasmata immer ein Wesen entstehen müsste, dass in seinen Anlagen genau die Mitte zwischen den Eltern hält. Es können sich Mischungen ergeben, die einzelne Anlagen abschwächen oder zerstören, andere dagegen verstärken. Das stärkere Aehneln der Kinder das eine Mal mehr nach dem Vater, das andere Mal mehr nach der Mutter, spricht dafür. Ja, es kommt vor, dass bei Mischung sonst ganz normaler Keimstoffe die Lebensmöglichkeit direct zerstört wird. Hierfür spricht folgende Thatsache: Zwei gesunde Gatten bleiben ohne ihr Verschulden unfruchtbar, sie gehen auseinander und verheirathen sich auf’s Neue mit je einem anderen Individuum; beide ursprüngliche Gatten bekommen nun Kinder. Die Untersuchung erweist dabei normalen Bau der Genitalien. Wenn so starke Aenderungen durch die Mischung der Keimstoffe entstehen können, so haben wir genügenden Grund, anzunehmen, dass dabei auch ge- ringere Aenderungen bis herab zu den kleinsten eintreten können. Eine letzte Abtheilung von Variationen entsteht aus den Einwirkungen der Umgebung auf das befruchtete Ei und alle späteren Stadien des neugebildeten Individuums bis zum Ende seiner Gattungsfunctionen. Diese Ab- theilung zerfällt wieder in Abschnitte, die nach Art der Einflüsse und Grad der Beeinflussbarkeit des Körpers verschieden sind: Einflüsse während des Aufenthalts in der Gebärmutter, während der Säugungsperiode, der Zeit bis zur Pubertät, der Zeit bis zur Vollreife und der Periode der Reife selbst. Die Art der Ernährung und Ver- giftung von Mutter und Kind (Armuth, Alkohol), allerlei Krankheitseinflüsse, Uebung und Nichtübung von Organen und vieles Andere kann hierbei eine Rolle spielen. Schwierig ist die Unterscheidung der verschiedenen Variationen je nach ihrem Ursprung. Besonders die nach Vollendung der Befruchtung bewirkten Variationen sind speciell beim Menschen wegen der weit verbreiteten Mono- gamie oft nicht von denen vor und bei der Befruchtung bewirkten zu unterscheiden. Nur z. B. in dem Fall, wo ein Vater je ein Kind von zwei Frauen hat und jedes Kind dieselbe ganz charakteristische Eigenthümlichkeit aufweist, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass die betr. Eigen- schaft auf Keimvariation beruht. Diese Wahrscheinlichkeit wird fast Gewissheit, wenn beide Frauen schon früher von anderen Gatten Kinder ohne diese Eigenschaft hatten. Weismann hat die Keimesvariationen principiell von den späteren Variationen trennen wollen, weil seine Hypothese es verlangte, dass nur Keimesvariationen erblich seien, die späteren, identisch mit seinen „erworbenen Eigenschaften“, jedoch nicht. Nur Abänderungen aus den Keimen und ihrerVermischung sollten überhaupt„Variationen“ heissen. Wie wir schon sahen, ist dies jedoch noch kein nothwendiges theoretisches Erforderniss, desshalb müssen wir in weiterem Anbetracht der häufigen Unmöglichkeit der Entstehung einer Variation nachzuspüren, alle Ver- änderungen von Anlagen als Variationen bezeichnen, um so mehr, als ja die Nichtvererbung erworbener Eigenschaften durchaus kein gesichertes Gesetz ist. Noch einige specielle Arten von Variationen sollen hier erwähnt werden. Der Rückschlag oder Atavismus ist eine Variation, die bei den betreffenden Individuen Eigenschaften der Grosseltern, Urgrosseltern und noch weiter, oft viele Tausende von Generationen entfernter As- cendenten wiederholt, wobei es sich wohl meistens um den Fortfall später vom Keim erworbener hemmender Anlagen handelt. Auch ein Theil der „latenten Vererbung“ kommt nur durch eine Variation zu Stande, die die betreffende Anlage an ihrem Auftreten verhindert. Welche besonderen Ursachen jede einzelne Abänderung in Wirklichkeit hat, ist nur in wenigen Fällen bekannt, wie denn überhaupt die ganze Lehre der Variabilität noch sehr in Dunkel gehüllt ist. Die Grenzen der Variabilität sind sehr weit gezogen. Von der krassesten Monstrosität bis zu den kleinsten indi- viduellen Abänderungen giebt es alle Uebergänge. Wallace bestimmte nach vielfachen Messungen an verschiedenen Organen, dass die Variationen in der Grösse vieler Organe bis zu 10 %, ja 20 % des Mittelwerths nach oben und unten schwanken können. Dabei zeigt sich, dass jedes Organ und jede Zellgruppe variiren kann und zwar bis zu einem bestimmten Grade unabhängig von den übrigen Be- standtheilen des Körpers. Häufig allerdings kommt es vor, dass, wenn eine bestimmte Abänderung auftritt, eine be- stimmte andere mit auftritt. Man spricht dann von Correlation der Theile und correlativer Variation. Ein Beispiel hierfür bilden die secundären Geschlechtscharaktere, wie die tiefe Stimme und der Bart beim Mann, die fast stets fehlen, wenn die Hoden nicht entwickelt sind. Die Sommersprossen der Rothhaarigen und die Taubheit der blauäugigen Katzen gehören auch hierher. Was die Häufigkeit des Variirens anlangt, so giebt es in einer Art nicht zwei Individuen, die sich ganz gleich sind. Bei den Menschen ist dies allbekannt. Auch sehr ähnliche Zwillinge und sog. Doppelgänger weisen bei ge- nauem Hinsehen stets Verschiedenheiten auf. Das sind die sog. individuellen Verschiedenheiten Darwin’s. Doch auch stärkere Variationen sind häufig genug. Wallace fand sehr beträchtliche Variations-Grade bei 5—10 % der unter- suchten Individuen vor. Wallace, A. R. Der Darwinismus. Cap. III. S. 117. Die Bedingungen, welche das häufige Auftreten von Variationen bei einer Rasse begün- stigen, sind hauptsächlich drei: Starke Individuenzahl der Art, Verbreitung über ein weites Gebiet mit verschieden- artigen äusseren Einflüssen und Kreuzung mit verschiede- nen, aber doch nahe verwandten Rassen. Wallace, a. a. O. Seite 143. Die Vererbbarkeit der Variationen ist sehr verschieden; manche werden gar nicht vererbt — wie wir schon sahen, behaupten Weismann und seine Anhänger das von allen noch nach der Keimvereinigung bewirkten Abänderungen — andere werden mit grosser Constanz vererbt. Im Grossen und Ganzen steht fest, dass, je länger und öfter eine Eigenschaft im Lauf der Generationen vererbt wurde, ihr Wiedererscheinen desto sicherer, und vor je kürzerer Zeit sie aufgetreten, desto unsicherer ist. Kürzlich aufge- tretene, sehr beträchtliche Variationen schwanken in der Vererbung ihrer Beschaffenheit und ihres Grades relativ sehr beträchtlich. Ehe wir die Variabilität verlassen, noch eine kurze Bemerkung über das Entstehen neuer Qualitäten aus quan- titativen Abänderungen der alten Eigenschaften. Der Gang wissenschaftlicher Erkenntniss bewegt sich fortwährend in der Richtung, Qualitäten in Quantitäten aufzulösen. Man hofft durch die bisherigen glänzenden Erfolge, dass es gelingen wird, in Zukunft alle die vielen Qualitäten so in Quanti- täten aufzulösen, dass nur einige wenige Grundquali- täten übrig bleiben würden. Als Beispiel, wie es gelungen, frühere sinnfällige Qualitäten in objective Quantitäten auf- zulösen, seien die Farben erwähnt, wo die einfache Zu- nahme der Aetherschwingungen die ganze Scala von Roth durch alle Regenbogenfarben bis Violett entstehen lässt. Die Einheit und dadurch mögliche quantitative Messbarkeit aller Energieformen, mechanische Bewegung, Wärme, Licht, Elektrizität, chemische Energie ist die gesicherte Errungen- schaft unseres Jahrhunderts. Die Auflösung der Verschie- denheit der Zucker- und Stärkearten in Zahlen-Unterschiede zusammentretender gleicher Moleküle ist ein Beispiel aus der Chemie. Da die Organe der Lebewesen ja auch nichts weiter als chemisch-physikalische Functionsapparate sind, so müssen wir es als principiell richtig anerkennen, dass aus ihren objectiv quantitativen Abwandlungen für uns sinn- fällige Qualitäten entstehen können. Dies zum Verständniss, wie auch aus Häufung von nur dem Grade oder der Menge nach verschiedenen Eigen- schaften uns als gänzlich neugeartet erscheinende Eigen- schaften hervorgehen können, wie also trotz Beobachtung von überwiegend nur quantitativen Variationen doch eine theoretische Verständnissschwierigkeit für die Entwickelung aller der vielen Qualitäten der Lebewelt nicht vorliegt, die Schwierigkeit liegt einfach in unseren mangelhaften Unter- suchungsmethoden. Wie man leicht ersieht, ist die Variabilität der posi- tive Eckpfeiler jeder Entwickelungstheorie. Hier liegt noch der ganze Rest des Geheimnisses der Entwickelung als un- gehobener Schatz. Hier haben wir sowohl für Ent- wickelung als auch für Rückentwickelung die eigentliche Triebkraft vor uns, die der Vererbung und dem dritten Factor, den wir noch zu betrachten haben, dem Kampf um’s Dasein überhaupt erst das Material liefert. Der Kampf um’s Dasein. Vgl. Ammon, O. Die natürliche Auslese beim Menschen. Jena, 1893. — Darwin, Ch. Ueber die Entstehung der Arten durch na- türliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Deutsch von Carus. VI. Aufl. Stuttgart 1876. Was geschieht mit den vielen von früher her vererbten und frisch erzeugten Variationen? Die Besitzer derselben werden durch das fortdauernde Missverhältniss ihrer Zahl zu den Lebensbedingungen der Umgebung zum Kampf unter einander und mit der übrigen Natur gedrängt. Selbst- verständlich siegen hierbei die Besitzer vortheilhafter Varia- tionen im Grossen und Ganzen über die schlechter Va- riationen, so dass diese nicht so oft zur Vermehrung kom- men, wodurch, wie wir schon früher ausführten, die fort- schreitende Anpassung der Wesen an ihre Umgebung mit- erklärt wird. „Ein Kampf um’s Dasein tritt unvermeidlich ein in Folge des starken Verhältnisses, in welchem sich alle Or- ganismen zu vermehren streben. Jedes Wesen, welches während seiner natürlichen Lebenszeit mehrere Eier oder Samen hervorbringt, muss während einer Periode seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit oder gelegent- lich einmal in einem Jahre eine Zerstörung erfahren, sonst würde seine Zahl in Folge der geometrischen Zunahme rasch zu so ausserordentlicher Grösse anwachsen, dass keine Gegend das Erzeugte zu ernähren im Stande wäre. Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muss in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art, oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äusseren Lebensbe- dingungen. Es ist die Lehre von Malthus in verstärkter Kraft auf das gesammte Thier- und Pflanzenreich über- tragen, denn in diesem Falle ist keine künstliche Ver- mehrung der Nahrungsmittel und keine vorsichtige Enthal- tung vom Heirathen möglich .... Selbst der Mensch, welcher sich doch nur langsam vermehrt, verdoppelt seine — Haeckel, E. Natürliche Schöpfungsgeschichte. VII. Aufl. Berlin 1879. — Hauptmann, K. a. a. O. Theil V. — Lange, Fr. Alb. Die Arbeiterfrage. VI. Aufl. Cap. I u. II. Winterthur 1876. — Mal- thus, Th. R. Versuch über das Bevölkerungsgesetz. Deutsch von Stöpel. Berlin 1879. — Wallace, A. R. Contributions to the theory of natural selection. II. Aufl. London 1871 und: Der Darwinismus. Deutsch von Brauns. Braunschweig 1891. — Weismann, Aug. Die Allmacht der Naturzüchtung. Jena 1893. Anzahl in 25 Jahren, und bei so fortschreitender Verviel- fältigung würde die Welt schon in weniger als tausend Jahren buchstäblich keinen Raum mehr für seine Nach- kommenschaft haben.“ Darwin, Ch. Entstehung der Arten. S. 85. Die Bevölkerung des deutschen Reichs hat sich in den letzten 75 Jahren verdoppelt. Angenommen, es könnte diese Rate auch weiterhin bestehen, so würden nach 1200 Jahren über 3 Billionen Menschen auf dem deutschen Gebiet wohnen, d. h. etwa 5 auf 1 qm, sie könnten also neben ein- ander gestellt, den gesammten Boden vollkommen bedecken. Da in früheren Jahrhunderten die Geburtsziffer kaum nied- riger war als jetzt, so lässt das einen Schluss auf die enorme Zahl von Menschen zu, die im Kampf um ihre Lebens- und Fortpflanzungsbedingungen untergegangen sind. Man hat oft im Anschluss an Marx geltend gemacht, dass die Menschen ein anderes Bevölkerungsgesetz hätten als Pflanzen und Thiere. Friedrich Albert Lange hat, neben Anderen, dies treffend widerlegt. Ich verweise auf das fünfte Capitel seiner Arbeiterfrage. (S. 212 u. ff.) Es findet bei den civilisirten Menschen eben keine directe Concurrenz um die Lebensbedingungen statt, sondern eine indirecte in der Form der Bewerbung um oekonomische Nährstellen. Dies ist aber nur eine Art des später er- wähnten und auch unter Thieren heimischen Socialkampfes. Da wo sich die verfügbaren Nährstellen vermindern, so bei Einführung von arbeitsparenden Maschinen, bei Krisen etc., findet doch ein Kampf um’s Dasein unter denen statt, die in ihren Nährstellen bleiben wollen, wobei auch im Grossen und Ganzen die Passendsten siegen. Zum weiteren Verständniss des Kampfes um’s Dasein und seiner Folge, der Auslese, d. h. dem Überleben nur eines Theils der erzeugten Keime und zwar der passend- sten, müssen wir etwas näher auf das Verhältniss der Lebe- wesen zu ihrer Umgebung eingehen. Jeder Organismus ist Einwirkungen von Seiten der Aussenwelt unterworfen, denen gegenüber er sich entweder erhält oder nicht. Er erhält sich dann, wenn durch die äusseren Einwirkungen Änderungen in ihm hervorgerufen werden, die die Störung ausgleichen, oder mit einem andern Wort, in ihm sind Regulations- oder Erhaltungs-Mechanis- men thätig. Sobald die äusseren Einwirkungen nicht mehr in die Regulationsbreite fallen, wird der Orga- nismus geschädigt, eventuell bis zur Vernichtung. Hauptmann. K. a. a. O. S. 345—361. Die Summe und Breite aller dieser Regulations- oder Er- haltungsmechanismen eines Organismus nennen wir seine Erhaltungskraft. Der Fortpflanzungsprocess, einschliesslich der Brut- pflege, ist ebenfalls, betrachtet im Verhältniss zur Aussen- welt, eine Summe von Regulationen, die zusammen die Fortpflanzungskraft des Individuums ausmachen. Beide zusammen, Erhaltungs- und Fortpflanzungskraft werden wir schlechtweg seine Constitutionskraft nennen. Die Einwirkungen der Aussenwelt, soweit sie sich auf ein Individuum beziehen, will ich in directe Aussen- oder Extralwirkungen sit venia verbo. und interindividuelle oder Social- wirkungen theilen, je nachdem sie directe Wirkungen der äusseren Natur sind, oder mittelbare, durch die anderen Art- oder Rassenindividuen hindurchgehende. Ein Blitz- schlag z. B., der einen Spaziergänger ereilt, ist eine Extral- wirkung; gesprochene Worte oder der Lichtmangel in einer Kellerwohnung, die eine durch eine Handelskrise verarmte Familie innehat, sind Socialwirkungen. Die Extral- und Socialwirkungen, die noch in die Regulationsbreite fallen, also ausgeglichen werden, nennen wir Reize, diejenigen jedoch, die zu stark für die Regulationen sind und sie schädigen, anstatt sie einfach zur Thätigkeit zu reizen oder zu üben, nennen wir Schädlichkeiten. Die Reize zerfallen natürlich auch wieder in Extral- und Socialreize. Ein Extralreiz z. B. ist der Frost, der mir beim Schlittschuhlaufen die Füsse kalt macht, ein So- cialreiz die Ohrfeigen, die ein betrunkener Kutscher von Passanten bekommt, weil er sein Pferd misshandelt. Die Reize unterscheiden sich sonst noch in die für die Erhaltung nothwendigen normalen Lebensreize oder Lebensbedin- gungen und in die anormalen Reize, die den Körper nur gelegentlich treffen und durchaus nicht für seine Erhaltung nöthig sind, zu denen z. B. sehr starke Hitze- und Kältegrade, sowie für die meisten Individuen die leichten Infectionskrank- heiten, der Genuss kleiner Dosen Alkohol etc. gehören. Auch bei den Schädlichkeiten lassen sich wieder Extral- schädlichkeiten, wie z. B. Blitzschlag, Schlangenbiss, Sumpf- fieber, und durch andere Individuen vermittelte Socialschäd- lichkeiten auseinanderhalten, wie z. B.: Todtschlag, Ver- drängung von der nöthigen Nahrung, Ansteckung mit Syphilis und Ähnliches. Die Bedeutung dieser Beziehungen für den Artprocess, also auch für das Leben der Rassen, wird ersichtlich, wenn wir den Unterschied in der Reactionsfähigkeit der einzelnen Individuen betrachten, die eine Rasse zusammensetzen. Diese bieten zahlreiche Variationen in Bezug auf Güte und Menge ihrer Regulationsmechanismen dar, nicht nur in Bezug auf einen solchen Mechanismus, sondern auf viele zugleich. Da die Individuen keine blossen Haufen von Mechanismen sind, sondern ein centrirtes System derselben, so müssen wir nicht die einzelnen Variationen betrachten, sondern die Traeger ihrer systematischen Einordnung in einander, die Varianten. Die Convarianten derselben Altersklassen haben resul- tirend aus der Summe ihrer variirenden Regulationen natür- lich auch eine verschiedene Constitutionskraft, von der stärksten durch zahlreiche Uebergänge bis zur schwächsten. Für jede Convariante ist also das, was Reiz, und das, was Schädlichkeit ist, etwas Verschiedenes; was für eine Variante nur ein normaler Lebensreiz ist, kann für eine zweite schon ein anormaler Reiz, für eine dritte sogar direct schädlich sein. Nur bei den Schädlichkeiten können wir eine Reihe unterscheiden, die alle Convarianten, die zufällig Zufall im Sinne Lange’s gebraucht, vergl. F. A. Lange. Die Arbeitsfrage. S. 82 u. ff., besonders 84. davon betroffen werden, ausnahmslos in einem gewissen Grade gleich stark treffen. Ein mörderisches Erdbeben, ein Ziegelstein, der vom Dache fallend einen Vorbeige- henden tödtet, der Dolch des Meuchelmörders, der sich in seinem Opfer versieht, sind Schädlichkeiten, denen keine Constitutionskraft gewachsen ist. Es erhellt, dass diese zuletzt berührten Schädlichkeiten keine Auslese (Selections)-Function haben, da die Betroffenen nicht auf Grund irgend einer sie von den anderen Conva- rianten unterscheidenden Eigenschaft leiden; wir werden desshalb diese Insulte von den andern absondern unter dem Namen der nichtwählenden oder non-selectorischen Schädlichkeiten. Manche nonselectorischen Schädlichkeiten können selectorische sein, sobald es sich nicht um die Concurrenz der Individuen, sondern der Stämme oder noch grösserer Verbände unter einander handelt. Den Rest sämmtlicher anderen äusseren Einwirkungen, Reize und Schädlichkeiten, die eben einen Unterschied zwischen den Convarianten auf Grund ihrer Constitutionskraft machen, werden wir demzufolge die auswählenden, auslesenden oder selectorischen Wir- kungen nennen, die auch wieder Extral- und Socialwirkungen sein können. Aus ihrem Verhältniss zu den Convari- anten ergiebt sich der Kampf um’s Dasein, bestehend aus dem Extral- und Socialkampf. Wir heben zum zweiten Mal hervor, dass der Kampf um Dasein nicht blos die bewusste, sondern auch die unbewusste Reaction gegen die selectorischen Wirkungen einschliesst. Der Extralkampf umfasst das Verhalten der ein- zelnen Varianten gegenüber allen Factoren der äusseren Natur, die ganz direct auf sie wirken, ohne Vermittelung anderer Convarianten. Hierher gehören gewisse Mengen und Grade von Luft, Licht, Wärme, gewisse Krankheiten etc. Bei Thieren spielt der Extralkampf eine grosse Rolle. Von den Standvögeln eines Quartiers, erzählt Darwin, werden oft durch starke Winterkälte nur 20 % übrig gelassen. Ein Theil dieses Kampfes wird von ihm als extral angenom- men, der andere durch den Streit um das verminderte Futter als social. Darwin, Ch. Entstehung der Arten. S. 89 u. 90. Der Socialkampf umfasst das Verhalten der ein- zelnen Convarianten gegenüber den directen Wirkungen anderer Convarianten oder den durch ihr Verhalten be- dingten oder modificirten Wirkungen der äusseren Natur. Der Socialkampf spielt unter den Menschen desshalb eine so enorme Rolle, weil weitaus die meisten Menschen die verschiedenen Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht selbst herstellen, sondern im Austausch gegen nur wenige von ihnen producirte Waarengattungen erwerben, und weil selbst diese Production nur selten noch ein Einzel-, sondern meist ein durch Arbeitstheilung vielglie- driger socialer Process ist. Aus dem ganzen Socialkampf der Menschen lassen sich wieder einzelne Formen herausheben. Der Kampf um den tauglichen Gatten, die geschlechtliche Zucht- wahl (sexuelle Auslese) Darwin’s ist eine solche Form. Eine andere ist der oekonomische Kampf, der um die Erlangung von Gütern und Dienstleistungen gekämpft wird, die der Befriedigung der Lebensbedürfnisse dienen. Vgl. die Ausführungen F. A. Lange’s in seiner Arbeiterfrage. S. 89 u. ff. Wieder eine andere Form ist die des Kampfes gegen Krankheiten, der z. Th. übrigens extral ist. Diese drei Formen werden uns vor anderen später beschäftigen. Sie gehen selbstverständlich in einander über. So ist der Kampf um den Gatten oft ein theilweise oekono- mischer, ebenso der Kampf gegen Krankheiten. Kehren wir zu unseren Ausgangsbetrachtungen zurück. Der Kampf um’s Dasein wurde einmal geführt um die Selbst-Erhaltung, sodann um den tauglichen Gatten und schliesslich um die Erzeugung und Aufziehung von Kindern. Die Convarianten, welche sich in allen drei Phasen des Kampfes zugleich in dem oben definirten Sinne be- haupten können, wollen wir starke Convarianten nennen, die anderen schwache. Gemäss dieser Bestim- mung ist ein kräftiger, sonst gut veranlagter Mann, der aus Abneigung gegen das weibliche Geschlecht und gegen Kinder ohne Nachkommen bleibt, ebenso gut eine schwache Convariante wie ein herunter gekommener Syphilitiker, der ein Dutzend früh sterbender Kinder zeugt. Starke Convarianten sind also diejenigen, deren Er- haltungs- und Fortpflanzungskraft genügend gross ist, um sich bei durchschnittlichen selectorischen Einwirkungen nicht nur selbst zu behaupten, sondern auch um Nachkommen zu erzeugen und bis zur Selbständigkeit zu bringen, die mit ebenso ausreichender potentieller Constitutionskraft ausge- rüstet sind, Nachkommen, deren Zahl mindestens den An- theil an der Gesammtzahl der Rasse erreicht, den die Eltern von ihr ausmachten. Schwache Convarianten dagegen sind diejenigen, deren Eigen- und Gattungs-Regulationen nicht mehr ausreichen gegenüber den Störungen, welche die starken Convarianten noch nicht schädigen, und die desshalb den im vorigen Satz bezeichneten Erfolg nicht erreichen können, also im Kampf um einen besseren Antheil an der Rasse unterliegen. Ein Unterscheidungsmerkmal, allerdings nur für die Vergangenheit, ist demnach der Erfolg. Doch ist derselbe für eine Generation nur im Grossen und Ganzen zu ver- werthen, da einestheils starke Convarianten durch nonselec- torische Einflüsse zerstört werden können, andrerseits der Entartungsprozess schwacher Convarianten sich durch mehrere Generationen hinziehen kann. Durch einen Rück- blick, sagen wir einmal von heute auf die Zeit vor tausend Jahren, können wir uns den Begriff der starken Convarianten etwas anschaulicher machen. Dieselben würden vor tau- send Jahren einfach in den directen Vorfahren der noch jetzt lebenden Individuen bestehen, nur müssen noch die durch übermächtige Einflüsse beseitigten ebenso kräftigen Convarianten dazu gerechnet werden. Diese Vorfahren be- sassen eben diejenigen guten Eigenschaften, die das Fort- blühen ihrer nachkommenden Geschlechter bis in die Gegen- wart hinein bedingten. Die Unterscheidung starker und schwacher Convarianten vor dem Erfolg oder Misserfolg, also in allen Stadien vor vollendeter Pflege ihrer Kinder, ist schwer, oft unmöglich. Es müssten da alle möglichen Regulations-Apparate auf ihre Zahl und Stärke untersucht werden. Das ist in exacter Weise bei unserer mangelhaften Kenntniss der Regulationen einfach nicht durchführbar. Trotzdem ist eine grobe Un- terscheidung meist möglich. Der übermässig lange, dünne, magere flachbrüstige und kurzathmige Jüngling ist ganz sicher keine starke Convariante, ebenso wenig der hereditär Syphilitische, der stark belastete Psychopath, das scrofulöse Kind, das Weib mit kindlichen Geschlechtsorganen u. s. w. Andrerseits sieht man wahre Musterexemplare geistig und körperlich normal veranlagter Menschen, bei denen auch eine erfolgreiche Thätigkeit im Dienste der Gattung höchst wahrscheinlich ist. Also das erste und das letzte Drittel in der Stufen- leiter der starken und schwachen Convarianten könnten wir vielleicht schon abschätzen, nur nach der Mitte zu wird die Sache schwieriger. Da giebt es auch trotz der verdienst- vollen Untersuchungen der Militärärzte für das männliche Geschlecht und der Lebensversicherungsgesellschaften noch sehr viel zu arbeiten. In dem Vorhergehenden haben wir den Kampf um’s Dasein der Individuen einer Rasse betrachtet, d. h. von Zellstaaten. Bei der Keimauslese lernten wir einen Kampf um’s Dasein zwischen der nächst niedrigen Organisations- stufe kennen, nämlich zwischen Zellen. Möglicherweise lehrt uns die Zukunft noch einmal etwas über den Kampf der Elemente, deren Wachsthum und Vermehrung erst wieder die Zelle bilden. Aber auch über dem einen Zellenstaat repraesentiren- den Individuum giebt es noch Organisationstufen des Lebens, das sind Stämme, Völker und Rassen. Vgl. Schäffle, A. Bau und Leben des socialen Körpers. Tübingen 1881. Auch unter ihnen giebt es starke und schwache, die durch einen Kampf um’s Dasein unter einander zur besseren Entfaltung oder zum Verfall kommen. Bei diesem Societätenkampf mussten einige oder viele Mitglieder ausser den Eigenschaften, die im Kampf um’s Dasein der Individuen nützlich waren, noch andere Eigenschaften besitzen, die zum Siege der höheren Gemeinschaft nöthig waren, wie z. B. aufopfern- den Heldenmuth, Kameradschaftlichkeit, Mannentreue, über- haupt Altruismus. Die Gemeinschaften, unter denen viele Individuen solcher Art waren, hatten mehr Aussicht, im Kampf um’s Dasein zu siegen, als andere. Die Societäten sind nicht nur unter den Menschen zu Hause, sondern auch bei anderen geselligen Thieren, wie z. B. Ameisen, Bienen, Termiten. Wir haben demgemäss im Ganzen drei Formen der 4 Auslese, die für unsere Ausführungen in Betracht kommen: die Keimauslese, die Individuen-Auslese und die Societäten- Auslese. Es ist wohl kaum nöthig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Wettbewerb unter den Rassen nicht völlig zu- sammenfällt mit dem der Societäten. Die Individuen-Aus- lese spielt dabei auch noch eine Rolle. Denn die Rassen sind nur zum Theil wirklich organisirte Gemeinwesen. In sehr fernen Zeiten mögen sie allerdings oft relativ ge- schlossene Gemeinwesen gebildet haben, allein bereits die alten indogermanischen Urstämme, auch die Urgermanen, scheinen Mischrassen gewesen zu sein; noch viel mehr trifft dies zu bei den heutigen staatlich organisirten Völkern, die complicirte Rassengemische vorstellen. Im deutsch- französischen Kriege 1870 kämpfte nicht schlechtweg eine germanische mit einer keltoromanischen Rasse, sondern mannigfach zusammengesetzte Rassengemische. Auf Seite der Franzosen waren es theilweise verschweisste Kelten, Romanen, Germanen, Iberer und Ligurer, auf Seite der Deutschen Germanen, Kelten, Slaven, Littauer und Ro- manen. Nur dominirte bei den Franzosen das keltische, bei den Deutschen das germanischen Element soweit, dass allerdings die Entscheidung in diesem Kampf der Völker auch Wichtigkeit hatte für den Erfolg der beiden Haupt- rassen. Innerhalb der beiden Völker selbst kämpfen natür- lich die einzelnen Rassen mit einander in Form der In- dividuen-Auslese. Hierauf hat in sehr beachtenswerther Weise kürzlich Ammon die Aufmerksamkeit gelenkt: Vgl. Ammon, Otto. Die natürliche Aus- lese beim Menschen. Jena 1893. Bedeutung der drei Entwickelungs-Factoren. Überblicken wir noch einmal die Herleitungen dieses Capitels, so erhellt daraus deutlich die blosse regulative Function des Kampfes um’s Dasein für die Erhaltung und Entwickelung der Lebewesen, also auch unserer Rassen. Immer erst muss ihm die in ihrem Entstehen noch so ge- heimnissvolle Variation das entgegenwachsende Material unterbreiten. ehe er seine Auslese aus ihm treffen kann. Die starken Convarianten müssen erst wirklich entstanden sein, ehe der Kampf um’s Dasein sie vor der Mischung mit den schwachen bewahren, und die Vererbung ihre guten Eigenschaften auf den Nachwuchs übertragen kann. Also an der directen Bewirkung von starken Variationen ist der Kampf um’s Dasein in einer Generation nicht betheiligt, und in sofern könnte es gestattet sein, ihn ein blosses negatives Princip zu nennen. Aber wir müssen uns doch dabei bewusst bleiben, dass diese Bezeichnung nur zulässig ist, so lange es sich um die Wirkung des Kampfes auf nur eine Generation handelt ohne Rücksicht auf die nächste. Denn sobald wir die folgende Generation mit betrachten, also den Kampf um’s Dasein mehr in seiner Gesammterscheinung auffassen, springt sein regulativer Charakter sofort in die Augen. Da- durch nämlich, dass er in einer Generation die schwachen Convarianten vermindert, bewirkt er, dass die sexuellen Ver- bindungen öfter, als ohne ihn, unter starken Convarianten statt- finden. Oder mit anderen Worten, wenn unter den grade er- zeugten Convarianten ein bestimmter Procentsatz starke sind, so vermehrt er diesen Procentsatz der starken bis zur Zeit der Fortpflanzung, so dass dann kraft der Vererbung relativ mehr starke wieder erzeugt werden, als sonst, ohne Kampf um’s Dasein, also bei Mittbetheiligung der schwachen Convarianten an der Fortpflanzung, entstanden wären. Der Kampf um’s Dasein bewirkt demnach, kurz ge- sprochen, dass die Zeugenden durchschnittlich stärkere Con- varianten sind als die Altersklassen, aus denen sie hervorge- gangen sind, und dass demnach bei der Fortpflanzung die Durch- schnitts-Stärke der Devarianten eine höhere ist als ohne ihn. 4* Je mehr die zeugenden Convarianten die Neigung hatten, schlechtere Devarianten hervorzubringen, desto mehr musste der Kampf um’s Dasein die letzteren vernichten, wenn die Art auf ihrer Höhe bleiben sollte. Andererseits je mehr gute Devarianten die zeugenden Individuen hervorbrachten, desto weniger brauchten ausgemerzt zu werden, wenn die Art erhalten bleiben sollte, oder falls doch gleich viele wie sonst durch schärfere selectorische Einflüsse ausgemerzt wurden, desto rascher hob sich die Art auf eine höhere Entwickelungsstufe. Wenn die erzeugten Devarianten durchschnittlich schwächer waren als ihre Eltern, was wohl meistens in der Natur zutrifft, so war der Kampf um’s Dasein unumgäng- lich nothwendig, um die Art auf ihrer Höhe zu erhalten. Es wären sonst in der nächsten Generation die Devarianten noch schlechter ausgefallen. Waren die erzeugten Deva- rianten dagegen durchschnittlich stärker als ihre Eltern, so war der Kampf um’s Dasein nicht unbedingt nötig, um die Art auf ihrer Höhe zu erhalten, sondern er hatte dann nur eine Zeitfunction, d. h. beschleunigte die Entwicklung der Art und zwar um so mehr, je schärfer er auftrat. Dass in Bezug auf einzelne Charaktere der Kampf um’s Dasein nur eine beschleunigende, oft überhaupt keine wesentliche Rolle gespielt hat, gesteht auch Darwin zu: „Es lässt sich auch kaum daran zweifeln, dass die Neigung in einer und derselben Art und Weise zu variiren, häufig so stark gewesen ist, dass alle Individuen derselben Species ohne Hilfe irgend einer Form von Zuchtwahl ähnlich mo- dificirt worden sind.“Darwin. Entstehung der Arten. Deutsch von Carus. S. 113 u. 114. Wir werden später, an einer Stelle, wo es uns mehr interessiren wird, noch auf dies ausserordentlich wichtige Wechselverhältniss zwischen Richtung des Variirens, Grösse der Ausmerzung im Kampf um’s Dasein und Grad der Erhaltung, bezw. Tempo des Fortschritts der Art, zurück- kommen, und bei der Gelegenheit dann zugleich die Folgen der Panmixie besprechen, wie Weismann die Aufhebung des Kampfes um’s Dasein in Bezug auf eine oder mehrere Eigenschaften der Art-Individuen genannt hat. 2. Capitel. Die Erhaltung und Vermehrung der Zahl. Geburten- und Sterbeziffer. Höchste und niedrigste. Geburtenüber- schuss. Schädlichkeiten und Constitutionskraft. Contraselection: Kriege, präventiver Geschlechtsverkehr, künstliche Fehlgeburt. — Sinkende Rassen. Franzosen. Geburtenprävention als Ursache. Möglichkeiten der Abhülfe. Yankees. Amerikanische Juden. — Aufsteigende Rassen. Westarier, Europäische Juden. Germanen. Engländer, Deutsche und Skandinavier. Europäische Sprachen. Deutsche im Reich, in der Schweiz, in Oesterreich-Ungarn und anderen Nachbarländern. Geburten- und Sterbeziffer. Zur dauernden Erhaltung einer Rasse gehört zu aller- erst die Erhaltung der Zahl ihrer Individuen. Je kleiner eine Rasse ist, desto gefährdeter ist ihr Bestand, beson- ders wenn sie zu einem wirthschaftlichen Gemeinwesen or- ganisirt ist. Feindliche stärkere Nachbarn, häufige Ver- mischung mit Fremden, mehr Gelegenheit zur Inzucht, mangelhafte Möglichkeit der Productionsgliederung und da- durch bewirkte verhältnissmässige Armuth, das sind alles Momente, die sich als ungünstige Lebensbedingungen einer kleinen Rasse erweisen können. Reste niedergehender Rassen haben sich daher auch nur in relativ abgeschlos- senen Orten, Inseln, Halbinseln, Gebirgsgegenden halten können und sind auch dort mit völliger Einschmelzung bedroht. Es ist desshalb von der elementarsten Bedeutung für eine Rasse, dass ihre Zahl sich womöglich vermehrt oder wenigstens auf ihrer Höhe erhält. Dies kann nur dadurch geschehen, dass im Durchschnitt der Generationen die Ge- burtenziffer der Sterbeziffer mindestens gleich kommt. Das beste Verhältniss wäre eine möglichst hohe Geburten- und möglichst niedere Sterberate. Eine hohe Geburtenrate hat zur Vorbedingung erstens eine beträchtliche Eheziffer, zweitens eine grosse physio- logische Fruchtbarkeit, d. h. körperliche Fähigkeit der Männer und Frauen, viele Kinder zu zeugen, und der Frauen, sie zu gebären, und drittens eine möglichst ge- ringe Geburten-Praevention. Letztere besteht sowohl in geschlechtlicher Enthaltsamkeit und in willkürlichem Ver- hindern der Befruchtung beim Geschlechtsacte als in Töd- tung der Leibesfrucht. Die thatsächliche Geburtenziffer eines Volkes resultirt aus dem Zusammen- bezw. Entgegen- wirken dieser drei Factoren. Die Rassenhygiene fordert allein in Bezug auf die Er- haltung der Zahl keine Begrenzung der Geburtenrate nach ihren höheren Werthen zu, wenn dies auch, wie wir später sehen werden, aus anderen rassenhygienischen Gründen nothwendig erscheint, wohl aber nach unten. Hier bildet die Sterblichkeitsziffer die absolute Grenze, unter welche die Geburtenrate selbstverständlich nicht sinken darf. Die niedrigste bekannte Sterbeziffer für eine grössere Anzahl Menschen ist etwa 17 ‰. d. h. von je tausend der wirk- lichen Bevölkerung starben in einem Jahr 17.Die Sterblichkeit Norwegens von 1871—1881 ohne die Todt- geborenen; die der stationär gedachten Bevölkerung betrug 20 ‰. Noch nie- drigere Ziffern wurden nur stellenweise, so von Farr in Theilen von England beobachtet. Zwanzig englische Di- stricte wiesen in den Jahren 1847 bis 1871, also in 24 Jahren, eine Sterblichkeit der wirklichen Bevölkerung von nur 15 bis 17 ‰ auf.Max Rubner, Lehrbuch der Hygiene. Leipzig und Wien. 1890. S. 5. Für die nächste Zukunft dürfen wir bedeutend niedri- gere Werthe kaum erwarten, also bleibt vorläufig eine Sterberate von 17 ‰ das im Bereich der Möglichkeit Lie- gende und die gleichhohe Geburtenrate das niedrigst er- laupte Maass derselben, sobald diese Sterberate erreicht ist. Die Sterblichkeit resultirt aus zwei entgegengesetzten Factoren: der Constitutionskraft der Individuen und den auf sie einwirkenden äusseren Schädlichkeiten. Ein Abfallen der Sterblichkeit kann sowohl durch eine Verbesserung der Constitution, als durch eine Verminderung der äusseren Schädlichkeiten hervorgebracht werden, ja, es ist denkbar, dass selbst bei sinkender Constitutionskraft die Sterberate ab- nimmt, wenn nämlich die äusseren Schädlichkeiten noch stärker abnehmen als die Constitutionskraft. An und für sich kann man einer Sterberate natürlich nicht ansehen, wie gross ihre beiden Componenten sind. Wir sind dazu auf die Beobachtung einer Reihe von kör- perlichen und geistigen Qualitäten der Individuen ange- wiesen, die uns ohnehin später beschäftigen werden. Wie es für die Geburtsrate ein rassenhygienisches Minimum giebt, so für die Sterberate ein Maximum, über das sie nicht steigen darf. Dieses Maximum ist durch die höchstmögliche Geburtsrate gegeben. Als solche kann nach der Beobachtung ca. 58 ‰ gelten.Ratzel, Fr. Anthropogeographie. II. Theil. Stuttgart 1891 S. 165. In Europa steht Russland mit 49 ‰ an der Spitze. So hohe Sterberaten dürften indessen kaum vorkommen, wenn man Zeiten starker Epidemien und verheerender Kriege ausnimmt. Doch sind Mortalitäten von 53 ‰ beobachtet worden.Ratzel, a. a. O. S. 165. Die höchste Sterblichkeit in Europa hat Ungarn, nämlich 41 ‰. Am besten erscheint auf den ersten Blick eine sehr beträchtliche Geburten- und sehr geringe Sterbeziffer. Die materielle Grundlage für die daraus resultirende starke Volksvermehrung ist aber in den seltensten Fällen zu schaffen, die Eröffnung neuer Nährstellen ist ein gar zu mühsames Geschäft. Wenn daher die Geburtenziffer in ein beträchtliches Missverhältniss zur oekonomischen Ent- wickelung kommt, ist die Folge der gesteigerten Liebes- müh’ doch nur eine Erhöhung der Sterblichkeit. Dieser Zusammenhang zwischen häufiger Kindererzeugung und starker Mortalität ist eine statistische Trivialität. Allein der ursächliche Zusammenhang ist auch umgekehrt, eine grössere Sterblichkeit, besonders der Kinder, bewirkt eine grössere Geburtenziffer, und zwar im Allgemeinen, weil ein frei gewordener Platz eine neue Nährstelle bedeutet, im Speciellen hauptsächlich wohl wegen Abkürzungs der Säu- gungsperiode, während welcher die Regel der Frauen so gut wie stets aufgehoben und eine Befruchtung relativ selten ist.Vgl. Geissler, A. Ueber den Einfluss der Säuglingssterblich- keit auf die eheliche Fruchtbarkeit. Zeitschr. d. k. sächs. statist. Bu- reaus. XXXI. Jahrg. 1885. Da die Forderung eines höchstmöglichen Geburten- überschusses geheftet ist an den möglichst raschen oekono- mischen Fortschritt eines Volks, d. h. an die möglichste Erweiterung des Spielraums der Lebensbedingungen, so ist, wenn dieser gegeben, damit auch die zulässige Höhe des Geburten-Ueberschusses gegeben. Also die Forderung einer Vermehrung der Zahl einer Rasse ist zu allererst eine wirthschaftliche Frage. Ist die wirthschaftliche Zulässigkeit eines bestimmten Geburten-Ueberschusses da, so fragt sich, soll er angestrebt werden durch die Differenz zwischen vielen Geburten und vielen Todesfällen, oder wenigen Ge- burten und wenigen Todesfällen. Ein Geburtenüberschuss von 10 ‰ kann ebenso gut entstehen, wenn Geburtenrate 45 und Sterberate 35 ‰, als wenn sie 30, bezw. 20 ‰ betragen. Vom Standpunkt der blossen Vermehrung der Zahl könnte man denken, das sei gleichgültig. Allein dem ist nicht so. Denn die im ersten Fall mehrerzeugten 15 ‰, die nutzlos geboren werden und sterben, bedeuten eine enorme Ausgabe an Kraft für die betreffende Rasse und vermindern ihre Widerstandskraft im Kampf um’s Dasein gegen andere sonst gleiche Rassen, die weniger Geburten und weniger Todesfälle haben. Ein zweiter Punkt, der zu bedenken ist, betrifft die Qualität der Kinder. Bei erhöhter Geburtenziffer sollte man denken, steigt durch Vermehrung der Ehen und ihrer Kinderzahl der Betrag der Variation, also die Möglichkeit der Erzeugung guter Varianten, die dann durch ihren Sieg in dem scharfen Kampf um’s Dasein die Qualität der Rasse verbessern würden, was bei gleichen Lebensbedin- dungen gleichbedeutend wäre mit einer grösseren Beherr- schung der Natur, also einer Vermehrung der Individuen- zahl der Rasse. Für diese Hoffnung wäre ein Anhalt ge- geben, wenn es sich erstens erweisen liesse, dass bei Ver- mehrung der Ehen die neuen Ehen von gleich tüchtigen Gatten als bei den ersten Ehen geschlossen würden, was sicher nur zum kleinsten Theile zutrifft. Zweitens müsste bewiesen werden, dass die Constitutionskraft der später in einer Ehe geborenen Kinder, also der höhern Nummern in der Geburten-Reihenfolge, ansteigt oder mindestens gleich bleibt. Genau das Gegentheil ist aber richtig. GeisslerGeissler, Arthur. Ueber den Einfluss der Säuglingssterb- lichkeit auf die eheliche Fruchtbarkeit. Zeitschr. des k. sächs. statist. Bureaus. 31. Jahrgang 1885. Dresden. S. 30. hat 26429 Geburten in 5236 Ehen von Mitgliedern säch- sischer Knappschaftskassen daraufhin untersucht und fest- gestellt, wieviel im ersten Lebensjahr Verstorbene auf 100 Geborene der aufeinander folgenden Geburtennummern kommen. Mangelhaft ist an dieser sonst vortrefflichen Statistik nur, dass ein Theil der Todtgeborenen und die Kinder aus Ehen mit nur ein oder zwei Kindern nicht mit eingeschlossen wurden. Auf 100 Geborene kamen Verstorbene im 1. Lebensjahr: beim 1. Kind 22,9 „ 2. „ 20,4 „ 3. „ 21,2 „ 4. „ 23,2 „ 5. „ 26,3 „ 6. „ 28,9 beim 7. Kind 31,1 „ 8. „ 33,2 „ 9. „ 36,1 „ 10. „ 41,3 „ 11. „ 51,4 „ 12. „ 59,7 Mittel: 24,6. Die günstigste Vitalität zeigen also die ersten, bezw. zweiten bis vierten Kinder, dann fällt sie unaufhaltsam bis zu sehr geringen Werthen ab. Ähnliches ergeben die Mortalitätsziffern von 100 Ge- borenen bis zum Alter von 0,09 Jahren, also etwas über einen Monat: beim 1. Kind 9,5 „ 2. „ 7,2 „ 3. „ 7,5 „ 4. „ 7,3 „ 5. „ 8,4 „ 6. „ 9,2 beim 7. Kind 10,0 „ 8. „ 11,5 „ 9. „ 12,0 „ 10. „ 14,7 „ 11. „ 16,5 „ 12. „ 18,2 Mittel: 8,6. Die günstigste Vitalität fällt auch hier auf das zweite bis vierte Kind. Das Zustandekommen des gleichen Geburtenüberschusses durch allzu grosse absolute Beträge der Geburten- und Sterbeziffer hat also nur Nachtheile gegenüber der Ent- stehung durch kleinere Beträge. Wie weit diese Beträge heruntergehen können, ohne die Qualität der Rasse zu ge- fährden, werden wir später sehen. Versuchen wir nun, diese allgemeine Skizze in unsere im vorigen Capitel hergeleiteten Begriffe einzuordnen. Dass ein Geburtenüberschuss überhaupt zu Stande kommt, dazu gehört, wie wir sahen, eine Erweiterung der Herrschaft der betreffenden Rasse über die sie umgebenden Bedingungen. Dies kann in zwei Weisen zu Stande kommen, durch Verminderung von Schädlichkeiten und durch Ver- mehrung der durchschnittlichen Constitutionkraft. Die Her- absetzung der äusseren Schädlichkeiten in der Umgebung der Rasse und, mittelbar durch die Umgebung bedingt, der inneren Schädlichkeiten, kann man sich auf zwei Arten ent- standen denken, durch die directe Milderung der Natur- einflüsse ohne Zuthun der Menschen und durch die mensch- lichen Arbeitsproducte früherer Generationen. Milderung der directen Natureinflüsse trat z. B. für die Bewohner der nördlichen Hemisphäre ein, als die Eiszeit schwand, oder fand statt, wenn ein Volk in ein zuträglicheres Klima wanderte. Die Aufhäufung menschlicher Arbeitsproducte, geistiger und materieller Art, hat in historischer Zeit eine bedeutend grössere Rolle gespielt. Wir stehen in unendlich Vielem auf den Schultern unserer Vorfahren durch ihre erziehe- rische, wissenschaftliche und künstlerische Arbeit. Die gegen früher enorm gesteigerte Productivität der mensch- lichen Arbeit, die bessere Kranken- und Gesundheitspflege, die bessere Erziehung sind Dinge, deren Bestehen bei uns wir keineswegs durch die gesteigerte Gehirnanlage unserer modernen Generation zu erklären brauchen, son- dern die sicher zum grossen Theil einfach auf Anhäufung und Aufbewahrung der geistigen und materiellen Kultur- arbeit unserer Vorfahren und einer durch bessere Erziehung gesteigerten Übung unserer Gehirnlage beruhen. Die andere Möglichkeit der Ausbreitung einer Rasse über ihre Umgebung besteht in einer Vermehrung der durchschnittlichen Constitutionskraft ihrer Individuen. Wenn die Regulationen stärker werden, können neue Plätze in der Natur, deren Occupirung bisher wegen der Schädlich- keit der von ihnen ausgehenden Einflüsse nicht durchführ- bar war, ausgefüllt werden. Beide Factoren wirken in der Richtung der Vermehrung einer Rasse; je stärker jeder von ihnen, desto rascher die Vermehrung. In Rücksicht auf die Vervollkommnung der Rasse jedoch ist die Stärke der beiden Factoren durchaus nicht bedeutungslos. Dieses Verhältniss, sowie überhaupt die Erhöhung der Constitutionskraft, die, wie wir im vorigen Capitel sahen, an das Auftreten einer bestimmten Menge stärkerer Devarianten und einer dem Auftreten schwächerer Devarianten entsprechenden Ausjätung im Kampf um’s Dasein gebunden ist, sollen im nächsten Capitel eine ge- nauere Besprechung erfahren, da sie im engsten Zusammen- hang mit der Vervollkommnung des Rassentypus stehen. Die Betrachtung des anderen Factors, der Umgebungs- Einflüsse, der selectorischen und der nonselectorischen, in Bezug auf ihre Wirkung auf die Mitgliederzahl einer Rasse gehört zum grössten Theil in das Gebiet der Naturwissen- schaft und der Oekonomie. Wir wollen hier an dieser Stelle nur zwei dieser Einflüsse kurz erwähnen. Beide haben das Gemeinsame, dass sie nicht nur die Zahl be- schränken, sondern dass sie hauptsächlich die Zahl der starken Convarianten beschränken, also contraselectorisch wirken, ein Grund, uns später mit ihrer Bedeutung noch etwas eingehender zu befassen.Contraselectorische Einflüsse sind ausser von Darwin und Wallace besonders auch von Haeckel gebührend gewürdigt worden. Vgl. Na- türliche Schöpfungsgeschichte. VII. Aufl. Berlin 1879. S. 154 u. ff. Das erste dieser Momente bilden die Kriege, die eine Rasse oder überhaupt eine Societät führt. Hierbei werden eine Anzahl der stärksten Convarianten der betreff. So- cietät herausgenommen und neben einigen selectorischen sehr mächtigen nonselectorischen Einflüssen ausgesetzt, die sie stark vermindern. Diese temporäre Verminderung hatte durch die Erwerbung neuen Bodens oder neuer Absatz- gebiete oft die Folge, dass das siegende Volk seine Zahl nicht nur rasch wiederersetzte, sondern noch stark ver- mehrte. Der Krieg war also eines der Mittel im Kampf um’s Dasein der Societäten, wenn auch eines der zwei- schneidigsten, da er die Summe der starken Convarianten herabsetzte. In älteren Zeiten fand unter den zum Kampf aus- ersehenen stärksten Convarianten noch eine gewisse Aus- lese insofern statt, als beim Kampfe ohne Fernwaffen die- jenigen am ehesten verschont blieben, die die Stärksten, Gewandtesten und Schlauesten waren. Eine weitere Aus- lese kam häufig dadurch zu Stande, dass Söldnerheere kämpften. Diese Söldner waren oft (Armanjaks, Lands- knechte) zum grossen Theil zusammengelaufenes Gesindel, das aus Rohheit, Unstätheit, oder weil es im Leben Schiff- bruch gelitten hatte, der Werbetrommel folgte. Die Söldner hatten also oft Eigenschaften, die sie als Gatten und Väter zu schlechten Convarianten gemacht hätten. Wenn so zu- sammengesetzte Heere decimirt wurden, so hatte die Mensch- heit einen directen Nutzen davon, und es ist sehr zu ver- muthen, dass Ausjätung der Söldner stark zur Milderung der Sitten beigetragen hat. Im Grossen und Ganzen re- präsentirten in früheren Zeiten die heimziehenden Schaaren doch wohl als Convarianten einen höheren Stärkegrad, als die ausziehenden ihn gehabt hatten. Allein heute bei unserem ausgedehnten Fernkampf tritt auch dieser geringe selectorische Factor noch weiter zurück. Wenn heute in einer Schlacht 20000 Mann fallen, so stehen diese im Durchschnitt des Stärkegrades wohl kaum unter denen, die lebend davon gekommen sind, im Gegentheil, viele der stärksten Convarianten, wie die Of- fiziere, leiden noch mehr als die Mannschaften, weil sie den Kugeln häufiger die aufrechte Figur darbieten müssen. Haushofer giebt in seiner Statistik die Mortalität auf deutscher Seite im Kriege 1870/71 an für die Generäle auf 46 ‰ Stabsoffiziere „ 105 „ Hauptleute, Rittmeister „ 86 „ Lieutenants „ 89 „ Unteroffiziere und Mannschaften „ 45 „ Dazu kommt, dass heute keine Söldnerheere mehr, sondern bei der allgemeinen Wehrpflicht Volksheere kämpfen. Die Ausjätung des Söldnercharakters wird von dem modernen Krieg nicht mehr oder nur in sehr ge- ringem Grade vollzogen. Eher wirkten früher noch die Epidemien, die oft beim Kriege ausbrachen, als ein selec- torisches Moment. Doch auch diese werden seltener. Alles in allem haben, wenn der Krieg beendet ist, die beiden kriegführenden Völker an ihrem Bestand von starken Convarianten ganz erhebliche Einbusse erlitten. Aber da- mit noch nicht genug. Die Zurückgekehrten haben oft noch an manchen Uebeln zu leiden, die sie im Felde er- warben, oder sie haben ihre oekonomischen Stellen ver loren, so dass auch hieraus wieder künstlich geschaffene Benachtheiligungen im Kampfe um’s Dasein entspringen. Ferner werden die Kinder der Gefallenen, die gemäss der Vererbung auch wieder stärkere Convarianten darstellen als die übrigen Kinder, oft genug durch den Verlust ihrer Ernährer und Erzieher ganz bedeutend im Kampf um’s Dasein behindert. Der moderne Krieg ist demnach, ganz abgesehen von seinen Brutalitäten, unter den Mitteln, die ein Volk zur Vermehrung seiner Zahl ergreifen kann, thunlichst zu ver- meiden, da er mit der Hauptforderung der Rassenhygiene, der Erhaltung der Constitutionskraft, im Widerstreit steht. Allerdings wird er wohl manchmal im Kampf um’s Dasein der Societäten nicht zu umgehen sein. Das zweite Moment ist der praeventive Geschlechts- verkehr und der künstliche Abortus (Fehlgeburt), die wir beide zusammen Geburten-Praevention genannt haben. Der praeventive Geschlechtsverkehr mit der Folge der faculta- tiven Sterilität oder der künstlichen Unfruchtbarkeit um- fasst alle künstlichen Veranstaltungen oder Unterlassungen beim Begattungsact, die eine Befruchtung verhindern können. Beides, praeventiver Geschlechtsverkehr und Abortus sind nicht nur bei NaturvölkernPloss, Das Weib. Leipzig 1891. III. Aufl sondern auch bei den civili- sirtesten Völkern heimisch, wie unter den Nordamerikanern, den Franzosen, den siebenbürger Sachsen und anderen Völkern. Neuerdings greifen sie auch in England, in der Schweiz und in Deutschland um sich. Beide Factoren vermindern natürlich ganz unmittelbar die mögliche Bevölkerungszunahme. Auch sie bewirken grade wie der Krieg hauptsächlich einen Ausfall starker Convarianten, denn im Allgemeinen neigen zur Geburten- Praevention grade die Wohlhabenden am meisten, unter denen ja ein grosser Theil der Sieger im oekonomischen Kampf stecken. Auch bei den Aermeren ist es wieder der Intelligentere, der Nüchterne, der sich besser und aus- dauernder zu beherrschen weiss, welcher am erfolgreichsten die Praevention betreibt. Dass hierbei ein klein wenig Ausmerzung von Gatten mit rudimentären Elterninstincten stattfindet, mag man zugestehen; es wird nach meiner Er- fahrung als Arzt wenig genug sein. Wer den Mechanis- mus erfährt, lässt selten wieder von der Praxis, und der Gebildete erfährt ihn am ehesten. Der Präventiv-Verkehr hat also in seinem Gefolge nicht nur eine Verringerung der Zunahmetendenz, sondern wirkt nebenher noch schädigend auf die durchschnittliche Constitutionskraft der nächsten Generation, gehört also ebenfalls der Contraselection an. Recapituliren wir zum Schluss noch einmal die allge- meinen Bedingungen, die der Vermehrung einer Rasse am günstigsten sind. Diese Bedingungen sind: erstens Verminderung der extralen und socialen Schädlichkeiten, besonders contra- selectorischer wie Kriege, blutige Religionsverfolgungen, Revolutionen, Geburtenpraevention, und zweitens Steigerung der durchschnittlichen Constitutionskraft. Sobald durch das Verhältniss dieser Momente der Geburtenüberschuss be- stimmt ist, liegt es im Interesse der Rasse, dass er bei wenig Todesfällen und dem entsprechend wenig Geburten zu Stande kommt. Da die weitere Betrachtung uns bereits zu sehr in dasselbe Gebiet führen würde, das wir bei Besprechung der Vervollkommnung des Typus betreten müssen, so sei auf das nächste Capitel verwiesen. Hier soll nur noch dar- gelegt werden, wie sich in der letzten Zeit unsere besten Culturrassen in Bezug auf die Vermehrung ihrer Zahl ver- halten haben, da dies ja einen Schluss auf Sieg oder Unter- liegen im Kampf um’s Dasein mit anderen Rassen und auf eine eventuelle durchschnittliche Verbesserung der ge- sammten menschlichen Rasse zulässt. Letztere wird um so rascher fortschreiten, je mehr sich der Antheil der Cultur- rassen auf Kosten des Antheils der niedrigeren Rassen vergrössert. Sinkende Rassen. Franzosen, Yankees. Ein Bild des Verfalls bietet uns das französische Volk. Trotz seiner günstigen Sterblichkeit, seiner minimalen Aus- wanderung und seiner günstigen oekonomischen Verhält- nisse ist die durch Geburtenüberschuss bewirkte Zunahme im Laufe unseres Jahrhunderts durch das Sinken der Na- talität (Gaburtenrate) kleiner und kleiner geworden und hat schliesslich seit 1890 einer Abnahme Platz gemacht. 5 Dumont, Arsène. Dèpopulation et civilisation. Etude démogra- phique. Paris 1890. Und Annuaire de l’Economie politique et de Statistique par M. Block. 1893 u. 1894. Einzig der seit Anfang des Jahrhunderts beginnende und trotz einiger Schwankungen regelmässige Niedergang der Geburtenziffer ist die Ursache dieser in Frankreich so tief beklagten Erscheinung. Die entstandenen Lücken in der Bevölkerung werden auch durch die Einwanderung Fremder nicht mehr in dem Maasse ausgefüllt wie früher, so dass wir in dem hoch civilisirten französischen Volk das tragische Beispiel einer sinkenden Rasse vor uns haben, deren führende Geister den Abgrund sehen und eifrig nach Hülfe suchen, aber für ihre Hebel den archimedischen Punkt noch nicht gefunden haben, die gewaltige träge Masse des Volkes wieder zu heben. Die Ursache der Verminderung der französischen Ge- burtenziffer kann eine dreifache sein: Verminderung der Ehen, Verminderung der durchschnittlichen physiologischen Fortpflanzungskraft und Anwachsen der Geburten-Prae- vention. Nur die letzten beiden Factoren können hier eine Rolle spielen. Die Eheziffer nämlich hat sich im Lauf dieses Jahr- hunderts nicht wesentlich verändert. Sie betrug: 1801—1810 7,78 ‰ 1811—1820 7,92 „ 1821—1830 7,76 „ 1831—1840 7,94 „ 1841—1850 7,93 „ 1851—1860 7,88 ‰ 1861—1870 7,9 „ 1871—1880 8,0 „ 1881—1890 7,35 „ 1891—1892 7,5 „ Dumont, a. a. O. S. 73. Und Annuaire de l’Economie polit. et de Stat. par Block. 1893 u. 1894. Die anderen beiden Factoren finden in der durchschnitt- lichen Geburtenzahl, die auf eine Eheschliessung kommen, ihren annähernden Ausdruck. Diese Zahl betrug: 1800—1815 3,93 1816—1830 3,73 1831—1845 3,31 1846—1860 3,08 1861—1875 3,01 1876—1887 3,05 1888—1890 2,95 1891—1892 2,99 Ganze Stösse von Papier sind in Frankreich und ander- wärts darüber geschrieben worden, ob der Rückgang dieser Ziffer rein physiologisch in einer Abnahme der Zeugungs- kraft der Geschlechter oder in einer Zunahme der Tendenz begründet liege, die Zeugung künstlich zu hintertreiben oder die Früchte vor der Geburt abzutödten. Darüber sind wohl alle Autoren einig, dass praeventiver Geschlechts- verkehr und künstlicher Abort eine grosse Rolle in Frank- reich spielen, allein streitig ist, ob nicht noch daneben eine Abnahme der natürlichen Zeugungskraft vorhanden ist. Manche führen als Zeichen davon die geringe Zahl der Mehrlingsgeburten in Frankreich an. Unter 100 Ge- borenen waren Mehrlingskinder in: 5* deutschen Staaten 2,47 Oesterreich 2,35 Ungarn 2,82 Norwegen 2,57 Belgien 1,94 Niederlande 2,56 der Schweiz 2,32 Italien 2,40 Spanien 1,74 Schweden 2,89 Rumänien 1,75 Frankreich 1,98 Statistik des deutschen Reichs. Neue Folge. Bd. 44. S. 178. Dieses Zeichen ist jedoch desshalb nicht verwerthbar, weil die Mehrlingsgeburten um so häufiger eintreten, je mehr Kinder schon vorher von einer Mutter gezeugt waren, und in Frankreich ja durch das Dreikindersystem die Ehen mit nur weniger Kindern bedeutend überwiegen. Müller, P. Handbuch der Geburtshülfe. Stuttgart 1888 1. Bd. S. 295. In Frankreich müssten also auch bei sonst mit anderen Ländern gleicher phy- siologischer Fruchtbarkeit von vorn herein weniger Mehr- lingsgeburten erwartet werden. Dumont dagegen schuldigt allein die Praevention an: „La vraie cause de l’affaiblissement de notre natalité est la volonté de n’avoir que peu ou point d’enfants, et cette volonté elle-même est déterminée par un ensemble de dis- positions intellectuelles, morales, esthétiques particulières à notre nation. C’est le cas de répéter cette maxime d’Auguste Comte, qu’il faut toujours avoir présente à l’esprit en traitant les problèmes de sociologie cont emporaine: „La maladie de la société est regardée comme physique, tandisqu’elle est exclusivement morale …“ Si chaque mariage français n’a en moyenne que moins de trois enfants, contre quatre en Angleterre et cinq en Prusse, c’est que le mari et la femme français ne veulent point en avoir un plus grand nombre.“ Dumont, S. 97 u. 98 Andere Autoren, besonders der französische Anthro- pologe Lapouge, nehmen auch eine Abnahme der na- türlichen Zeugungskraft an. Die Gründe, welche angeführt werden, um eine Ab- nahme der Zeugungskraft plausibel zu machen, sind zum grossen Theil wenig stichhaltig. Man liest manchmal die Behauptung, die hohe materielle Cultur und die fortge- schrittene Civilisation Frankreichs wären Schuld. Allein an- dere Länder sind ebenso reich und civilisirt und nehmen doch rasch zu, z. B. England und Deutschland, das zwar nicht ebenso reich, doch ebenso civilisirt ist. Dazu kommt, dass Reichthum und hohe Civilisation nur bei einer kleinen Minderheit eine Rolle spielen, die grosse Volksmasse ist davon ausgeschlossen. Der französische Arbeiter ist immer noch unfruchtbarer als der deutsche Kleinbürger. Lapouge sucht den Grund in einer Abnahme der blonden Langköpfe und einer Zunahme der brünetten Kurz- köpfe, die unfruchtbarer seien als die ersteren. Doch das- selbe müsste dann für andere Länder mit vielen dunklen Rundköpfen der Fall sein, wie mit Italien z. B., und doch brachte dieses von 1872 — 1883 die stattliche Fruchtbarkeit von 4,56 Geburten auf eine Eheschliessung zu Wege. Zur Entscheidung der Frage, ob eine Schwächung der Zeugungskraft mitwirkt, scheint mir noch am ehesten ein Blick auf das Verhalten der durchschnittlichen Consti- tutionskraft geeignet. Wenn sich ergiebt, dass der Durchschnittsfranzose im Lauf des Jahrhunderts einer langsamen körperlichen Ent- artung anheimgefallen ist, so ist die Annahme durchaus berechtigt, dass auch die Fortpflanzungskraft an dieser Ent- artung Theil genommen hat, weil sie in gewissen Correla- tionen zur Erhaltungskraft steht. So unmöglich erscheint die Entartung nicht, wenn man bedenkt, wie häufig die junge Blüthe der Nation zum Kriegsdienst herangezogen wurde. Allein vom 24. Juni 1791 bis zum 15. Novem- ber 1813 wurden 4556000 Mann unter die Fahnen gerufen, von denen wenigstens die Hälfte im Feuer und in den Hospitälern blieb, während der andere Theil erschöpft und früh gealtert nach Hause zurückkehrteDumont, a. a. O. S. 96., um mit den schwachen Heimgebliebenen, die mittlerweile die wirth- schaftlichen Stellen occupirt hatten, den Kampf um’s Da- sein und die Familiengründung aufzunehmen, in dem sie oft scheiterten, so dass die Schwachen eher zur Kinderzeugung kamen als sonst. Lagneau führt noch genauere Ziffern an: Von 1791—99 wurden 2080000 Mann eingereiht, von denen nach verschiedenen Schätzungen 720000 bis 1500000 fielen. Von 1799—1815 dienten 3153600 Mann. Davon blieb vor dem Feinde eine Million, eine zweite kam in den Krankenhäusern und Lagern um. Im Krimkrieg, im italienischen und mexikanischen Krieg, überhaupt in allen Kriegen der Monarchien von 1825—69 wurden 356000 Leben hingerafft. Der Verlust, den die Gesammtbevölke- rung an ihrer möglichen Zunahme durch den deutsch- französischen Krieg und Commune-Aufstand erlitt, wird von Lagneau auf 1300000 Menschen berechnet. Die Zahl der in diesem Kriege direkt an Wunden Gestorbenen be- trug 89000. Zu diesen Verlusten im Kriege kommen noch die durch innere Kämpfe. Die Religionsverfolgungen früherer Zeiten (Inquisition, Ermordung der Hugenotten) trafen zwar nicht so zahlreiche Opfer wie die Kriege; dafür aber um so edlere. Die grosse Revolution entzog Frank- reich ebenfalls viel tüchtiges Menschenmaterial. Viele wanderten aus, viele wurden wirthschaftlich ruinirt, Tausende starben auf dem Schafott. Dieses fortdauernde Riesen- würgen unter den kräftigsten Männern der Nation legt den Gedanken an ihre Entartung in der That sehr nahe. Die relativ niedrige Sterbeziffer, die im Lauf des Jahr- hunderts sogar noch von 28 ‰ auf 22 ‰ gefallen ist, darf uns, wie wir auf Seite 56 gesehen haben, nicht dazu ver- leiten, die Entartung auszuschliessen. Wir müssen uns nach anderen Anzeichen umthun. Vor Allem ist nötig, die Resultate der Rekrutirungen in’s Auge zu fassen. Hören wir, was Professor Hegar darüber sagt: „Leider sind genaue Veröffentlichungen über die Resultate der Rekrutirung nicht grade zahlreich. Die von den Behörden gemachten Ansprüche sind ferner nicht bloss nach den einzelnen Staaten, sondern selbst nach Zeit- räumen grösseren oder geringeren Bedürfnisses verschieden. Auch sind die Tauglichkeit oder Untauglichkeit bedingen- den Factoren sehr mannigfaltig, so dass die hier in Frage stehende Wirkung (bei uns Ursache) einer geringen oder einer bedeutenden Fortpflanzungsgrösse sich nur schwer von den Einflüssen anderer Factoren trennen lässt ..... Auf die neueren Berichte ist vielleicht kein sehr grosser Werth zu legen, da in Frankreich jetzt alle nur halbwegs Brauchbaren unter die Fahne eingereiht zu werden scheinen. Die Resultate der Aushebungen von 1872—1876 sind wenigstens so gut, dass man annehmen muss, es seien sehr geringe Anforderungen gestellt worden. Allein wir finden ähnliche Unterschiede (von Preussen) zu Gunsten Frank- reichs auch in früheren Jahren selbst vor dem Krimkriege 1837 und 1845 und 1851—1856“.Hegar, Alfred, Der Geschlechtstrieb. Eine sozial-medizinische Studie. Stuttgart 1894. S. 71. Diese Ausführungen würden also eher gegen eine Ab- nahme der Constitutionskraft sprechen, jedenfalls nicht da- für, charakterisiren aber die Resultate der Rekrutirung als zu unsicher, um in der ganzen Frage nach irgend einer Richtung hin etwas zu entscheiden. Was die Durchschnittsgrösse der Rekruten anlangt, so ist es nach den Arbeiten von Collignon und CavetteAmmon, a. a. O. S. 120 u. ff. wahrscheinlich, dass sie zugenommen hat. Diese Zunahme wird aber ausdrücklich auf bessere Ernährung und dadurch beschleunigtes Wachsthum zurückgeführt, nicht auf eine Veränderung der constitutionellen Anlage. Ammon hat für Baden ebenfalls ein durchschnittliches Grösserwerden der Wehrpflichtigen beobachtet, das er seit der Periode von 1840—1864, also seit durchschnittlich etwa 38 Jahren, auf 1 bis 1,5 cm berechnet. Auch er schreibt diese Er- scheinung ausschliesslich der beschleunigten Entwickelung in Folge besserer Ernährung zu.Ammon, a. a. O. S. 120 u. ff. Alle die vielen noch unsicheren Angaben über das Anwachsen der Geisteskrankheiten, der Verbrechen und ähn- licher Degenerations-Erscheinungen können ebenfalls nicht das starke Sinken der Geburtenrate erklären, da dieselben oder ähnliche Zunahmeverhältnisse auch bei anderen, sich rasch vermehrenden Völkern Europas angetroffen werden. Man kann demgemäss zwar mit einigem Recht ver- muthen, aber es durch nichts ganz besonders wahrscheinlich oder gar sicher machen, dass dem Abfallen der Geburtenrate eine Verschlechterung der durchschnittlichen Constitutions- kraft der Franzosen zu Grunde liegt, und es wird unsern Nachbarn nichts anderes übrig bleiben, als energisch gegen die Kinderscheu der Eheleute anzukämpfen und vor Allem die Neigung zur Ehe zu bestärken, die in Frankreich übri- gens nicht abnorm niedrig ist. (Eheziffer in Frankreich 7,5—8 ‰, vergl. S. 67, im deutschen Reich 7,8—8,5 ‰, vergl. S. 87, dagegen im Staate Massachusetts über 10 ‰). Eine Erhöhung der Eheziffer um nur 1 ‰ würde genügen, die Bevölkerungszahl zu heben, wenn nur die auf die Ehe entfallende Kinderzahl nicht noch weiter sinkt. Diesen Abfall aufzuhalten, scheint mir vor der Hand unmöglich. Jeder Arzt kennt die Gründe, wesshalb eine Mutter, die ein paar Kinder hat, keine weiteren mehr will. Er muss diese Gründe oft genug in seiner Sprechstunde hören: die Angst vor den Schmerzen, Gefahren, Unbe- quemlichkeiten der Geburt, die fortwährende Hemmung der freien Verfügung durch ein kleines Kind, die Unruhe im Haushalt, die Furcht, durch jede neue Geburt noch mehr von der jugendlichen Elasticität einzubüssen, hauptsächlich aber die Kosten der Erziehung und der Wunsch, die be- reits vorhanden Kinder weder in ihrer Erziehung noch in ihrem Erbe durch einen neuen Concurrenten zu beeinträch- tigen.Hegar, einer der erfahrensten Frauenärzte hält eine Kinder- zahl von zwei bis drei den Wünschen der Frauen entsprechend. Alle diese Motive wirken zusammen, um den prae- ventiven Geschlechtsverkehr dort, wo er einmal bekannt ist, sich so festsetzen zu lassen, wie den Gebrauch der allernothwendigsten Güter, des Feuers, des Wassers, der vier Pfähle und des Dachs. Das mag als eine zu gewagte Behauptung erscheinen, aber sie ist es für mich durchaus nicht, sobald ich mir meine Eindrücke als Arzt in’s Gedächtniss rufe. Da sehe ich nur Männer und Frauen, besonders aber Frauen, die sich sehr energisch dagegen sträuben, mehr wie zwei bis drei Kinder zu haben. Ausnahmen sind sehr selten. Zu- erst wird die vom Arzt angerathene Enthaltsamkeit ver- sucht, aber bald überzeugt man sich, dass sie undurch- führbar ist, nach kurzer Zeit wird sie durchbrochen, und eine neue Schwangerschaft erfolgt ziemlich rasch. Sowie aber die Praeventivmittel bekannt sind, werden in diesen Familien, wenn schon ein paar Kinder da sind, neue Kinder nur selten, nur aus Versehen, wie z. B. unter leichter Alkoholwirkung, erzeugt. So sehr die Franzosen sonst Grund haben, den Alkohol zu verdammen, im Punkt der Erhöhung der Geburtenrate mag er manches Gute gewirkt haben, wie die noch niedrigere Kinderzahl der Ehe des nüchternen, malthusianischen Yankees von Neuengland wahrscheinlich macht. (Massachusetts zählte 1892 unter den Einheimischen 2,17 Geburten auf eine Eheschliessung). An den Versuch einer Einschränkung der Praeventiv- praxis, bezw. des Verkaufs der Praeventivmittel, durch das Gesetz, wie es manche französische Wirrköpfe vorgeschlagen haben, ist gar nicht zu denken. Wenn man die Erlangung der Praeventivmittel erschwert, so bewirkt man nur, dass ausser dem armen französischen Bauer auch der wohl- habendere Städter eine der schädlichsten Formen des Praeventiv-Verkehrs, den Coitus interruptus, übt, der nichts kostet und zu dem man keinerlei künstlicher Mittel bedarf. Um gegen die Abnahme der Geburten in der Ehe wirklich etwas auszurichten, gäbe es vielleicht eine Mög- lichkeit: die Erziehung des heranwachsenden Geschlechts zu einer viel höheren Rücksicht auf das allgemeine Wohl, als bei den Männern und Frauen von heute vorhanden ist, denen zwar die Schule ein wenig gelehrt hat: Einer für Alle, denen aber Theater, Romane und das Beispiel der wohlhabenden Klassen nur zu oft predigen: Jeder für sich. Das einmal eine solche Aenderung der Sinnesart statt- finden könnte, wäre ja möglich, ist aber unwahrscheinlich und würde, wie alle Aenderungen des psychischen Inhalts bei den Massen, allermindestens viele Jahrzehnte in An- spruch nehmen, so dass für die nächste Zeit keines Falls darauf zu rechnen wäre. Das Dreikindersystem muss also wohl ruhig in Kauf genommen werden. Höchstens möchten so reichliche staatliche Entschädigungen für Kinder- pflege, wie wir sie unten erwähnen werden, eine Aenderung zum Guten versprechen. Es bliebe demnach den Franzosen hauptsächlich nur übrig, die Sterblichkeit noch mehr herabzudrücken und die Ehefrequenz zu heben. Diese beiden Mittel scheinen mehr im Bereich einer näheren Möglichkeit zu liegen: Die Sterblichkeit der letzten Jahre betrug immer noch 20—22 ‰. Wie wir oben sahen, betrug sie in anderen Ländern 17 ‰, ja 15—16 ‰. Es wäre also durch energische Verbesse- rung der Lebensbedingungen und eine, wie wir später sehen werden, vielleicht erwerbbare höhere Erhaltungskraft der Individuen wohl möglich, die Sterblichkeit um einige Promille herabzudrücken, was vorläufig genügen würde, die Ab- nahme der Bevölkerung aufzuhalten. Das am meisten versprechende Mittel jedoch scheint die Erhöhung der Eheziffer zu sein. Wie ich schon vor- her erwähnte, hat sich diese Ziffer im Lauf des Jahrhunderts nicht erheblich verändert, sie schwankte zwischen 7,5 und 8 ‰. Ein Promille mehr würde genügen, die Geburtenziffer 2—3 ‰ in die Höhe zu treiben. Frankreich wird folgenden Maasregeln auf die Dauer wohl kaum entrinnen können, die alle darauf zielen, die Ehebedenken bei den jungen Leuten zu zerstreuen. Leichte, kostenlose Eheschliessung, leichte Ehescheidung, staatliche Unterstützung jeder Schwangern und Mutter durch eine Summe, die für den bescheidenen Unterhalt während der zweiten Hälfte der Schwangerschaft, für die Geburtskosten, die Wochenpflege, den Unterhalt von Mutter und Kind während des ersten Jahres und des Kindes bis zur Pubertät ausreicht. Dass diese Forderungen an und für sich gerecht sind, liegt auf der Hand, weil sie die Unverheiratheten und Kinderlosen zur Beihilfe an den Opfern heranziehen, die heute allein von den Eltern im vitalsten Interesse des Volks getragen werden. Da die Kosten der Durchführung wohl eine Verdoppelung des jetzigen Etats bewirken würden, so würde keine Regierung von heutzutage auch nur im Ent- ferntesten daran denken, die Einführung der dadurch noth- wendig gewordenen Besteuerung zu übernehmen. Halbe und Viertels-Massregeln, wie Auszahlung einer kleinen Summe an jedes neue Ehepaar zur Gründung eines Hausstandes, würden nicht viel nützen, und so ist wohl nur nach einem allmähligen, aber durchgreifenden wirthschaftlichen System- wechsel in der Richtung des Socialismus Hoffnung für die dauernde Erhöhung der Geburtenrate und die Erhaltung der um die Menschheit so verdienten französischen Rasse vorhanden. Eine andere sinkende Culturrasse sind die alteinge- sessenen Yankees der Neuengland-Staaten. In Connecticut zählte man unter den Einheimischen in den Jahren Das ergiebt jährlich, da die Auswanderung nur gering ist, eine Abnahme des eingeborenen Elements von über 2000 Seelen. Die thatsächliche durch Geburtenüberschuss bewirkte Zunahme der Bevölkerung des Staates um 8752 Seelen wird allein den Eingewanderten verdankt.14., 15. und 16. Annual Report of the Connecticut State Board of Health, New Haven 1892—94. Aehn- lich liegen die Verhältnisse in den anderen Neuengland- Staaten. In Rhode-Island fanden unter den Eingeborenen statt in den Jahren Dabei betrug 1891 der gesammte Geburtenüberschuss des Staates 1874, im Jahre 1892 6200 Seelen.XL. Registration-Report of Rhode Island. Providence 1893. In New-Hampshire wiesen die Einheimischen für das Jahr 1891 3694 Geburten und 5637 Sterbefälle auf, d. h. einen Ueberschuss der Todesfälle von 1943.Annual Registration-Report of New Hamsphire. Concord 1890. Im Hauptstaate Neuenglands, Massachusetts, wurden im Jahre 1892 unter den Einheimischen 21800 Kinder ge- boren und 35097 Todesfälle verzeichnet. In diesem Staate, wohl dem cultivirtesten der ganzen Union, verringerte sich also das eingeborene Element in einem Jahre um 13297 Seelen. Dabei betrug der gesammte Geburtenüberschuss des Staats 17062, so dass das fremde Element nicht nur diesen Ueberschuss produzirte, sondern auch noch das De- fizit bei den Einheimischen decken musste.51. Registration-Report of Massachusetts. Boston 1893. Diese Abnahme des eingeborenen Elements, die aller- dings durch Auswanderung nach dem Westen etwas geringer ist, als sie scheint, ist eine Thatsache, die nicht nur von weiter- blickenden Yankees selbst mit Sorge betrachtet wird, sondern die auch der weltbürgerliche Culturfreund sehr zu beklagen hat. Nicht nur gehen dadurch die Früchte Jahrhunderte langer Anpassung des Europäers an das amerikanische Klima wieder verloren, sondern der erfindungsreiche und erwerbs- kräftige, aber auch schwungvolle und generöse Charakter des Yankees würde in dem Concert der civilisirten Völker schwer vermisst werden, wenn dieser Niedergang andauerte. Indessen auch hier ist nach den Eindrücken von Aerzten, wie ich auf Grund eines mehrjährigen Aufenthalts in Neu- england nur bestätigen kann, die „Krankheit mehr eine mo- ralische als eine physische“, so dass Hoffnung auf Heilung vorhanden ist. Eine ähnliche Tendenz, nur in bedeutend geringerem Grade zeigt sich bei den Juden der Vereinigten Staaten. Im 19. Bulletin des letzten Census wird über 60360 Juden in 10618 Familien berichtet, über die mit Hülfe von Rab- binern umfangreiches statistisches Material gesammelt war. Die Schlüsse zu dem der Censusbericht kommt, sind kurz die: Die Eherate ist gering, nämlich nur 7,4 ‰ gegen 9—11 ‰ sonst in den nordöstlichen Staaten; die Geburten- rate ist ebenfalls ziemlich klein: 20,8 ‰; die Sterberate ist dafür ausserordentlich gering, nur 7,1 ‰, etwa nur halb so gross wie bei anderen Amerikanern von ähnlicher Lebenshaltung. Dabei leben die Juden meist in den un- gesunderen Städten. Von 18115 Männern, deren Beruf festgestellt wurde, waren nur 84 Arbeiter und 383 Land- leute, 14527 gehörten dem Handelsstande an. Der ganz ausnahmsweis günstige Geburten-Ueberschuss nimmt jedoch um so mehr ab, je länger der Aufenthalt der jüdischen Geschlechter in Amerika dauert, und zwar nicht nur durch ein Fallen der Geburtenrate, (5,39 Kinder auf eine einge- wanderte, 3,56 auf eine eingeborene jüdische Mutter), son- dern auch durch ein Ansteigen der Sterberate. Die jüdische Rasse in Amerika weist also in Bezug auf Bevölkerungs- bewegung eine ähnliche Tendenz auf als die Yankees, nur ist sie bei ihr noch im Anfang, so dass bis jetzt die Zu- nahmerate nur vermindert, nicht aufgehoben ist. Aufsteigende Rassen. Ich habe den Fall Frankreichs etwas ausführlicher be- sprochen, weil er einzig da steht unter den Völkern arischer Rasse in Europa. Alle anderen sind in rascherem oder langsamerem Anwachsen begriffen. Irland, das eine Aus- nahme zu machen scheint, schuldet seinen Rückgang der starken Auswanderung, nicht etwa Fehlbeträgen der Ge- burtenrate. Europa mit seinen Tochterländern Amerika und Australien, die zusammen die Hauptmasse der europäischen Arier und ihrer Abkömmlinge, kurz West- arier, enthalten, zeigen eine starke Bevölkerungszunahme, die angesichts der Thatsache, dass die Arier unter den grossen Rassen vorzüglich den Namen einer Culturrasse verdienen, hoch erfreulich ist. West-Arier. Wenn wir in Folgendem versuchen, in rohen Umrissen die Zunahme-Verhältnisse der West-Arier festzustellen, so müssen wir uns bewusst bleiben, dass wir dazu nur zwei Merkmale haben: die Angehörigkeit zur weissen Rasse und die zu einer der west-arischen Sprachen. Das erste Mo- ment schliesst z. B. die englisch und spanisch sprechenden Neger und Indianer Amerikas aus, das zweite giebt wenig- stens eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass mit dem Sprach- gebiet die Verbreitung der Rasse proportional ist. Das ist jedoch nur ein Nothbehelf, wir können nicht genau weder die stattgehabten Vermischungen mit anderen Rassen con- troliren, noch die Verschiebungen durch die in diesen Mischungen ungleichartig auf die einzelnen Bestandtheile einwirkende natürliche Auslese bestimmen, noch auch wissen, wie weit sich die Sprache der Westarier auf andere unterworfene Rassen einfach ausgedehnt hat, oder West- arier andere Sprachen angenommen haben. Trotzdem dürfte die Zahl der eine west-arische Sprache als Mutter- sprache redenden Weissen ein ungefähres Bild der Ver- breitung der west-arischen Rasse selbst abgeben. Bei den Ostariern, den Hindus, Iranern etc. sind die Verhältnisse in dieser Beziehung noch unsicherer, so dass ich auf ihre Hineinziehung verzichten will. Europa, das nach Mulhall vor dem 15. Jahrhundert nie die Zahl von 50 Millionen erreichte, zählte 1866 etwa 283,9 Millionen, 1880 schon 327 1890 362 Millionen Ein- wohner trotz seiner grossen Auswanderung. Von dieser ganzen Ziffer waren 1860/61, nach Böckh nur 6,8 % nicht Westarier, 1890 7,2 %. Daraus folgen als absolute Zahlen für die Arier in Europa für 1860/61 etwa 268,6 Millionen, im Jahre 1890 etwa 336,5 Millionen. In Amerika wohnen jetzt etwa 60 % Arier, und zwar so gut wie ausschliesslich Germanen und Romanen, und 40 % Nicht-Arier: Indianer, Neger und Mischlinge, von denen die Idianer absolut abnehmen, und die Neger und Misch- linge sich nicht so sark vermehren als die Weissen, so dass der Haupttheil der Bevölkerungszunahme Amerikas auf die Arier zu setzen ist. Amerika hatte um 1860 etwa 71,5 Millionen Ein- wohner, um 1890 dagegen 123 Millionen, von denen 75 Millionen als Arier 7 „ „ Indianer 9 Millionen als Neger 32 „ „ Mischlinge der drei Rassen angesehen werden. Nehmen wir den Procentsatz der Arier, der jetzt ca. 60 ist, und für 1870 auf ca. 52 geschätzt werden kann, für das Jahr 1860 zu 50 an, was angesichts der geringeren Vermehrung der Nichtarier wohl noch zu hoch gegriffen ist, so erhalten wir immer noch während der 30 Jahre eine Zunahme der Arier von etwa 36 Millionen auf 75 Millionen. In Australien mit Neuseeland spielen die beständig ab- nehmenden Urrassen fast keine Rolle mehr; ihr Aussterben ist nur eine Frage der Zeit. Gegenwärtig beträgt ihre Zahl noch etwa 240000, die nicht in den folgenden Ziffern enthalten sind. Australien mit Neuseeland hatte 1860 etwa 1,3 Milli- onen Einwohner, so gut wie ausschliesslich germanischer Zunge, 1890 etwa 3,8 Millionen, von denen 41000 Chinesen waren. Die Gesammtbevölkerung von Weissen, die wir wenig- stens der Sprache nach als Westarier ansehen müssen, stieg also von: ca. 306 Millionen um’s Jahr 1860 auf ca. 413 „ „ „ 1890, wuchs also um mehr wie ein Drittel, nämlich 35 %, während die Bevöl- kerung der ganzen Erde sich in derselben Zeit von min- destens ca. 1250Geschätzt nach Behm’s geogr. Jahrbuch, 1. Bd., wo die Erd- bevölkerung für Mitte der 60er Jahre auf ungefähr 1350 Millionen beziffert wird und nach Kolb, der für 1868 1270 Millionen angiebt. auf 1472Nach Wagner und Supan 1480 Millionen für das Jahr 1890 bei einer Zunahme gegen 1880 von 79 Millionen. Millionen vermehrte, also nur um etwa 18,5 %, d. h. sie wuchs etwa nur halb so langsam. Daraus erhellt der Sieg der westarischen Rassen im Kampf um’s Dasein mit der Gesammtheit der anderen Rassen. Die Zahl der Arier überhaupt wird gegenwärtig auf 633 Millionen oder etwa 44 % der Erdbevölkerung geschätzt. Germanen. Unter den arischen Rassen haben die Germanen für uns das nächste Interesse, da unser deutsches Volk zu ihnen gehört. Wir wollen desshalb kurz Bevölkerungs- ziffer und Zunahmerate ihrer Hauptwohngebiete anführen. Die Germanen zerfallen heute in drei grosse sprach- liche Unterabtheilungen: die Skandinavier in Schweden, Finnland, Norwegen, Island, Dänemark und Nord-Schleswig, zweitens die Deutschen in Deutschland, den Niederlanden und Theilen Belgiens, der Schweiz, Oesterreich-Ungarns und Russlands, drittens die Angelsachsen in Grossbritannien, Irland, Britisch Nordamerika, Vereinigte Staaten von Amerika und Australien mit Neuseeland. Die gesammte germanische Sprachwelt, deren Verbrei- tung unter den Weissen wohl ungefähr mit der der ger- manischen Rasse proportional ist, zählte im Jahre 1860/61 in Europa etwa 86,9 MillionenNach R. Böckh, Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet. Berlin 1869., um 1860 in Nordamerika etwa 27,8 Millionen, davon ca. 25700000 in den Verein. StaatenCompendium of the 11 th. Census. Part I. Population. S. XXXV, XCVIII und Census Bulletin vom 16. Februar 1893. Washington. D. C. Seite 2. Aus diesen beiden Quellen abgeschätzt. und ca. 2100000 in Britisch Nordamerika, sowie im Jahr 1860 in Australien und Neuseeland etwa 1300000 Germanen. Das ergiebt zusammen um das Jahr 1860 herum eine germanische Volkszahl von ungefähr 116 Millionen, d. h. 38 % der Westarier und etwa 9,2 % der Erdbevölkerung. Um das Jahr 1890 herum betrug die Zahl der Ger- manen in Europa 111937000, in Nordamerika 52,7 Milli- onen, davon 3400000 in Britisch Nordamerika und etwa 6 49300000 in den Vereinigten Staaten. Letztere Ziffer ist dadurch gewonnen, dass von den 54984000 Weissen, die 1890 im Gebiet der Vereinigt. Staaten gezählt wurden, etwa 5700000 als Nicht-Germanen abgezogen wurden.Abgeschätzt nach dem Extra-Census-Bulletin vom 1. No- vember 1894. Washington. D. C. S. 12. Australien mit seiner beinahe rein germanischen Be- völkerung zählte 1890 3,8 Millionen. Diese drei Posten zusammen ergeben die Summe von 168,4 Millionen als Gesammtheit der Germanen im Jahre 1890 in den herangezogenen Hauptwohngebieten. Das ergiebt gegen 1860 eine Zunahme von etwas mehr als 45 %. Von den Westariern machten die Germanen im Jahre 1890 40,8 % aus, gegen 38 % im Jahre 1860, und von der Gesammt-Erdbevölkerung 12,8 %, gegen 9,2 % im Jahre 1860. Aus der Thatsache, dass die Westarier sich von 1860—90 um 35 %, ihr germanischer Zweig dagegen in in derselben Zeit um 45 % vermehrte, erhellt, dass die Germanen bedeutend rascher anwachsen, als der Rest der Westarier, und sich dadurch als im Kampf um’s Dasein höchst tüchtige Zweige derselben kundgeben. Uns als Deutsche interessirt noch, wie sich unter den Germanen wieder die einzelnen Stämme seit 1860 ver- schoben haben. 1860/61 wurden geschätzt: in Europa 52140000 Deutsche und Niederländer, 27260000 Engländer, 7530000 Skandivavier,Nach R. Böckh, a. a. O. S. 307. 1860 in Nord Amerika 4000000 Deutsche und Niederländer, 23500000 Engländer, 250000 Skandinavier, 1860 in Australien 50000 Deutsche, 1250000 Engländer, zusammen etwa 116 Millionen Germanen, davon etwa 56 Millionen Deutsche, d. i. 48,4 %, „ 52 Millionen Engländer, d. i. 44,8 %, und „ 7,8 Millionen Skandinavier, d. i. 6,7 %. Engländer und Deutsche hielten sich also im Grossen und Ganzen die Wage. Dreissig Jahre später, 1890, schätzte man in Europa 66734000 Deutsche (stets einschl. Niederl.), 35703000 Engländer, 9500000 Skandinavier, in Nordamerika 8000000 Deutsche, 42900000 Engländer, 1800000 Skandinavier, in Australien 200000 Deutsche, 3500000 Engländer, 100000 Skandinavier, zusammen etwa 168400000, davon ca. 75 Millionen Deutsche, also 44,5 %, „ 82 „ Engländer, also 48,7 %, und „ 11,4 „ Skandinavier, also 6,8 %. Daraus geht hervor, dass die germanischen Stämme sich zwar nur wenig in Bezug auf die Rate ihrer Zunahme unterscheiden, aber es scheint doch, dass die Angelsachsen rascher fortschreiten, als die übrigen Germanen. Völlig sicher sind diese Angaben natürlich nicht; für Europa ist ein genügender Grad von Genauigkeit vorhanden, aber in Nordamerika kann die Abtrennung der Angelsachsen von den anderen Germanen nur eine sehr rohe sein, da letztere sich sprachlich rasch aufsaugen lassen, ohne dabei in der Kindererzeugung den Angelsachsen irgendwie nach- zustehen. Dieses Aufsaugen der deutschen Sprache in Amerika geht so rasch vor sich, dass ihr allmähliches Ver- schwinden nur eine Frage der Zeit ist. Für Europa allein dagegen haben wir ziemlich zuver- lässige Daten, natürlich auch nur nach den Sprachen ab- 6* geschätzt. Nach Böckh’sa. a. O. S. 307. gründlichen Berechnungen zählte Europa 1860/61 in Millionen: 52,14 Deutsche = 18,37 % 27,26 Angelsachsen = 9,60 „ 7,53 Skandinavier = 2,65 „ zusammen 86,93 Germanen = 30,62 % 92,86 Graeko-Romanen = 32,7 % 78,71 Slaven = 27,7 „ 3,00 Kelten = 1,1 „ 3,00 Letten und Littauer = 1,1 „ 4,06 Juden = 1,4 „ 15,30 andere, nicht westar. Stämme = 5,4 „ 283,86 100,0 % um 1890 in Millionen: 66,734 Deutsche = 18,42 % 35,703 Angelsachsen = 9,86 „ 9,5 Skandinavier = 2,62 „ zusammen 111,937 Germanen = 30,80 „ 106,732 Graekoromanen = 29,5 „ 111,312 Slaven = 30,7 „ 3,380 Kelten = 0,9 „ 3,150 Letten u. Littauer = 0,9 „ 5,970 Juden = 1,6 „ 19,793 andere, nicht west- arische Stämme = 5,6 „ 362,274 100,0 „ Der hevorstechendste Unterschied in den beiden Zahlen- reihen besteht in der Abnahme der Gräkoromanen um fast 10 % ihres früheren Antheils und der Zunahme der Slaven um ebenso viel. Der Antheil der Germanen hat nur sehr wenig, um 0,6 % zugenommen. Dagegen hat sich der Antheil der Juden um mehr als 14 %, der der nichtwestarischen Stämme um beinahe 4 % vermehrt. Die Juden haben also von allen Rassen in Europa den stärksten Aufschwung genommen. Was die Verschiebungen innerhalb der europäischen Germanen selbst anlangt, so waren von ihnen d. h. die Engländer scheinen auf Kosten der Deutschen und noch mehr der Skandinavier zuzunehmen. Um kurz das allgemeine Weltbild der Rassenver- schiebung, wenigstens soweit die West-Arier in Betracht kommen, zu recapituliren: Auf der ganzen Erde eilen die Westarier der Gesammtheit der anderen Rassen voran, die Germanen der Gesammtheit der nicht-germanischen West- arier, und die Engländer den anderen Germanen. — In Europa dagegen haben die Westarier gegen die anderen Stämme eine leichte Einbusse. Die Slaven, nächst ihnen in bedeutend geringerem Grade auch die Germanen, über- flügeln die anderen Westarier, und unter den Germanen scheinen die Engländer am raschesten anzuwachsen. Instructiv für das relative Umsichgreifen der Sprache und dadurch des Geistes der einzelnen westarischen Rassen überhaupt ist eine Zusammenstellung von MulhallThe World Almanac a. Encyclopedia. New York, 1894. S. 59.: Die grösseren europäischen Sprachen wurden in der Welt gesprochen im Jahre 1801 von 161,8, im Jahr 1890 von 401,7 Millionen. Davon entfielen in Procenten auf: Die englische Sprache wird Weltsprache, wenigstens in der civilisirten Welt. Ein Wink für unsere wohlmei- nenden Volapük-Schwärmer und für unsere zopfigen La- teiner und Griechen. Staaten mit deutscher Bevölkerung. Das deutsche Reich, das den Haupttheil der deutschen Rasse in seinen Grenzen beherbergt, zeigt seit Jahrhunderten eine regelmässige Zunahme seiner Bevölkerung trotz vieler Kriege und trotz starker Auswanderung. Auf dem heutigen Reichsgebiet wohnte eine Bevölkerung von 24833000 im Dez. 1816 26294000 „ „ 1820 32787000 „ „ 1740 37747000 im Dez. 1860 45236000 „ „ 1880 49428000 „ „ 1890, die mittlere Bevölkerung von 1894 war 51217000. Die Bevölkerung hat sich also seit den letzten 75 Jahren unge- fähr verdoppelt. Die Geburtenrate ist relativ hoch und die Sterbeziffer mittelgross. Auf 1000 der mittleren Be- völkerung kommen jährlich Wir haben hier das Bild eines kräftig wachsenden Volkes vor uns, das sich in seinen elementaren Lebensvorgängen höchst augenfällig von dem französischen unterscheidet. Hand in Hand mit der sich ziemlich gleich bleibenden Geburtenrate gehen wenig schwankende Ziffern für Ehe- frequenz und eheliche Fruchtbarkeit: Die jährliche Zunahme der Bevölkerung beträgt denn auch trotz der grossen Auswanderung (1889—93 über 500000) von 1841—45 9,6 ‰ „ 1846—50 5,7 „ „ 1851—55 4,0 „ „ 1856—60 8,8 „ „ 1861—65 9,9 „ „ 1866—70 5,8 „ von 1871—75 9,1 ‰ „ 1876—80 11,4 „ „ 1881—85 7,0 „ „ 1886—90 10,7 „ „ 1891—94 10,0 „ Aus und uach dem Statist. Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1894. S. 2 u. 12. Die Vertheilung der Sprachen gestaltete sich folgen- gendermassen: Im Jahre der Gründung des Reichs waren 90,75 % seiner Bevölkerung Deutsche, im Jahr 1890 91,8 %. Die Deutschen haben also relativ etwas zugenommen, und zwar auf Kosten sämmtlicher anderen Volkselemente mit Ausnahme der Skandinavier. Von der Gesammtbevölke- rung waren: Was speziell die vielbesprochene Verschiebung des polnischen Elementes in Preussen anlangt, so mögen folgende Ziffern, die der Zeitschrift des kgl. preuss. statist. Bureaus (33. Jahrgang, S. 194 u. 195) entnommen sind, einen An- halt gewähren: Die Polen, einschliesslich Masuren und Kassuben, machten 1867 10,7 % der Bevölkerung Preussens aus, 1890 nur noch 9,94 %, es ist demnach in den 23 Jahren eine kleine Abnahme zu verzeichnen. Diese Abnahme ist je- doch keine gleichmässige, sondern es giebt einige Districte, wo die Polen stärker zugenommen haben als die Deutschen, das sind die Regierungsbezirke Cöslin, Bromberg, vor allem aber Posen. Von den sonstigen slavischen Stämmen Preus- sens, die nur unbedeutende Bruchtheile der Bevölkerung bilden, haben die Wenden beträchtlich abgenommen, da- gegen die Tschechen, die hauptsächlich in Oberschlesien wohnen, sich deutlich vermehrt. Die Gesammtheit der Slaven hat abgenommen. Die Juden, deren Zahl in Europa so stark angewachsen ist, sind im Deutschen Reich hinter der übrigen Bevölkerung zurückgeblieben. Hier kamen auf je 1000 Einwohner im Jahre 1871 12,5, 1880 12,4 und 1890 11,5 Juden. Die Schweiz hatte 1860/61 2510500 Einwohner, davon waren etwa 1761000 oder 70,3 % Deutsche. Im Jahre 1888 stieg die Einwohnerzahl auf 2933000, die Zahl der Deutschen auf 2092000 oder auf 71,3 % der Bevölkerung. Die Deutschen haben also in den letzten Jahrzehnten je- denfalls ihren Stand behauptet. Auf dem heutigen Gebiet Oesterreich-Ungarns ohne Bos- nien zählte man nach Böckh 1860/61 8400000 Deutsche (ohne Juden) unter einer Gesammt-Bevölkerung von 33978400, im Jahre 1890 9583000 Deutsche unter 39850000 Ein- wohnern. Der Procentsatz der Deutschen betrug 1860/61 24,72, im Jahre 1890 dagegen nur 23,15. Die Sprachen- zählungen sind in Oesterreich-Ungarn nicht zuverlässig genug, um aus dieser Abnahme des Procentsatzes einen Nieder- gang des Deutschthums mit Sicherheit zu erschliessen, allein er wird doch sehr wahrscheinlich gemacht. Was nützen dagegen die vielen Lieder und Reden, in denen unsere österreichischen Volksgenossen von deutscher Kraft singen und sagen, was nützen die Turn- und Schützenver- eine, die Festbankette und der Streit um Strassenschilder? Im Schooss der Familie entscheiden sich die Kämpfe der Rassen. Im europäischen Russland (mit Polen und Finnland) schätzte Böckh die Zahl der Deutschen für 1860/61 auf 854000 oder 1,27 % der Bevölkerung. Im Jahre 1891 zählten die Deutschen 1360000 oder 1,39 % der Bevöl- kerung. In den Niederlanden mit Luxemburg betrug der Pro- centsatz der Deutschen, einschliesslich Niederländer, 1860/61 97,87 %, 1889/90 97,12 %. In Belgien machten Deutsche, einschliesslich Vlamen, 1860/61 55,75 %, im Jahre 1890 55,35 % der Bevölkerung aus. Diese Unterschiede fallen vollkommen in die Fehlergrenzen, so dass von einer nennenswerthen Verschiebung in diesen beiden Staaten keine Rede sein kann. Das Vordrängen der Deutschen gegen andere Volks- elemente scheint sich also auf das Deutsche Reich und die Schweiz zu beschränken. Wir haben bei den obigen Angaben nur Westarier und Juden als Culturrassen berücksichtigt. Damit soll nicht ge- sagt sein, dass es nicht vielleicht noch andere Rassen giebt, die in ähnlicher Weise culturfähig sind. Man wird sofort an die Magyaren denken, vielleicht auch an die Ja- paner. Allein die Betrachtung der Japaner, die ihre hohe Stellung in Asien höchst wahrscheinlich einer glücklichen Mischung von Mongolen und Malaien ver- danken, würde uns zu weit abführen. Was die Magyaren betrifft, das einzige grössere, nicht-arische Sprachelement Europas, so bilden sie vom Rassenstandpunkt aus eine so mannigfaltige Mischung, besonders auch in Folge der rück- sichtslosen Magyarisirung der ungarischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, dass es sehr zweifelhaft ist, ob finnische oder arische Elemente bei ihnen überwiegen. 3. Capitel. Die Vervollkommnung des Typus. Wesen der Vervollkommnung die Verstärkung und höhere Differenzirung der Regulationskraft. Gorilla, Neger, Weisser. Ge- hirnentwickelung. — Vollkommnere und stärkere Convariante. Rück- schritt der Organisation. Panmixie. Panmixie beim Menschen? Schönheit, Altruismus, hohes Alter. — Rassenhygienische Forderungen für Vervollkommnung des Typus und Vermehrung der Zahl. — Hat sich der menschliche Typ in den letzten Jahrtausenden vervoll- kommnet? Schreitet er gegenwärtig noch fort? — Die besten Rassen. Westarier, Juden. Wesen der Vervollkommnung. Vgl. ausser bereits früher angeführten Werken Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Deutsch von Carus. III. Aufl. Stuttgart 1875. — Haeckel, E. Anthropogenie. III. Aufl. Leipzig 1877. Worin besteht das Wesen der Vervollkommnung? Warum ist der Weisse vollkommener als der Neger und dieser vollkommener als der Gorilla? Doch offenbar, weil sich die kaukasische Rasse besser und öfter den verschie- denen Bedingungen der Erde anpassen kann als die Neger- rasse und diese wieder mehr als der Gorilla. Angenommen auf der Erde wären keine Menschen und keine Menschen- affen vorhanden, sondern nur die Gorillas. Dann würde diese Art sich allmählich auf einen bestimmten Theil der Erde ausbreiten und eine bestimmte Anzahl Individuen liefern können. Da die Gorillas nur in den Wäldern der heissen Zone leben können, Viehzucht und Acker- bau nicht treiben, und da sie bei ihrer geringen Intelligenz unfähig wären, das Meer zu kreuzen, um Amerika und Australien zu besetzen, so würden sie nur in verhältnis- mässig sehr geringer Zahl auf der Erde vorhanden sein. Die Neger könnten, wenn keine anderen menschlichen Rassen existirten, sich schon in viel grösserer Zahl auf der Erde ausbreiten. Sie verfertigen Werkzeuge, treiben Vieh- zucht, Ackerbau und Fischfang, befahren das Wasser und haben desshalb nicht nur die Potenz, ihrer jetzigen Heimath eine viel grössere Individuenzahl abzuzwingen, sondern können leicht in andere Länder auswandern, allerdings nur in die tropische und in die warmen gemässigten Zonen. In anderen Klimaten würden sie von Lungenleiden hinge- rafft werden. In Afrika ist thatsächlich vom Gorilla nur ein kleiner Theil der tropischen Wälder in sehr dünner Weise bevölkert, während der Neger einen grossen Theil Afrikas bewohnt und leicht einen qkm mit 10 Einwohnern bevölkern kann (die Bevölkerungsdichtigkeit des Kongo- staats). Der Kaukasier vollends würde, wenn alle anderen Rassen fehlten, mit Ausnahme der ungünstigen Theile der Tropen die ganze Erde ausfüllen und mit Hülfe seiner In- telligenz und der von ihr geschaffenen mächtigen Werkzeuge soviel aus dem Boden herausziehen, dass er bequem den qkm mit 50 bis 100 Individuen besetzen könnte. Eigent- lich sollten wir noch das Gewicht des Gorillas, des Negers und des Kaukasiers mit in die Berechnung ziehen, um zu sehen, wieviel lebendige Substanz in jeder dieser drei Formen sich auf der Erde würde halten können; dass ist aber bei der Aehnlichkeit der Körpergewichte (nur der Gorilla ist nennenswerth schwerer) und bei den so stark ausgeprägten Unterschieden in der Zahl der Individuen be- langlos. Dort, wo die Weissen nicht durch die Extralwirkungen der Tropen und die Neger nicht durch die der kälteren Zone zu stark hingerafft werden, und wo beide Rassen zu- sammenleben, wie in den Südstaaten der amerikanischen Union, tritt der Fortschritt der Weissen gegenüber dem Neger klar zu Tage. In den Jahren von 1880—1890 vermehrten sich beide Rassen in den südatlantischen und südcentralen Staaten, die die grosse Masse der Neger der Union beherbergen, in folgender Weise: Compendium of the 11. Census. Part I. Washington, 1892. S. CVII. Der Census vom Jahre 1870 war in diesen Staaten unzuverlässig, und vor dem Bürgerkriege war die Einwan- derung der Neger zu gross, um frühere Zählungen als 1880 zum Vergleich heranziehen zu dürfen. Um nicht missverstanden zu werden, wollen wir hin- zufügen, dass solche Ziffern natürlich keinen strengen Be- weis für die höhere Beanlagung des Weissen involviren, allein sie machen sie doch ausserordentlich wahrscheinlich, besonders wenn man sie mit den weiter unten erwähnten Resultaten der Schulerziehung der Neger zusammenhält. Die starke Superiorität des Weissen über den Neger und des Negers über den Gorilla muss schliesslich darauf beruhen, dass die Regulationsfähigkeit gegen die Umgebung im ersten Falle beim Weissen, im zweiten beim Neger eine grössere ist, d. h. dass die Summe oder die Stärke der Regulationsmechanismen eine grössere ist, oder mit anderen Worten, dass das Spiel von Action nnd Reaction zwischen den äusseren Wirkungen und dem Organismus ein vielsei- tigeres und feineres ist. Das bedeutet aber für die sicht- bare oder unsichtbare Structur des Körpers eine grössere Complication. Das Wesen der Vervollkommnung scheint also in der vielseitigeren und feineren Functionirung und der damit verbundenen differenzirteren Structur zu liegen. Jedenfalls ist diese höhere Differenzirung weitaus das Haupt- moment dabei, wie von allen Biologen angenommen wird. Sehen wir uns nun die Fähigkeiten des Gorilla, des Negers und des Weissen darauf hin näher an, so bemerken wir kaum einen Unterschied in der rohen Erhaltungskraft gegen die einfachsten Natureinflüsse wie Witterung, Nah- rungsmangel etc., im Gegentheil, darin, wie in der groben Muskelkraft, ist vielleicht der Gorilla dem Neger überlegen. Dagegen fällt sofort auf, dass der Gorilla ausser gelegent- lich einem Stock keine Werkzeuge gebraucht, und dass er vielen Gefahren gegenüber, wo nur Schlauheit nützen würde, sich nicht erhalten kann, mit einem Wort, er ist nicht so intelligent wie der Neger. Ebenso steht es mit dem Unterschiede zwischen Neger und Weissen. Der Unterschied in Intelligenz und socialen Instincten ist auch hier ziemlich gross, wenn auch nicht so gross, wie zwischen Neger und Gorilla. Die mangelhaftere Ausbildungsfähig- keit der Negerkinder, selbst wenn die Erziehung mit der der Weissen gleich ist, ist eine Thatsache, die jedem amerikanischen Volksschullehrer geläufig ist. Selbst, wenn einzelne Neger bis zum Besuch von Colleges vordrangen, ist aus ihnen noch niemals eine hervorragende Intelligenz erstanden, und keine der grossen Geistes-Errungenschaften der Menschheit verdanken wir einem Neger.In den südatlantischen und südcentralen, den Neger-Staaten, wurden 1890 unter den eingeborenen Weissen 14—15 % Analpha- beten gezählt, unter den Negern 60—61 %, in den nordatlantischen und nordcentralen Staaten unter den eingeborenen Weissen 2,3—3,4 % unter den Negern 21—32 %, für die ganze Union sind die beiden Zahlen 6,2 % und 56,8 %. Ich glaube nicht, dass diese beträchtlichen Unterschiede ganz auf die frühere Sklaverei zurückgeführt werden können. Diese geistigen Unterschiede werden gut illustrirt durch die Entwickelungs-Unterschiede des Gehirns, also des Or- gans, an dessen chemisch-physikalische Functionen die geistigen Vorgänge als Parallelen geknüpft sind. Nach Hux- ley ist das höchste Gewicht des Gorillagehirns trotz der grossen Schwere des Gorillaleibes (über 100 kl) nicht mehr wie 570 g Wallace, a. a. O. S. 708., während das mittlere Hirngewicht beim männ- lichen Europäer 1360 g, beim männlichen Neger 1244 g beträgt.Kurella, H. Naturgeschichte des Verbrechers. Stuttgart 1893. Nach Herbert Spencer ist das Gehirn des civilisirten Menschen um 30 % schwerer als das des Wilden. Nach Broca verhält sich die Schädelcapacität des Euro- päers zu der des Negers wie 124,8:111,8. Professor Flo- wer giebt für den Schädelinhalt bei Afrikanern 1390 und für den bei Europäern 1490 ccm an, Barnard Davis nach zahlreichen Messungen 1412,6 bezw. 1509,2 ccm. Auch in Bezug auf den Windungsreichthum des Gross- hirns steht der Gorilla am tiefsten, der Weisse am höchsten. Dasselbe gilt vom Massenverhältniss des Grosshirns zu dem Rest des Centralnervensystems. Der Westarier hat das relativ schwerste, der Gorilla das relativ leichteste Gross- hirn. Doch wir wollen uns nicht in diese Organisations-Un- terschiede des Gehirns vertiefen, sondern nur daran erinnern, dass die grössere Vervollkommnung auf den letzen Stufen der organischen Entwickelung, bei den Spitzen der Säuge- thiere, fast ausschliesslich Hand in Hand mit einer Ent- wickelung der Grösse und Complication des Gehirns ging. WallaceWallace, a. a. O. S. 601. citirt darüber Marsh: „Das wirkliche Vor- handensein eines Fortschrittes in der Säugethierwelt Ame- rikas vom Beginne der Tertiärzeit an bis jetzt wird sehr schön durch die Zunahme des Gehirns nachgewiesen, in der wir den Schlüssel zu vielen andern Umwandlungen haben. Die ältesten tertiären Säugethiere, welche wir kennen, hatten sämmtlich ein sehr kleines Gehirn. … Es fand dann ein allmähliches Wachsthum des Gehirns während jener Periode statt, und es ist wichtig, dass dieses Wachsthum sich haupt- sächlich auf die Hemisphären des grossen Hirns, auf die höhere Abtheilung des Gehirns, beschränkte. Bei den meisten Ordnungen und Familien der Säugethiere ist das Hirn all- mählich mit stärkeren und zahlreicheren Windungen ausge- stattet und damit an Qualität so gut wie an Quantität vorgeschritten … Während des langen Kampfes um’s Dasein während der Tertiärzeit siegten — damals wie auch jetzt noch — die grösseren Gehirne. Die so ge- wonnene grössere Kraft machte nun manche Vor, richtungen überflüssig, welche von Urahnen ererbt- aber den neuen Verhältnissen nicht mehr angepasst waren.“ Weiterhin sagt Wallace selbst: Wallace, a. a. O. S. 707 „Es ergiebt sich hieraus, dass seit der Zeit, wo die Urmenschen zuerst aufrecht gingen, die Hände frei und nicht beim Fortbewegen nöthig hatten, wo ihre Gehirnthätigkeit sie befähigte, die Hände zur An- fertigung von Waffen und Werkzeugen, von Wohnungen und Kleidungsstücken zu verwenden, Feuer zum Kochen der Speisen zu erzeugen und Samen oder Wurzeln zu säen oder zu pflanzen, um die nöthige Nahrung zu erzielen, dass seit dieser Zeit die natürliche Zuchtwahl aufgehört haben muss, Modificationen ihres Körperbaues zu veranlassen, sondern vielmehr ihren Geist mit Hülfe des Organs des- selben, des Hirnes, weiter entwickelte. Auf diesem Wege mag der Mensch, der wahre Mensch, die Art Homo sapiens geworden sein — sogar schon in der Miocänzeit. Und während alle übrigen Säugethiere von einer Epoche zur anderen unter dem Einfluss der beständig wechselnden phy- sischen und durch andere Lebewesen bedingten äusseren Verhältnisse umgemodelt wurden, nahm er hauptsächlich an Denkvermögen zu, machte vielleicht aber auch Fort- schritte im Bau oder an Grösse; durch die Zunahme der Intelligenz allein war er im Stande, sich als Herr über alle Thiere und als der am weitesten verbreitete Bewohner der Erde zu behaupten.“ Wir erkennen hieraus, mit welcher enormen Kraft und Feinheit die Regulations-Mechanismen des Gehirns arbeiten, und dass sie ganz gut einige andere Regulationen über- flüssig machen konnten. So sind z. B. die Vorrich- tungen in unserem Körper, um langes Hungern und Dursten zu ertragen, entschieden schwächer als die der Wilden, da eben unser Gehirn besser für regelmässige Stillung sorgen kann. Unsere Zähne sind kleiner geworden, weil unser Gehirn die Speisen besser zu präpariren lehrt. Aus demselben Grunde, dem der besseren Regulirung durch das Gehirn, scheinen noch verschiedene Regulationen an- derer Organe gegen eine ganze Reihe von Extraleinflüssen von ihrer früheren Höhe herabgegangen zu sein. Diese stellenweise Vereinfachung ändert aber nichts daran, dass der Gesammtorganismus einer besseren Regulation fähig geworden ist, mit anderen Worten, dass die Gesammt-Er- haltungskraft durch die Ausbildung des Gehirns eine grössere geworden ist. Eine ähnliche Rolle, wie für die Erhaltung des Individuums, spielte das bessere Gehirn auch für die Fortpflanzungsfunctionen. Durch verfeinerte Beobachtung wurde die sexuelle Auslese bei der Gattenwahl eine schärfere, während der Schwangerschaft, der Säugungs- und der ganzen späteren Erziehungs-Periode war der hö- heren Intelligenz vollauf Gelegenheit gegeben, das ganze Fortpflanzungsgeschäft günstig zu beeinflussen, war also ihrem Träger eine wesentliche Verstärkung seiner Fort- pflanzungskraft. 7 Vollkommenere und stärkere Variante. Panmixie. Nach den obigen Ausführungen bedeutete ein besseres Gehirn für seinen Besitzer eine Verstärkung der gesammten Constitutionskraft. Zwischen einer vollkommneren Convari- ante und einer stärkeren war also in Bezug auf diesen Punkt kein Unterschied. Ebenso ist klar, dass auch alle anderen besseren Regulations-Vorrichtungen, wo sie uns offenbar werden, von uns Vervollkommnungen genannt werden müssen. Jede Erhöhung unserer Kraft, die Aussen- welt zu beherrschen und uns Geltung gegenüber unseren Artgenossen zu verschaffen, bezieht sich eben direct auf die bessere Möglichkeit, unsere Glücksbedürfnisse zu be- friedigen, die Quelle aller unserer Werthbegriffe. Jede Convariante, die vollkommener war als eine andere, war somit — gleiche Bedingungen vorausgesetzt — zugleich die im Kampf um’s Dasein stärkere. Hierauf basirt ja überhaupt die darwinistische Erklärung der gesammten auf- steigenden Entwickelung der Lebewelt. Es fragt sich nun aber, ist auch umgekehrt jede Con- variante, die stärker ist als eine andere, zu gleicher Zeit eine vollkommnere? Das sieht zuerst selbstverständlich aus. Und doch kennen die Biologen Beispiele, wo eine bessere Anpassung verbunden erscheint mit einer Vereinfachung des Functionen- systems des Organismus. Hierauf fussend, haben einige Naturforscher, unter ihnen besonders Nägeli Nägeli, C. Mechanisch physiologische Theorie der Ab- stammungslehre. München und Leipzig 1884. S. 326 u. ff. — Vgl. auch darüber Hauptmann, a. a. O. S. 344—349., Anpassungs- Vollkommenheit und Organisations-Vollkommenheit von einander geschieden, und ausser der durch den Kampf um’s Dasein regulirten Anpassung eine innere Tendenz zur Vervollkommnung angenommen. Allein, es ist dagegen mit Erfolg geltend gemacht worden, dass solche Beispiele rückgängiger Gesammt- Organisation, wenn überhauptIn solchen Fällen entgeht der Beobachtung eine etwaige grössere Complication der feineren Zellstructur wohl oft und der Molekularstructur immer., nur sehr selten vorkommen, und dass sie ausnahmslos dadurch charakterisirt sind, dass die betreffenden Wesen in einen ganz eng umschriebenen, in seinen Bedingungen einfacheren Umgebungskreis ge- bannt wurden, gleichsam in Sackgassen, aus denen heraus eine Weiterentwickelung in grossem Styl nicht möglich war. Ein Beispiel hierfür bietet uns der Olm (Proteus anguineus). Der Olm ist ein blass fleischrother Molch, der in den unterirdischen finsteren Gewässern des Karstes sein Wesen treibt. Er besitzt keine ausgebildeten Augen wie andere Molche, sondern nur kleine dunkle Pigmentkörnchen unter der Haut. Dies sind die Rudi- mente der ausgebildeten Augen, welche die noch im Licht lebenden Vorfahren der Olme besassen, und welche sich um so mehr zurückbildeten, je mehr sich ein Theil dieser Vorfahren von den Eingängen der Höhlen immer tiefer in die finsteren Räume hineinzog und dort Nahrung und Fortkommen mit Hülfe anderer Sinne fand. Der darwinistische Mechanismus solcher Rückbildung, die an einzelnen untergeordneten Organen auch beim Menschen vorkommt (Zähne, Wurmfortsatz), besteht haupt- sächlich darin, dass unter den wie bisher auftretenden Variationen des betreffenden Organs die Besitzer der ge- ringeren Grade seiner Anlage nicht mehr durch den Kampf um’s Dasein ausgemerzt werden, sondern sich unterschieds- los mit den Besitzern höherer Grade sexuell mischen — Weismann’s Panmixie oder Allesmischung — und daher ebenso gut durch die Fortpflanzung zur Vererbung ihrer Eigenschaften, in diesem Fall ihres geringer ent- 7* wickelten Organs, gelangen, wie die Besitzer der höheren Grade. Zum leichteren Verständniss wollen wir uns vergegen- wärtigen, wie sich der gewöhnliche Lebensprocess einer Art, z. B. der Vorfahren unserer Olme, abwickelt. Dieser Lebensprocess bestand darin, dass im Frühling die Molche, die den Winter überstanden hatten — 1. Generation, zur Fortpflanzung schritten und eine Menge Laich absetzten — 2. Generation. Von den darin enthaltenen Individuen, die zur einen Hälfte aus starken und zur andern aus schwachen Convarianten bestehen möge, verfielen während des Eier- und Larvenstadiums bis zur Begattungszeit im nächsten Frühling ein gewisser Theil schwacher wie starker Con- varianten, sagen wir von jeden ⅗, d h. 60 % aller Er- zeugten, nonselectorischen Schädlichkeiten. Durch selec- torische Einflüsse wurde ein gewisser anderer Theil, nämlich der Rest der schwachen Convarianten, also 20 % der Er- zeugten, vernichtet oder an der Fortpflanzung gehindert. Der übrigbleibende Theil der starken Convarianten, wiederum 20 % der Erzeugten, repräsentirte die Auslese der ganzen zweiten Generation und kam zum Laichen, also zur Production einer 3. Generation. Unter den neu Erzeugten der dritten Generation fin- den wir, gerade wie bei der zweiten, wieder einen Theil starke und einen anderen schwache Convarianten, trotzdem die Eltern doch schon auserlesene Individuen vorstellten, und man gemäss der Vererbung erwarten sollte, dass sie gleich starke Devarianten erzeugen würden. Das beobach- ten wir in der Natur aber nicht, sondern wir sehen bei fast allen Wesen, dass die Gesammtheit der Eltern bei ihrer Fortpflanzung die Tendenz hat, die Gesammtheit ihrer De- varianten schwächer werden zu lassen. Wir wollen das absteigendes Variiren der Art nennen. Die Ausjätung durch den Kampf um’s Dasein strebt. dann immer wieder, die schwächeren Devarianten von der Fortpflanzung aus- zuschliessen und so bei den neuen Eltern das Verhältniss von Starken und Schwachen in der alten Weise wiederher- stellen, oder wenigstens nur in einem ausserordentlich ge- ringen Grade günstiger zu gestalten. Denn aller Fortschritt in der organischen Natur geht nur sehr, sehr langsam von Statten, so dass die Darwinianer stets enorme Zeiträume für ihre behaupteten Umwandlungen in’s Feld führten. Die Erzeugten der dritten Generation mögen also unter sich wieder etwa 50 % starke und 50 % schwache Conva- rianten zählen. Wiederum müssen wir — wenn die Umgebung gleich bleibt — 60 % für den nonselectorischen Abgang ansetzen, ferner 20 % für die Ausjäte und 20 % für die Auslese, welch letztere in ähnlicher Weise starke und schwache Individuen zeugt, wie die früheren Sieger u. s. w. Im Kampf um’s Dasein werden Individuen mit mangel- haften Augen, die sowohl beim Ergreifen der Nahrung als beim Fliehen vor Gefahren einen schweren Nachtheil be- dingen, einen besonders schlimmen Stand gehabt haben, so dass Schlechtäugige unter den starken Convarianten so gut wie gar nicht, dagegen unter den schwachen häufig, nehmen wir an, zur Hälfte, vorkamen, d. h. unter den ge- sammten Erzeugten waren immer 25 % mit mangelhaf- ten Augen. Nehmen wir nun an, die sonnigen Gewässer, in denen unsere Molche leben, werden zur Laichzeit plötzlich — meinethalben auf dem für die Krain ja nicht ungewöhn- lichen Wege des Erdbebens — in unterirdische finstere Höhlen versenkt. Bei den Höhlengenerationen ist es von jetzt an gleichgültig, welche Beschaffenheit die Augen haben, ihre gute Ausbildung fördert nicht, ihre schlechte schadet nicht. Für die Augen tritt Panmixie ein. Die 25 % schlechtäugigen Convarianten kommen jetzt in dem- selben Maasse leicht, schwer oder gar nicht zur Fortpflan- zung wie die gutäugigen, so dass sich, ganz gleich, welche Beträge die nonselectorischen und selectorischen Abgänge annehmen, auch unter den Siegern 25 % mit schlechten Augen befinden werden. Diese Sieger erzeugen nun die zweite Höhlengenera- tion. Vor dem Erdbeben hatten die jedesmaligen Sieger, trotzdem sich unter ihnen keine Schlechtäugigen befanden, schon immer zu 25 % schlechtäugige Nachkommen her- vorgebracht. Jetzt werden die Sieger, die diesmal ja nur zu drei Vierteln gute Augen haben und sich mit dem Viertel Schlechtäugiger vielfach sexuell mischen, unter ihren Nach- kommen natürlich nicht bloss 25 % schlechtäugige haben, sondern mehr, falls nämlich Vererbungs- und Variations- Tendenzen gleich bleiben wie früher, woran zu zweifeln wir keinen Anlass haben. Nehmen wir also an, es seien unter den erzeugten Nachkommen, also der zweiten Höhlen- generation, nicht 25, sondern 30 % Schlechtäugige. Da beim Heranwachsen dieses Geschlechts und seinem Kampf um’s Dasein die Augenbeschaffenheit wiederum keine Rolle spielt, so werden unter den neuen Siegern bereits 30 % Schlechtäugige sein, also 5 % mehr als unter den Sie- gern der ersten Höhlengeneration. Letztere zeugten 30 % Schlechtäugige, folglich werden die Sieger der zweiten Generation aus denselben Gründen nicht nur 30 %, sondern mehr, vielleicht 35 % Schlechtäugige hervorbringen u. s. w. Hiermit ist erklärlich gemacht, wie die Vereinfachung der Umgebung oder, was dasselbe ist, die Aufhebung des Kampfes um’s Daseins für eines oder mehrere Organe die fortschreitende Entartung derselben bedingen kann. In ähnlicher Art würde verständlich, wie bei möglichst voll- ständiger Aufhebung des Kampfes um’s Dasein ein Nieder- gang beinahe der gesammten Constitutionskraft erfolgen würde. Wir haben in Obigem den gewöhnlichen Fall voraus- gesetzt, dass die im Kampf um’s Dasein siegreichen Con- varianten bei ihrer Fortpflanzung nicht nur gleich starke, sondern daneben auch schwächere Individuen erzeugen. Wie aus unserer Herleitung hervorgeht, musste in jedem solchem Falle, auch wenn die guten Eltern durchschnitt- lich nur ganz wenige schwächere Devarianten stets mit er- zeugten, — wir nannten das absteigendes Variiren der Art — der Rückgang nach Aufhebung des Kampfes um’s Dasein mit Sicherheit eintreten, und zwar um so rascher, je grösser die Tendenz zur Erzeugung schwächerer De- varianten war, und um so langsamer, je kleiner diese Ten- denz war. Ganz ohne diese Tendenz, also im Fall die erzeugten Devarianten durchschnittlich stets stärker waren als die Eltern oder als der Durchschnitts-Typ der gleichaltrigen Individuen der vorigen Generation — aufsteigendes Variiren der Art — würde allerdings die Panmixie keinen Rück- schritt mehr hervorbringen können, da eben das Variiren allein bereits das Fortschreiten besorgt. Die rückschritt- liche Tendenz derselben würde in diesem Fall nur hin- sichtlich der Zeit in Erscheinung treten, in so fern als sie den Fortschritt erheblich verzögern würde. Darwin er- wähnt die Möglichkeit des aufsteigenden Variirens von Arten ausdrücklich. (Entstehung der Arten S. 113). Je- doch ist es in der Natur sicher nur selten. Wir werden später bei der Besprechung des Schutzes der Schwachen auf diesen Gegenstand zurückkommen. Ein mitwirkendes Moment bei der Rückentwickelung eines nicht mehr ausgelesenen Organs ist der Vortheil, den diejenigen Individuen bei der Selection haben, welche dies Organ zwar in geringerer Anlage besitzen, aber die Ge- sammtheit ihrer ontologischen Bildungskraft nicht in ent- sprechendem Maasse verkleinert haben. Das relative Plus konnte anderen, nöthigeren Organen zu Gute kommen und war also ein um so grösserer Vortheil im Kampf um’s Dasein, je grösser es war, d. h. eine je mangel- haftere Entwickelung das nicht mehr ausgelesene Organ besass. Bei unserem Olm, dem ein gutes Auge in den finsteren Höhlen ebenso wenig etwas nützte, als ihm ein schlechtes schadete, waren diejenigen Individuen im Vor- theil, bei denen die Augen zu Gunsten anderer Sinnes- organe schlechter angelegt waren. Denn diese anderen Sinnesorgane, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl, waren jetzt für das Fortkommen allein ausschlaggebend. Die Verschlechterung einer Eigenschaft durch Pan- mixie ist also offenbar, sobald es sich, wie gewöhnlich, um absteigendes Variiren der Art handelt, und erklärt, wesshalb wir so manche Organe, die bei unseren Vor- fahren in der Organismenreihe gut ausgebildet waren, überhaupt nicht mehr oder nur noch in verkümmertem Zustand besitzen. Die Panmixie kommt in zweierlei Arten vor. Zuerst in Bezug auf Regulationen, die unnöthig werden, weil andere, neu aufgetretene stärkere Variationen sie über- flüssig machen, und dann in Bezug auf Regulationen, die unnöthig werden, weil die Umgebungs-Einflüsse einfacher geworden sind. Im ersten Fall bewirkt die Panmixie nur für einen Theil des Organismus eine Rückbildung, die jedoch Hand in Hand geht mit einer Gesammtverstärkung der Constitutionskraft. Diese Art Panmixie findet statt bei den vielen Regulationen, die das sich verbessernde Gehirn überflüssig macht, hindert also nicht die Vervollkommnung überhaupt. Im zweiten Fall bewirkt die Panmixie — immer das gewöhnliche absteigende Variiren der Art vorausgesetzt — einen thatsächlichen Rückgang in der Organisation, ein Zurücksinken von der erreichten Stufe der Vollkommen- heit, wenn auch zugleich die gute Anpassung an einen einfacheren Umgebungskreis aufrecht erhalten wird. Dieser zweite Fall sich erheblich vereinfachender Um- gebung, der Grundbedingung einer Vereinfachung der Structur, spielte bei der Entwickelung des Menschen bis in den Beginn unserer Zeitrechnung hinein jedenfalls keine irgendwie in Betracht kommende Rolle. Beim Menschen war jede stärkere Convariante auch zugleich eine vollkom- menere. Denn sein fortwährendes Bestreben, sich über die ganze Erde auszubreiten, sorgte immer wieder für neue, directe Complicirung der Extral-Bedingungen. Ob dies für die neueste Zeit anders geworden ist, ob neben dieser Complicirung noch stärkere vereinfachende Factoren in Wirksamkeit getreten sind, wollen wir weiter unten be- sprechen. Noch ein anderes Moment ist hierbei zu berücksichtigen. Bei den sich rückentwickelnden Organismen war der Kampf um’s Dasein fast ausschliesslich ein Extralkampf, der Soci- alkampf spielte so gut wie gar keine oder nur eine kleine Rolle. Beim Menschen war dies anders. Der Antheil des reinen Extralkampfes ist bei ihm stetig zurückgegangen, während der des Socialkampfes, besonders seit Ausbildung der Sprache und später der Waarenproduction, ganz ge- waltig zugenommen hat. Nun ist aber, auch wenn die selectorischen Extral- Factoren gleich bleiben, ja sogar, wenn sie milder werden, durch das Andauern des Socialkampfes die Möglichkeit der Erhöhung der durchschnittlichen Constitutionskraft ge- geben. Sobald z. B. selbst das allereinfachste Ergreifen von Nahrung und von Wohngelegenheit nicht direct, sondern erst nach einem Wettbewerb mit anderen Indi- viduen erfolgen konnte, hatten diejenigen Convarianten, die in Bezug auf diesen Socialkampf stärkere Regulations- Vorrichtungen, vor Allem bessere Gehirne hatten, stets einen Vortheil vor den übrigen, konnten die verfügbaren Nährstellen leichter occupiren und kamen eher zur Er- zeugung und Aufziehung von Kindern und dadurch zur Vererbung ihrer Eigenschaften. Die nächste Generation bildete also in Bezug auf alle im Socialkampf zweck- mässigen Regulationen, vor allem auf das Gehirn, eine Summe stärkerer Devarianten, sofern nur Variation und Vererbung günstig waren. Daraus folgt, dass in dieser neuen Generation schon eine etwas vollkommenere Or- ganisation nöthig war, um der Gesammtheit eine Nähr- stelle abzuringen, als in der vorigen. So konnte der So- cialkampf ohne sonstige Verschärfung der Extraleinflüsse für eine Vervollkommnung hervorragend mitwirken, ein Moment, das auch für die bessere Anpassung an die Ex- traleinflüsse deshalb von Bedeutung war, weil im allge- meinen die Sieger im Socialkampf durch ihre besseren Gehirne zugleich eine gute Waffe für den Extralkampf besassen. Hierin liegt ein Grund, warum der Social- kampf auch von Wichtigkeit ist für die einfache Vermehrung einer Rasse, die sich ja um so mehr ausbreitet, je besser sich ihre Individuen der Umgebung anpassen. Selbst die vereinfachten Extraleinflüsse bewirken aber noch lange keine Gesammtvereinfachung aller selectorischen Factoren, da die selectorischen Socialwirkungen ganz vor- wiegend der Auslese die Richtung geben. Nur bei einer Milderung dieses Socialkampfes, z. B. durch eine sehr geringe Geburtenziffer (Frankreich), kann überhaupt von einer wesentlichen Gesammt-Vereinfachung der äusseren Wirkungen gesprochen werden. Nach den bisherigen Ausführungen sind demnach für den Menschen vollkommnere und stärkere Variante identisch, wenigstens für den Begriff, den wir im Anfang des Capitels mit dem Worte Vervollkommnung verbunden haben. Aber erschöpft dieser Begriff auch alles das, was man sich gewöhnlich unter dem Wort vorstellt? Lassen wir einmal verschiedene einzelne Eigenschaften Revue passiren, die einen Menschen vollkommener er- scheinen lassen als einen anderen, und die auf den ersten Blick nichts mit der Stärke oder Schwäche des Individuums im Kampf um’s Dasein zu thun haben. Intelligenz, kräftige, gewandte Musculatur, gute Verdauung, Widerstandskraft gegen Witterungs-Einflüsse und Ähnliches sind Eigenschaften, deren Verbindung mit der Erhaltungs- oder Fortpflanzungs- kraft auf der Hand liegt. Aber ist diese Verbindung auch vorhanden z. B. bei der Schönheit der Gesichts- und Körperformen? Ganz offenbar. Ein schönes Mädchen wird eher zum Weibe begehrt als ein hässliches Mädchen, hat also eher Gelegen- heit Kinder zu zeugen; Entsprechendes gilt für einen im Sinne der Frauen schönen Mann. Aber auch in sehr vielen anderen Beziehungen und im oekonomischen Wettkampf ist ein sogenanntes „angenehmes Aeussere“ ein gewichtiger Empfehlungsbrief. Besitzer widerwärtiger Gesichter werden mir das sofort bestätigen. Selbst bei der Pflege der Kinder spielt deren Aeusseres eine Rolle. Hübsche Kinder werden nicht nur oft von den Eltern, sondern auch von den Lehrern und anderen Menschen vorgezogen. Aus allen diesen Gründen sind angenehme äussere Formen ganz direct eine Waffe im Socialkampf. Wesshalb wir Gefallen grade an einigen Gesichts- und Körperformen finden und an anderen nicht, hat für manche derselben eine sehr augenfällige Grundlage. Viele Form- charaktere sind Correlationen der Fortpflanzungsorgane im weitesten Sinne. Ein vollbusiges Weib gefällt den Männern, weil der gut entwickelte Busen eine bessere Säugung der Kinder garantirt, und weil diejenigen Männer, die flach- brüstige Frauen geheirathet haben, in ihren schlechter ge- nährten Kinder eher mitsammt ihrer Geschmacks- richtung ausgejätet wurden. Dieselbe Beziehung der schönen Form zur Güte der Fortpflanzungsorgane besteht zwischen dem breiteren Becken und einer ungestörten Geburt; den durch ein gewisses Fettquantum wohl ge- rundeten äusseren Körperformen und der für die Schwanger- schaft und die Säugungsperiode bedeutungsvollen Er- nährungskraft; der grösseren Sanftheit und Anmuth der Bewegungen und der liebevollen Kinderspflege, u. s. w. Beim Manne ist’s ähnlich. Wenn die Frauen im Allgemeinen etwas magere, muskelkräftige, intelligente Männer mit muthigem Gesichtsausdruck schöner finden als fette, schwache mit dummem oder feigem Ausdruck, so liegt der Grund darin, dass Männer der ersten Sorte eher im Stande waren, für Nahrung zu sorgen und Weib und Kinder vor Gefahren zu beschützen. Frauen, die an Männern der zweiten Sorte Geschmack fanden, oder die auch nur indifferent bei der Geschlechtswahl waren, liefen oft Gefahr, in ihren Kindern mitsammt ihrer Geschmacksrichtung im Kampf um’s Dasein ausgejätet zu werden. Dies geht noch weiter. Der Geschmack bei der sexuellen Zuchtwahl musste sich nicht nur in der Richtung der besseren Fortpflanzungskraft ausbilden, sondern auch in der Richtung der besseren individuellen Erhaltungskraft. Denn bei geringer Erhaltungskraft, Schwäche, Kränklichkeit und Tod eines der Eltern kam nicht nur die Zulänglichkeit und richtige Zeitdauer der Kinderpflege in Gefahr, sondern der schlechte Elter hatte ausserdem noch die Tendenz, seine schwache Erhaltungskraft den Kindern zu vererben, so dass durch deren leichtere Ausjätung der andere Elter, der schlecht gewählt hatte, oft mit ausgejätet wurde. Die natürliche Auslese gab also schliesslich der sexuellen Auslese die Directive, die ganz im Allgemeinen auf die stärkere Gesammt-Constitutionskraft gerichtet war. Mit anderen Worten: das eine Geschlecht findet im Grossen und Ganzen die starken Convarianten des andern Geschlechtes schön, die schwachen dagegen weniger schön bis abstossend. In wie hohem Grade unser Schönheitsgefühl an die Entwickelung unserer Geschlechtsorgane gebunden ist, also zu den Sexualfunctionen gehört, können wir aus der be- kannten Thatsache entnehmen, dass bei früh Castrirten der Schönheitssinn sich nur äusserst schwach oder gar nicht entwickelt. Der Grund, weshalb wir sonst, abgesehen von den geschlechtlichen Beziehungen, Leute mit hübschen Gesich- tern vorziehen, ist der, dass hinter solchen Formen sich im Grossen und Ganzen eher sympathische und nützliche Charaktere verbergen als hinter hässlichen Gesichtern. Ausnahmen kommen natürlich vor, ändern aber nichts an an der Regel. Lombroso macht einige interessante An- gaben hierüber (Der Verbrecher. Deutsch von Fränkel. Hamburg 1887. S. 243 u. ff.): „Einen wirklich Ehrlichen mit vollständigem Verbrechertyp habe ich unter 400 Indi- viduen nur einmal gefunden .... So muss ich denn sagen, dass die typische Verbrecher-Physiognomie nur aus- nahmsweise bei ehrlichen Leuten und fast regelmässig bei unehrlichen vorkommt .... Das instinctive Erkennen des Verbrechertypus ist eine schwer zu erklärende That- sache. Zweifellos giebt es aber Personen besonders unter den Frauen, die diese Gabe in hohem Grade besitzen und auf dem Widerwillen, den sie beim ersten Anblick gewisser Physiognomien empfinden, ihr meist zutreffendes Urtheil begründen .... Dem unwillkürlichen, aber allgemeinen Bewusstsein, dass es einen dem Verbrecher eigenthümlichen Gesichtsausdruck giebt, verdankt man die Bezeichnungen: „Spitzbuben-, Mördergesicht“ u. s. w. … Wie soll man aber dieses unwillkürliche Bewusstsein erklären? … Ich vermuthe, dass dahinter eine vererbte Erscheinung steckt. Der Eindruck, den unsere Väter unsern Kin- dern hinterlassen haben, ist gleichsam zum unbewussten Wahrnehmen geworden, ähnlich demjenigen der kleinen Vögel, die in unseren Wohnungen gross geworden, vor Schreck mit Flügel und Schnabel gegen die Gitter des Käfigs schlagen, wenn sie einen Raubvogel vorüberfliegen sehen, der nicht ihnen, sondern nur ihren Voreltern bekannt gewesen ist .... Die Untersuchung von 800 ehrlichen Leuten hat uns ergeben, dass Degenerationszeichen in der Gesichtsbildung auch bei ihnen zwar vorkommen, aber niemals so viele auf einmal wie bei Verbrechern, und dass wenn es je der Fall ist, der Verdacht auf eine versteckte böse Leidenschaft oder auf cretinartige Degeneration ge- rechtfertigt erscheint. Die Beobachtung am Lebenden be- stätigt endlich, wenn auch weniger sicher und constant als die an der Leiche, das häufige Vorkommen von Mikro- cephalie, Asymmetrie, Schrägheit der Augenhöhlen, Vor- springen der Kiefer, Auftreibung der Stirnhöhlen. Sie hebt neue Thatsachen von Ähnlichkeit zwischen Irren, Wilden und Verbrechern hervor.“ Nun fährt im Allgemeinen derjenige Mensch im Kampf um’s Dasein besser, der Geschmack an äusseren Formen hat, deren Besitzer, wie z. B. altruistische Naturen, seinem Lebensprocess förderlich sind, woraus sich die allmähliche Züchtung unseres Geschmacks in der bestimmten vor- liegenden Richtung erklärt. Erklärt wenigstens in darwini- stischem Sinne. Weshalb nun grade diese bestimmte Form an jenen bestimmten Charakter gebunden ist, das ist uns ebenso sehr ein Geheimniss, als warum grade die und die Anordnung der Zellen in einem Organ an die und die bestimmte Function gebunden ist. Wir müssen uns da- bei beruhigen, dass Function und Form feste Beziehungen zu einander haben, von deren Erkennen wir noch weit ent- fernt sind. So sehr es für die überwiegende Mehrzahl schöner Eigenschaften einleuchtet, dass sie in irgend einer Bezie- hung zur grösseren Erhaltungs- oder Fortpflanzungskraft der Individuen, also ihrer Constitutionskraft stehen, so haben wir doch keinen Grund abzuläugnen, dass es ge- wisse Theile der menschlichen Schönheit gibt, die beson- ders bei der geschlechtlichen Auslese von dem anderen Geschlecht nur gewählt werden, weil sie einem Schönheits- bedürfniss entsprechen, das seine Entstehung nicht der Nützlichkeit der Function verdankt, die etwa an den schönen Theil geknüpft ist, sondern das mit der Bewegungsart der lebendigen Substanz oder der Substanz überhaupt auf’s Engste verbunden ist. Ich erinnere an Helmholtz’ Erklär- ung einiger elementaren aesthetischen Empfindungen, wie Linien-, Farben- und Tonharmonien, als Gefallen an ein- fachen mathematischen Verhältnissen. Solche Schönheitsempfindungen ohne Bezug auf die Constitutionskraft fallen nicht sehr in’s Gewicht; das lehren uns die Castraten, bei denen der Sinn für Schönheit in eben- so geringem Grade entwickelt ist wie andere secundäre Geschlechtscharaktere. Dementsprechend werden auch die Theile der menschlichen Schönheit, die einzig für solche beziehungslosen Schönheits-Empfindungen das Material lie- fern, keinen grossen Procentsatz der gesammten mensch- lichen Schönheit ausmachen. Aber selbst dieser Antheil ist im Kampf um’s Dasein, wenn auch nur im socialen, keineswegs gleichgültig, sondern wird stets für seinen Be- sitzer einen Vortheil darstellen und ihn als Convariante stärken. Denn seine Artgenossen machen sich keine Ge- danken darüber, welcher Art und Herkunft die Schönheit ist, die sie vorfinden und an der sie sich erfreuen. Aus obigen Sätzen geht hervor, dass der Schönheits- sinn im Lauf der Entwickelung für uns zu einem bisher noch jeder Wissenschaft überlegenen Maassstab geworden ist, die Stärke einer Convariante im Extral- und Socialkampf ganz instinctiv abzuschätzen. Nur der zuletzt erwähnte kleine Theil des Schönheitssinns ist insofern beschränkter, als er uns nur einen Massstab für die Stärke im socialen Kampf, nicht für die im extralen liefert. Wenigstens wissen wir über diesen letzten Punkt nichts. Die menschliche Schönheit kann uns somit noch nicht veranlassen, die Vollkommenheit und die Stärke der Va- rianten als etwas Verschiedenes zu betrachten. Eine andere Seite der Vollkommenheit, deren Ver- knüpfung mit dem besseren Fortkommen im Kampfe um’s Dasein zweifelhaft sein könnte, ist der Altruismus, die Güte. Diejenigen Convarianten, die starke altruistische Anlagen mit auf die Welt bekommen haben, scheinen gegenüber den berechnenden Egoisten im Socialkampf sogar benach- theiligt. Etwas Wahres ist sicher daran. Es ist kein Zweifel, dass mancher rücksichtslose Streber, Wucherer, Fabrikant, und wer sonst noch, wie sich einmal Jemand ausdrückte, zu der Firma Wolfau und Gemeinke gehört, durch seinen Egoismus einen gewissen Vortheil im Kampf um’s Dasein auf seiner Seite hat. Allein dem gegenüber sind doch auch sehr starke Nachtheile mit solcher Gemüthsdisposition verbunden, wenn sie nicht auf anderem Gebiete, als grade dem ökonomischen Kampf, Hand in Hand geht mit einer ziemlich grossen Dosis von Altruismus. Wer nicht alt- ruistisch für Weib und Kinder fühlt, wird immer in Bezug auf Erfolg bei der Kinderpflege hinter dem liebevollen Vater zurückstehen. Wer seinen Freunden nicht hilft, wird auch von ihnen in der Noth verlassen. Das Volk, das wenig aufopferungsfähige Männer und Frauen besitzt, wird im Kampf mit einem anderen Volk, das deren viele hat, bei sonst gleichen Umständen leichter unterliegen. Ein allzu sehr ausgeprägter Egoismus kann unmittelbar zum Verbrechen und dadurch in die Hände der Justiz führen, die dann mehr oder weniger gründlich den Ausjätungsprocess übernimmt. Im Grossen und Ganzen ist demnach, abgesehen von allzu hohen, selbstzerstörenden Graden, die man wohl kaum als Vollkommenheit bezeichnen wird, die Güte für ihren Be- sitzer ebenso sehr eine Waffe im Socialkampf wie schöne äussere Formen. Man könnte dann noch zweifeln, ob hohes Alter als ein günstiger Factor im Kampf um’s Dasein anzusehen sei, da das hohe Alter keine Bedeutung mehr für die Fort- pflanzungs-Functionen habe. Hierauf ist zu erwidern, dass erstens Pflege und Schutz der Kinder durch die Eltern oft bis in ein ziemlich hohes Alter derselben hineinreichen, und dass zweitens ein hohes Alter nur die Folge einer grossen Erhaltungskraft ist, die in jüngeren Jahren für den günstigen Ablauf der Fortpflanzung und Kinderpflege von der grössten Bedeutung war. Je kräftiger die Consti- tution in der Jugend, desto länger glimmt im Alter das Lebenslämpchen, ehe es verlöscht. Wir könnten noch verschiedene Seiten der Vollkommen- heit zu den Aussichten ihrer Träger im Kampf um’s Da- sein in Beziehung setzen und würden überall erkennen, dass sie in ähnlicher Weise mit dem Erfolg verknüpft sind, und also ihre Träger in ähnlicher Weise zu stärkeren Con- varianten machen, als wir es bei der Schönheit, dem Al- truismus und dem hohen Alter gesehen haben. Das Volk hat eben seinen Begriff von menschlicher Vollkommenheit aus solchen Erfolg versprechenden Eigenschaften aufgebaut. Dass manche Autoren trotzdem häufig von einem Zugrunde- gehen vollkommnerer Individuen im Kampf um’s Dasein reden, hat zum Theil seinen Grund darin, dass sie ver- gessen, dass ein guter Theil der vollkommneren Conva- rianten durch nonselectorische Schädlichkeiten vernichtet wird, also durch Factoren, die mit den ausjätenden selec- torischen ebenso wenig zu thun haben, wie mit dem Kampf um’s Dasein. Der Process der Vervollkommnung ist also beim Men- schen durchaus nicht verschieden von dem überall in der Thierreihe beobachteten Process der besseren Anpassung an die Extral- und Socialumgebung, der charakterisirt ist durch das Auftreten stärkerer Typus-Devarianten, d. h. von Erzeugten, die durchschnittlich stärker waren als die Er- zeugten der vorhergehenden Generationen, durch die Auslese der jedesmaligen stärkeren Convarianten, d. h. der Individuen, die im Vergleich zu den ihnen gleichaltrigen erfolgreicher im Kampf um’s Dasein waren, und durch die Vererbung der dabei zum Sieg helfenden Eigenschaften auf die erzeugten neuen Devarianten. Im vorigen Satz kann, was den Menschen anlangt, überall statt stärker vollkommener und statt schwächer 8 unvollkommener gesetzt und damit der darwinistische Mecha- nismus seiner Vervollkommnung bezeichnet werden. Wir wollen nun für später die Bezeichnung stark und schwach für die Varianten fallen lassen, und für die langen Worte „vollkommen“ und „unvollkommen“ einfach „gut“ und „schlecht“ setzen. — Das Zeichen der Vervollkommnung einer Rasse von einer Generation zu einer andren müsste darin bestehen, dass in der letzten Generation die sieghaften reifen Conva- rianten durchschnittlich besser waren als dieselbe Classe Convarianten der früheren Generation. Rassenhygienische Forderungen für Vervollkommnung und Vermehrung. Die bisherigen Bedingungen der Vervollkommnung oder Verbesserung einer Rasse waren, wie wir sahen, fol- gende: Auftreten von durchschnittlich besseren Devarianten, Ausjätung des Theils von ihnen, der schlechtere Convarianten repraesentirt, und häufige Vererbung der Variationen, auf Grund deren der Sieg errungen wurde. Selbstverständlich erscheint es nöthig, diese bisherigen Bedingungen auch für die Zukunft aufrecht zu erhalten, wenn eine weitere Verbesserung stattfinden soll. Es fragt sich nur, wie müssen diese drei Factoren am besten zu- sammenwirken, um eine Rasse möglichst rasch zu grösserer Vollkommenheit zu führen. Die rassenhygienischen Forderungen hierfür wären: 1) Möglichst zahlreiches und intensives Auftreten besserer Devarianten; der Vergleich darf natürlich nur bei Devarianten von gleichem Alter und Geschlecht angestellt werden, so dass Neugeborene nur mit dem Status der Eltern verglichen werden können, den diese selbst als Neugeborene hatten. 2) Solche Extral- und Socialeinwirkungen, dass frühe und vollständige Ausjätung desjenigen, schlechteren Theils der Convarianten stattfindet, der gemäss der erreichbaren Summe der Lebens- bedingungen für die gesammte Rasse doch nicht aufkommen würde. 3) Keine Contraselection, d. h. keine besondere Schädigung gerade der besseren und kein besonderer Schutz grade der schlechteren Convarianten. In Bezug auf die reine Vererbung werden wir nie eine Forderung stellen können; sie ist nur ein Punkt zwischen Variation nach der besseren und der schlechteren Seite, und höchst wahrscheinlich ein biologisches Gesetz, wie das Fallgesetz ein physikalisches. Vergleichen wir mit diesen Forderungen diejenigen, welche wir auf S. 65 für die Vermehrung der Zahl gestellt haben, so ist die Forderung der Erhöhung der Constitutions- kraft dieselbe wie unsere erste Forderung besserer De- varianten; die Forderung der Verminderung der Contra- selection ist ebenfalls dieselbe. Die Forderung der Ver- minderung der nonselectorischen Schädlichkeiten in einer Rasse kann ebenfalls für unsere Vervollkommnung erhoben werden, da ein grosser nonselectorischer Abgang nicht nur eine Verminderung der Variations-Möglichkeiten bedingt, unter denen sich ja Möglichkeiten für neue Richtungen der Entwicklung befinden könnten, sondern ausserdem auch noch durch die Nothwendigkeit des Wiederersatzes die Zahl der Geburten erhöht und es dadurch nöthig macht, das mehr Kinder höherer Nummern in der Geburtenreihen- folge erzeugt werden, Kinder, die wir auf S. 59 als minder- werthig erkannten. Die Forderung der Milderung der selectorischen Ein- flüsse können wir nur insofern dulden, als es sich um Schädlichkeiten handelt, die eine dauernde Beseitigung für alle Zukunft erfahren. Für solche Schädlichkeiten nämlich würde unsere Constitutionskraft nur ein bedeutungs- loses absolutes Herabgehen erfahren, aber kein relatives, da wir für eine Schädlichkeit die dauernd gehoben worden, auch keinen Regulations-Mechanismus mehr brauchen. Wenn 8* die Beseitigung einer solchen Schädlichkeit dagegen nicht für die Dauer Platz griffe, so würde das bei der gewöhn- lichen absteigenden Variations-Neigung durch Panmixie herunter gegangene Organ der erneut hereinbrechenden Schwierigkeit nicht mehr gewachsen sein, und die Rasse hätte von ihrer Constitutionskraft verloren. Ausserdem darf eine solche Beiseitigung von Schädlich- keiten nur sehr partiell stattfinden, keineswegs aber darf sich die Gesammthöhe der schädlichen äusseren Ein- wirkungen verringern. Im Gegentheil, wenn die Vervoll- kommnung der Rasse rasch von Statten gehen soll, muss eine so scharfe Ausjäte Platz greifen, wie sie nur im Interesse der Individuenzahl, d. h. des Kampfes der Rasse mit anderen Rassen, erlaubt ist. Die combinirte Forderung der Rassenhygiene in Bezug auf die rasche Vermehrung der Zahl und auf die möglichst rasche Vervollkommnung besteht also dem Wesen nach in der Forderung der Vermehrung der reifen guten Convarianten in der nächsten Generation und Erhöhung ihres durchschnittlichen Gütegrades, beides verglichen mit den reifen guten Convarianten der alten Generation. Zur Erfüllung ist nötig: 1) Erzeugung möglichst vieler besserer Devarianten. 2) Scharfe Ausjätung des schlechteren Theiles der Convarianten, dessen Grösse im richtigen Verhältniss stehen muss zu der Differenz zwischen erzeugten Individuen und erreichbaren Nährstellen. Keine Erleichterung der Gesammt- grösse der selectorischen Einflüsse. 3) Keine Contraselection, d. h. keine Ausmerzung grade der guten und kein besondrer Schutz grade der schlechten Convarianten; also keine Kriege, keine blutigen Revolutionen, kein besonderer Schutz der Kranken und Schwachen. — Bei diesen Herleitungen sind solche Variationen bisher unberücksichtigt geblieben, die bei allen Devarianten zu- gleich in einem gewissen gleichen, wenn auch bei einem Theil in höherem Grade auftreten. Man könnte an solche Möglichkeit bei bestimmten Einwirkungen eines Klimawechsels denken. Da dann die Convarianten in dem gewissen Grade der betreffenden Variation gleich wären, so würde unter ihnen ein Kampf um’s Dasein wegen diesem Grade der Eigenschaft nicht eintreten. Dieser bestimmte Grad würde also keine Verstärkung oder Abschwächung von Convarianten bedingen. Für die Devarianten jedoch könnte dieser Grad eine Verstärkung oder eine Abschwächung bedeuten, je nach der Veränderung ihrer Constitutions- kraft. Für beide Fälle ist in den obigen Forderungen gesorgt. Denn die Verstärkung der Devarianten sowohl wie ihre Abschwächung ist berücksichtigt in der Forde- rung „Erzeugung möglichst vieler besserer Devarianten.“ Schreiten wir noch fort? Ehe wir unsere Forderungen weiter analysiren, wollen wir einen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Cultur- völker werfen in Hinsicht auf die Frage, ob sie sich in der letzten Zeit vervollkommnet haben, oder ob sie zurück- geschritten sind. Wie bekannt, gehen die Ansichten darüber weit aus- einander. Einige Autoren sind grade so sehr von der Fortentwickelung unseres Typus überzeugt, wie die an- deren vom Stillstand oder Rückschritt. Ab und zu ge- stehen einzelne zu, sich kein Urtheil darüber bilden zu können. Ausserdem sind die Meinungen auch verschieden, je nachdem die herangezogene Vergleichszeit von der Gegenwart sehr entfernt ist oder ihr nahe liegt. Im allgemeinen stehen auf Seite derer, die den Fort- schritt annehmen, Ammon, Darwin in seinen jüngeren Jahren, Haeckel, Samson-Himmelstjerna und viele andere Biologen, auf Seiten der Zweifelnden Darwin in seiner späteren Zeit, Galton, Kollmann, Olge, Hiram Stanley, Tille, Wallace und Andere, unter ihnen viele Socialisten, die sich direct auf die degenerirenden Wirkungen des Capitalismus berufen. Wir wollen sehen, ob wir im Einklang mit unseren bisherigen Betrachtungen zu einem Schluss kommen können. Vor allem müssen wir die beiden Fragen auseinander halten, erstens, ob in den letztverflossenen grossen Zeit- räumen, sagen wir einmal ein bis zwei Jahrtausenden, eine Vervollkommnung unseres Typus zu Stande gekommen ist, und zweitens ob ein solche Vervollkommnung auch noch in der jüngsten Zeit andauert. Bei der ersten Frage handelt es sich also darum, ob wir nachweisen können, dass der Durchschnittsgrad von Vollkommenheit bei den Culturrassen, d. h. bei den West- ariern, seit dieser letzten Zeit, also seit einem bis zwei Jahrtausenden, höhere Werthe angenommen hat. Nach Allem, was wir im Lauf dieses Capitels über Vervollkommnung gesagt haben, die wir als gleichbedeutend mit Erhöhung der Gesammt-Constitutionskraft in Bezug auf den Extral- und Socialkampf erkannten, scheint ein Weg vorzugehen, folgender: Wir bestimmen die Summe der nonselectorischen und selectorischen Einflüsse in beiden Zeiten und vergleichen dann die mittlere Lebensdauer der Individuen zu denselben Zeiten. Wenn wir die äusseren Einflüsse gleich fänden, so wäre die mittlere Lebensdauer ein Maassstab für die durchschnittliche Constitutionskraft, vorausgesetzt, dass die Durchschnittszahl der Geburten für eine Mutter gleich wäre, und dass die Kinder in durchschnittlich gleichen Altersjahren der Eltern erzeugt würden. Diese beiden letzteren Einschränkungen sind nothwendig, da nicht nur die Reihenfolge bei der Geburt, sondern auch das Alter der Eltern bei der Zeugung auf die Constitutionskraft der Kinder einen ganz bedeutenden Einfluss ausübt. Der Leser sieht jetzt schon, welche grossen Schwierig- keiten die Beurtheilung aller dieser einzelnen Momente verursachen würde. Aber nehmen wir einmal an, die Zahl der Kinder einer Mutter und das Alter der Eltern bei der Zeugung sei heute und im Alterthum so ziemlich gleich. Dann handelt es sich immer noch um die Feststellung, ob die äuseren Einflüsse gleich geblieben sind, oder ob sie milder oder schärfer geworden sind. Erst wenn wir auch hier constatiren können, dass sie sich nicht wesentlich verändert haben, dürften wir aus der ziemlich allgemein angenommenen Erhöhung der mittleren Lebensdauer auf eine Erhöhung der Constitutionskraft schliessen. Könnten wir sogar erweisen, dass die äusseren Einwirkungen heute mannigfaltiger und ungünstiger sind als damals, so wäre die jetzige höhere Lebensdauer erst recht ein Zeichen der Vervollkommnung. Wenn wir uns dagegen überzeugen müssten, dass die äusseren Bedingungen einfacher und leichter geworden sind, dann fehlt uns, im Fall wir den Grad der Erleichterung nicht messen können, jeder An- halt für eine Beurtheilung der Constitutionskraft durch die Lebensdauer. Denn bei Erleichterung oder Vereinfachung der Bedingungen kann die mittlere Lebensdauer sogar bei Verringerung der Constitutionskraft noch steigen, wenn nämlich die Bedingungen in verhältnissmässig noch stär- kerem Masse einfacher geworden sind, als die Constitutions- kraft sich verschlechterte. Es fehlt uns dann jede Berechti- gung, die mittlere Lebensdauer für den Nachweis einer Verbesserung unserer Rasse zu verwenden. Es handelt sich demnach zuerst um die Entscheidung der Vorfrage, ist die Gesammtheit der ausseren Einwir- kungen nicht etwa einfacher, milder geworden. Wie wir früher sahen, haben Extral- wie Socialeinflüsse bei der Ver- vollkommnung mitgewirkt, wir müssen also beide in den Vergleichszeiten prüfen. Die extralen, d. h. die nicht in irgend einer Art durch die gleichzeitig existirenden Individuen vermittelten Ein- wirkungen haben sich zwar unzweifelhaft theilweise ein- facher gestaltet. Die grossen Agentien der Natur, Licht, Luft, Sommerwärme, Winterkälte, Nässe etc. sind allerdings wohl kaum sehr wesentlich von denen des Alterthums ver- schieden. Allein eine ganze Reihe specieller Extralfactoren sind doch durch die Arbeit früherer Generationen gemildert worden. So ist z. B. der Aussatz, der früher zahlreiche Opfer forderte, so gut wie ganz bei uns ausgetilgt worden. Die Ansteckungsgelegenheit durch Pocken ist durch die Impfarbeit der vorigen Generation stark zurückgegangen, die durch verschiedene andere Krankheiten erheblich be- schränkt worden. Jedoch allen solchen Erleichterungen der Extralbeding- ungen stehen die grossen Complicationen gegenüber, die die Lebensbedingungen der Westarier als Gesammtheit da- durch erfahren haben, dass sie sich allmählich von ihren alten Wohnsitzen in Europa über beinahe die ganze Erde verbreitet haben, hauptsächlich natürlich über die beiden Amerika und Australien, wobei stets eine lebendige Ver- bindung mit den Mutterländern durch Zwischenwande- rung und Mischehen aufrecht erhalten wurde. Die Compli- cation der Extraleinflüsse durch Klima, endemische Krank- heiten, Veränderung der Nahrung etc. scheint doch so gross, dass die Vereinfachung der Bedingungen durch die Residuen der Culturarbeit früherer Geschlechter nicht so ohne Weiteres ein entsprechendes Gegengewicht zu bieten scheint.Vgl. Ratzel, Anthropo-Geographie. Stuttgart 1882, bes. Cap. 5. S. 87. Man sieht leicht, wie schwierig, ja bei unseren heuti- gen Kenntnissen unmöglich es ist, über die Veränderungs- grösse der Extraleinflüsse irgend etwas zu äussern, was mehr Werth als eine blosse Vermuthung beanspruchen darf. Was die Socialeinflüsse anlangt, so könnte man gel- tend machen, dass sie im allgemeinen um so stärker wür- den, je grösser die Geburtenrate minus dem Geburtenüber- schuss, also je grösser die Sterberate ist, da die Extralaus- jäte gegenüber der socialen so wenig in Betracht kommt. Allein dies gilt vor allem von der Jetztzeit, früher lag das Verhältniss mehr zu Gunsten des extralen Theils. Wir müssen hier unsere Unfähigkeit bekennen, einen brauch- baren Vergleich anzustellen und überlassen die Arbeit den Historikern der Medicin und der Cultur im Allgemeinen. Nur Eines kann man mit einiger Sicherheit behaupten, dass nämlich in den letzten Jahrhunderten die Gesammt- heit der Lebensbedingungen für die westarischen Völker entschieden leichter, d. h. einfacher für unsere Constitu- tionskraft geworden sind. Denn ein so bedeutendes An- steigen der mittleren Lebensdauer, wie es thatsächlich in den letzten Jahrhunderten beobachtet worden ist, kann aus allgemein biologischen Gründen nicht in ihrer ganzen Grösse auf eine entsprechende Vervollkommnung der Constitutions- kraft bezogen werden. Bei allen Lebewesen, die nicht einer künstlichen, son- dern nur der natürlichen Zuchtwahl unterworfen sind, be- obachten wir direct, wenn es uns überhaupt möglich ist, keinen oder nur einen sehr geringen sichtbaren Fortschritt in der Entwickelung. Das ist ja grade einer der Gründe gewesen, weshalb die Darwin-Wallace’schen Theorien sich so langsam Bahn gebrochen haben, und weshalb alle Darwinianer so gewaltige Zeiträume für grössere Umwand- lungsprocesse in Rechnung setzen. Wenn wir beim Menschen dasselbe Verhältniss anneh- men, so bedeuten ein paar Jahrhunderte eine lächerlich kurze Zeit für eine nur einigermaassen deutlich merkbare Vervollkommnung, d. h. Erhöhung der Regulationskräfte. Deshalb sind wir gezwungen, wenn wir einer sehr bedeu- tenden Zunahme der mittleren Lebensdauer in den letzten jahrhunderten gegenüberstehen, als Hauptgrund eine Er- leichterung der Gesammtheit der selectorischen und nonse- lectorischen Einwirkungen anzunehmen. Der bekannte Statistiker KolbCulturgeschichte des Menschen. III. Aufl. Leipzig 1885. S. 35. führt in Bezug auf die Veränderung der mittleren Lebensdauer Folgendes aus: „Gleichwohl lassen die nachstehenden wie die obigen Rech- nungsergebnisse, mögen sie auch im Einzelnen mehr oder minder unsicher sein, wenigstens im Allgemeinen, im Gro- ssen und Ganzen, die Richtung erkennen, in der eine Aen- derung stattfand. Sie zeigen, dass, wenn auch das Lebens- alter der Greise dermalen kein höheres sein mag, als es vor Jahrtausenden gewesen, jedenfalls eine weit grössere Verhältnisszahl der Geborenen das mittlere und das Greisen- alter erreicht. Auf Grundlage der Rechnungen englischer Tontinen- gesellschaften ermittelte Finlaison die wahrscheinliche künf- tige Lebensdauer folgendermassen: Am auffallendsten zeigt sich der Unterschied in den zwei ersten Lebensjahren.“ Kolb berechnet, dass in Lon- don die Sterblichkeit für die beiden ersten Lebensjahre im Anfang des 19. Jahrhunderts nur ein Drittel von der Sterb- lichkeit derselben Lebensjahre im Anfange des 18. Jahr- hunderts betrug. „Eine mehr als gewöhnliche Verlässlichkeit besitzen die Notizen, welche aus der Stadt Genf vorliegen. Von 1000 Kindern starben: Während des 16. Jahrhunderts starben zu Genf im ersten Jahr mehr Kinder, als jetzt in den ersten 10 Lebens- jahren zusammengenommen. Es erlebten von 1000 Menschen: Kolb a. a. O. Da wir den Betrag dieser nach Kolb im höchsten Grade wahrscheinlichen Erleichterung der Lebensbedin- gungen auch nicht einmal annähernd messen können, so ist jede Abschätzung der Vervollkommnung unserer Con- stitution, die ihr Verhältniss zu den umgebenden äusseren Einwirkungen, extralen wie socialen, benutzen will, aus- sichtslos. Dies gilt somit auch für eine Verwerthung der That- sache, dass die Westarier seit dem Alterthum so stark an Zahl zugenommen haben. Auch hier müsste erst eine eventuelle Milderung der äusseren Einflüsse, besonders durch die im Laufe der Generationen angehäuften Resultate der Culturarbeit, auf ihre Grösse abgeschätzt werden, ehe man die starke Vermehrung auf eine Steigerung der Consti- tutionskraft beziehen könnte. Es fragt sich, ob wir auf einem anderen Wege zu einer leidlichen Beantwortung unserer Frage kommen können, ob in den letzten ein bis zwei Jahrtausenden eine Vervollkommnung der westarischen Rassen eingetreten ist. Wie wir früher sahen, war das Organ, an dessen Ent- wickelung ganz überwiegend die Vervollkommnung des menschlichen Typs geknüpft war, das Gehirn. Wenn wir also die relativen Hirngewichte der Alten und der Moder- nen mit einander vergleichen könnten, so würde uns das einen ungefähren Rückschluss auf die eventuelle Vervoll- kommnung gestatten. Nun hatten die Alten allerdings noch keine pathologischen Institute, wo sorgsam die Hirn- gewichte registirt werden, allein ihre Schädel haben doch recht häufig in stillen Gräbern bis auf unsere Tage aus- gehalten, so dass wir wenigstens ihre Schädelinhalte oder -Capazitäten, die in annähernd demselben Verhältniss zu einander stehen wie die Hirngewichte, mit dem Inhalt moderner Schädel vergleichen können. Ehe wir dazu übergehen, wollen wir einige Autoritäten auf dem Gebiete der menschlichen Gehirnkunde darüber hören, ob es über- haupt gestattet ist, Hirngrösse und Entwickelung des Geistes beim Menschen in eine gewisse Parallele zu setzen, was natürlich nicht ausschliesst, dass die Intelligenz auch noch von anderen Eigenschaften des Hirns als gerade seiner Grösse abhängt. Theodor Bischoff spricht sich über diesen Punkt folgendermassen aus: „Es ist im Allgemeinen eine unbe- streitbare Thatsache der vergleichenden Anatomie und Psychologie, dass mit der Entwickelung und Grösse der Gehirne der Thiere ihre Intelligenz steigt, und dass der Mensch in beiden Hinsichten an der Spitze der Thierwelt steht. Unzweifelhaft ist die psychologische Befähigung und Leistung des Menschen an eine gewisse Grösse und Ent- wickelung des Hirns gebunden. Unter einem gewissen Grade beider sehen wir, wie in Mikrocephalie Blödsinn und Idiotismus auftritt. Erst wenn ferner das Gehirn seine individuelle volle Ausbildung erlangt hat, entfalten sich die geistigen Kräfte des Kindes..... Ein gewisser Grad des Hirnverlustes, auch wenn es mit Erhaltung des Lebens möglich ist, bedingt dennoch Blödsinn und mehr oder weniger grosse Störungen der psychischen Funktionen ..... Im höheren Alter, wo die Geisteskräfte abnehmen und schwinden, verliert auch das Gehirn an Masse und Gewicht. Umgekehrt hat man bei besonders durch ihre Intelligenz und geistigen Eigenschaften hervorragenden Persönlich- keiten oftmals besonders grosse und schwere Gehirne be- obachtet, während man andererseits in der That nicht weiss, dass ein psychisch ungewöhnlich begabter Mensch jemals ein ungewöhnlich kleines Hirn besessen hat.“Vgl. Bischoff, Theodor. Das Hirngewicht des Menschen. Bonn 1880. S. 134 und 135. Auch Welcker ist der Ansicht, dass die geistig hoch- begabten Menschen Gehirne besitzen, deren Gewicht fast immer und oftmals sehr erheblich über dem normalen Mittel der betreffenden Altersstufe steht. Viele andere bedeutende Forscher haben sich ähnlich geäussert. Würde sich also herausstellen, dass die Alten weniger ge- räumige Hirnschädel hatten als das gegenwärtige Geschlecht, so wären wir wohl berechtigt, daraus eine Steigerung der geistigen Kräfte und damit der Erhaltungskraft gegen die Umgebung abzuleiten. „Professor Broca hat gefunden, dass Schädel aus den Gräbern in Paris vom 19. Jahrhundert gegen solche aus Gräbern des 12. Jahrhunderts in dem Verhältniss von 1484: 1426 grösser waren, und dass die durch Messungen er- mittelte Zunahme der Grösse ausschliesslich den Stirntheil des Schädels betraf, — den Sitz der intellectuellen Fähig- keiten. Auch Prichard ist überzeugt, dass die jetzigen Bewohner Grossbritanniens viel geräumigere Hirnkapseln haben als die alten Einwohner.“Darwin, Abstammung des Menschen. I. Bd. S. 70. Welcker fand bei einer Serie von 20 Altrömern eine durchschnittliche Schädelcapacität von 1406 ccm, bei einer anderen von 23 Altrömern eine solche von 1387 ccm. Diesen Ziffern stehen Werthe von 1432—1460 ccm bei modernen Italienern gegenüber. 12 Altgriechen wiesen einen Durchschnitt von 1494, 10 Neugriechen von 1458 ccm auf; die Disserenz wird durch die Mischung der Neugriechen mit slavischen Stämmen erklärt. Vier alte Juden hatten einen Schädelinhalt von 1322, 20 moderne einen solchen von 1451 ccm. Diese von Welcker angegebenen Werthe beruhen wohl auf den zuverlässigsten Messungen, die aus- geführt wurden.Welcker, H. Die Capazität und die drei Hauptdurchmesser der Schädelkapsel bei den verschiedenen Nationen. Arch. f. Anthropol. XVI. Bd. 1886, S. 1 und ff. Eine Zunahme der Schädelcapazität von den Zeiten des Alterthums bis heute wird also wahrscheinlich gemacht, jedoch sind diese Zahlen aus verschiedenen Gründen, be- sonders auch wegen ihrer Kleinheit, nicht zu einem sicheren Schluss verwendbar, sondern wir müssen, so lange nicht bedeutend mehr Material zusammengetragen ist, bei dem Resultat bleiben, zu dem Bischoff gekommen ist, dass nämlich ein Beweis für das Wachsthum des Gehirns in geschichtlicher Zeit nicht erbracht ist, und dass die dem Menschen ursprünglich zukommende Anlage so gross sein kann, dass aller Fortschritt, den wir bis jetzt nachweisen können, sich allein durch die Entwickelung dieser seiner Anlage erklären lässt und sich wohl auch noch für lange Zeit sowohl in Beziehung auf die Individuen als auf Ge- nerationen wird erklären lassen.Vgl. Bischoff, a. a. O. S. 169. Ebenso wenig wie der Weg, die mittlere Lebensdauer zu vergleichen, ist also auch der Weg der Hirnvergleichung practikabel, so dass wir die Frage, ob wir uns seit dem Alterthume vervollkommnet haben, unentschieden lassen müssen. Die Untersuchung der zweiten Frage, ob wir uns in der moderneren Zeit, also etwa in den letzten 50 oder 100 Jahren, in einer aufsteigenden oder niedergehenden Richtung in Bezug auf die Vervollkommnung des Durch- schnittstyps der westarischen Rassen befinden, können wir natürlich noch weniger durch objective Vergleiche an Ge- hirnen und Schädeln entscheiden. Die Zeitunterschiede wären dazu viel zu gering, und es ist auch nicht genügend Material vorhanden, um die Frage befriedigend discutiren zu können. Ebenso wenig können wir die Herabsetzung des Mini- malmaasses des Rekruten, die in manchen Ländern, auch in Preussen, seit den ersten Jahrzehnten unseres Jahr- hunderts thatsächlich stattgefunden hat, wirksam in die Er- örterung ziehen. Denn erstens stehen dem andere That- sachen gegenüber, wie die von Ammon für Baden und von Carette und Collignon für Theile Frankreichs er- wiesene Erhöhung der Durchschnittsgrösse der Rekruten,Vgl. Ammon, a. a. O. S. 120 u. f. die übrigens auf bessere Ernährung zurückgeführt wird. Und zweitens können wir die Körpergrösse, wenn die Ab- nahme nicht eine sehr starke ist, nicht in directe Beziehung zur Constitutionskraft bringen, da, wie wir ja schon sahen, hierbei das Hauptgewicht auf das Verhalten des Hirns zu legen ist, und verschiedene andere Organe und ihre Corre- lationen ganz wohl von ihrer früheren Höhe herabgehen können, ohne die Gesammtkraft der Constitution zu ver- mindern. Nach der wahrscheinlichen Erleichterung der Lebens- bedingungen jedoch zu urtheilen (vgl. S. 121), ist gemäss dem Princip der Panmixie ein Rückgang der Con- stitution von dem früheren Grade ihrer Vollkommenheit schon möglich — im Falle sich nämlich erworbene Eigen- schaften, für uns die Uebungs- und Nichtübungs-Resultate der Erziehung, nicht vererben. Fände eine solche Ver- erbung doch statt, was ja in erheblichem Maasse allerdings unwahrscheinlich ist, dann wäre eine Vervollkommnung trotzdem möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich in Anbe- tracht der gegen früher enorm viel grösseren Uebung aller möglichen geistigen Functionen. Da wir ja nicht wissen, ob erworbene Eigenschaften sich nicht doch vielleicht in einem gewissen Grade ver- erben, so können wir eine befriedigende Deduction selbst bei der Annahme der Gesammtmilderung der Lebens- bedingungen nicht vornehmen. Für eine exacte Entscheidung der Frage sind somit keine genügenden Grundlagen vorhanden. Wir müssen auch diese Frage in suspenso lassen, wollen jedoch nicht verhehlen, dass wir zum Glauben an eine leichte Entartung geneigt sind, besonders bei Völkern wie den Franzosen, die durch Verminderung ihrer Geburtenrate den Socialkampf zu sehr abgestumpft haben. Des Interesses halber sollen einige prägnante Äusse- rungen hervorragender Männer über diesen Gegenstand hier Platz finden. Wallace berichtet über des alten Darwin MeinungWallace. Menschliche Auslese. Zukunft v. Harden. Berlin. 7. Juli 1894. S. 10.: „In einer meiner letzten Unterhaltungen mit Darwin sprach er sich sehr wenig hoffnungsvoll über die Zukunft der Menschheit aus, und zwar auf Grund der Beobachtung, dass in unserer modernen Civilisation eine natürliche Auslese nicht zu Stande komme und die Tüch- tigsten nicht überlebten. Die Sieger im Kampf um das Geld sind keineswegs die Besten oder die Klügsten, und bekanntlich erneuert sich unsere Bevölkerung in jeder Generation in stärkerem Maasse aus den unteren als aus den mittleren und oberen Klassen.“ Wallace citirt dann weiter den Amerikaner Hiram M. Stanley: „Wir haben vor uns das traurige Schauspiel, dass sich die grosse Masse der Gesellschaft aus den untersten Klassen rekrutirt, da die obersten Klassen zum grossen Theil entweder gar nicht heirathen oder doch keine Kinder haben. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung sind immer die Minderwerthigen, und doch ersetzt sich der Strom des Lebens in ausge- dehntem Maasse aus dieser Quelle. Eine solche Sachlage ist für jede Gesellschaft mit grosser Gefahr verbunden, in der demokratischen Civilisation unserer Tage aber bedeutet sie einfach ihren Selbstmord.“ Wallace selbst hat mehr Zuversicht in unsere Zeit: „… es scheint, dass im Ganzen ein entschiedener Gewinn erzielt worden ist. Gesundheit, Ausdauer, Selbstzucht und Verstand sind im Zunehmen begriffen in Folge des langsamen Ausjätens der Unge- sunden, Müssigen, der gröblich Lasterhaften, der Grau- samen, der Geistesschwachen, und es mag wohl theilweise auf Rechnung der grösseren Zahl der höheren und mittleren Naturen, die so entstanden sind, zu setzen sein, dass wir von einem zweifellosen Wachsen der Menschlichkeit, der Theilnahme mit den Leiden von Menschen und Thieren, sprechen können, das vielleicht das bezeichnendste und erfreulichste Merkmal unserer Tage ist.“Wallace, Menschheitsfortschritt. Zukunft von Harden. Berlin. 28. Juli 1894. S. 148. 9 Die besten Rassen. Zum Schluss noch einen kurzen Blick auf die haupt- sächlichsten Rassen in Bezug auf den gegenwärtigen Unter- schied ihres Culturwerthes; wir wollen damit zu recht- fertigen suchen, weshalb wir im Capitel über die Zahl nur Westarier und Juden berücksichtigt und ihr Interesse mit dem der menschlichen Rasse überhaupt identifizirt haben. Wir müssen auch hier wiederholen, dass die heutigen Völker, wie die heutigen Angehörigen einer Muttersprache, starke Rassengemische sind, die durch mehr oder minder langes Zusammenwohnen und dementsprechende Kreuzung der einzelnen Bestandtheile, sowie durch das verschiedene Verhalten derselben im Kampf um’s Dasein mehr oder minder stark zusammengeschweisst sind, so dass man mit sehr verschiedener Berechtigung von neuen Rassen sprechen kann. Man kann z. B. eher von einer englischen, deutschen und französischen Rasse reden, als von einer ungarischen oder nordamerikanischen. Trotzdem haben viele Gemische im Lauf der Jahrhunderte ein charakteristisches Gepräge er- halten, so dass es um so mehr berechtigt ist, sie zu ver- gleichen, als nach der Meinung der meisten Anthropologen auch die Urrassen, aus denen sie entstanden, ihrerseits wieder aus noch älteren Rassen zusammengesetzt waren. Westarier. Die Westarier machen zu 93 % die Bevölkerung Europas aus. In den Urbevölkerungen der anderen Erd- theile sind sie nicht nennenswerth vertreten. Deshalb sind folgende Angaben von Barnard Davis im vollen Einklang mit ihrer ohne Weiteres in die Augen springenden Stellung an der Spitze der Culturbewegung. Davis hat durch sorgfältige Messungen nachgewiesen, dass die mittlere Schädelcapazität bei Europäern 1509,2 ccm, bei Ameri- kanern (Indianern) 1458,4, bei Asiaten 1453,5, bei Afrika- nern 1412,6 und bei Australiern nur 1338,8 beträgt.Citirt in Oskar Peschel, Völkerkunde. Leipzig 1885. S. 66. — Vgl. auch S. 132 u. 133. Es ist männiglich bekannt, dass die Westarier die thatsächlichen Beherrscher fast der ganzen Erde sind, und dass das Gebiet, in dem ihr Einfluss heute noch nicht dominirt, sich rasch verkleinert. Europa ist ihr Heimatsitz. Nordamerika wird fast völlig von den Germanen beherrscht, Südamerika von den Romanen. Australien, Neu-Seeland und Ozeanien werden ebenfalls fast völlig von den Ger- manen eingenommen. In Afrika theilen sich die einzelnen westarischen Zweige in die Herrschaft; die wirklich unab- hängigen Gebiete sind nur noch sehr klein. Asien ist der einzige Theil der Erde, in dem die Westarier nicht so aus- schliesslichen Einfluss ausüben. Hier bilden noch die Mongolen compacte unabhängige Gemeinwesen in China, Japan und in der Türkei, auch einige ostarische Stämme haben sich unabhängig erhalten, wie die Perser z. B., allein auch in diese Inseln fressen die Wogen der europäischen Macht immer grössere Lücken. Die Westarier documentiren sich dadurch so deutlich als die hervorragendste Culturrasse unserer Zeit, dass man darüber keine Worte weiter zu verlieren braucht. Interessant ist nur, wie demgegenüber die Ostarier in ihrer Entwicke- lung zurückgeblieben sind. Trotzdem sie in Massen von Hunderten von Millionen den südlichen Theil des asiatischen Continents einnehmen, haben sie es zu einer solchen Cultur- rolle wie die Westarier auch nicht im entferntesten ge- bracht, wohl hauptsächlich wegen ihres Wohnens in er- schlaffenden tropischen und subtropischen Gegenden. Ihr Zurückbleiben zeigt sich denn auch an dem Substrat ihrer geistigen Fähigkeiten, dem Gehirn, bezw. dem Gehäuse, in dem es liegt. Welcker fand bei 68 Hindus Schädel- 9* capazitäten von nur 1260—1370 ccm, gegen 1400—1550 ccm bei den Westariern. Dies sind Unterschiede, die, wenn sie sich auch bei grösseren Zahlen von Individuen be- stätigen würden, selbst bei Berücksichtigung der kleineren Statur der Hindus schwer in’s Gewicht fallen. Interessant würde ferner noch sein, zwischen den ein- zelnen westarischen Rassen selbst eine Rangordnung in Be- zug auf ihre mehr oder minder grosse Vollkommenheit zu construiren. Unterschiede sind ja sicher vorhanden, jedoch ist es aus Mangel an genügendem Material so schwer, sie festzustellen, dass man sich auf Vermuthungen be- schränken muss. Was das mittlere Hirngewicht anlangt, so liefern die bisherigen Untersuchungen ein viel zu kleines Material und ziehen nicht exact genug die Körpergrösse der betreffen- den Individuen in Betracht. Daraus allein Schlüsse zu ziehen, wäre vorschnell. Ebensowenig brauchbare That- sachenreihen existiren für das relative Massenverhältniss des Stirnhirns zum Gesammthirn. Die folgenden Zahlenangaben beanspruchen deshalb nur Interesse, aber keine Be- weiskraft. Die mittlere Schädelcapazität betrug nach WelckerWelcker, a. a. O. bei ccm Deutschen 1478 Holländern 1414—1485 Skandinaviern 1426—1440 Schweizern 1427—1543 Engländern 1531 allen Germanen 1480 Kelten 1450—1503 Franzosen 1498 Italienern 1432—1460 ccm Spaniern 1472 Portugiesen 1467 Neugriechen 1458 Rumänen 1408 Slaven 1479 Juden 1451 Arabern 1476 Finnen 1464 Magyaren 1440 ccm Türken 1452 Japanern (8) 1385 Chinesen 1444 Malaien 1402 Negern 1320—1336 Buschmännern 1240 Indianern 1440 ccm Schwankungsbreite bei den Germanen 1400—1550 Slaven 1400—1550 Kelten, Romanen und Griechen 1400—1500 Mongolen 1320—1490 Alle obigen Zahlen sind nur aus verhältnissmässig wenigen Messungen gewonnen, einzig bei den Deutschen beliefen sich letztere etwas höher, auf 245. Unter den Deutschen wiesen Altbayern und eine Abtheilung der Schweizer die höchsten Werthe aller Germanen auf (1540 u. 1543 ccm). Betrachten wir die allgemeine culturelle Höhe, die die einzelnen Zweige der Westarier erklommen haben, so er- geben sich ziemlich bedeutende Unterschiede zu Gunsten des germanischen Zweiges. Die Skandinavier, Engländer, Deutschen und weissen Nordamerikaner stehen entschieden obenan. Das ist nicht nur der Fall beim Vergleich der einfachsten Elemente der Volksbildung (Analphabeten sind bei ihnen nur wenige Procente, dagegen in Italien etwa 50, in Russland etwa 75 % der Bevölkerung), sondern auch mit der Tüchtigkeit ihrer Staatsverwaltung und der Ver- breitung von künstlerischer und wissenschaftlicher Cultur unter dem Volk, das hierbei in den romanischen und slavischen Ländern ja schon durch die mangelhafte Fähigkeit zu lesen und zu schreiben erheblich beeinträch- tigt ist. Wie auffallend gross diese Unterschiede sind, möge die folgende Zusammenstellung zeigen.Vgl. A, Jacobi, Zur Analphabeten-Statistik. Neue Zeit. XIII. Jahrg. 1. Bd. Stuttgart 1894—95. S. 658. Um 1881 war der Procentsatz der männlichen Analphabeten in Die Tabelle spricht für sich selbst. Es ist hier nicht der Ort, diese Verhältnisse noch aus- führlicher darzulegen. Ich will nur noch kurz hinweisen auf das Aufblühen der germanischen Cultur in Europa, während die Romanen und Slaven erheblich zurückgeblieben sind. Die keltischen Völker stehen beträchtlich besser da. Unter ihnen nehmen die Franzosen, ein Mischvolk, dessen nördlicher, stark mit Germanen versetzter Theil übrigens der culturkräftigste gewesen ist, einen besonders günstigen Platz ein, sind aber doch, was Breite der Volksbildung anlangt, gegenüber den germanischen Ländern etwas im Hintertreffen, unbeschadet ihrer glänzenden Vertreter von Wissenschaft und Kunst. In Amerika verhält es sich ähnlich. Der Norden, Canada und die Vereinigten Staaten stehen in cultureller Beziehung bergehoch über Mexico und sämmtliche südamerikanischen Staaten, in denen das romanische Element das tonangebende ist. Hier, auf dem fremden Boden, wo beide Rassen Gelegenheit hatten zu zeigen, was sie leisten können, haben die Germanen einen glänzenden Aufschwung genommen, während die Romanen mühsam über Revolutionen und wieder Revolutionen hinter- drein stolpern. Der Anthropologe Lombroso hält das englische Volk für das am höchsten entwickelte in Europa.Lombroso, C. Der Antisemitismus und die Juden. Deutsch von Kurella. Leipzig. 1894. Auch Darwin scheint die Angelsachsen für die tüchtigste Rasse der Erde zu halten. Er sagt in seiner Abstammung des Menschen hierüber: „Der merkwürdige Erfolg der Engländer als Colonisten gegenüber anderen europäischen Nationen, welcher durch einen Vergleich der Fortschritte der Canadier englischen und französischen Ursprungs er- läutert wird, ist deren unerschrockenen und ausdauernden Energie zugeschrieben worden; wer kann aber sagen, wie die Engländer ihre Energie erlangten? Wie es scheint, liegt in der Annahme sehr viel Wahres, dass der wunder- bare Fortschritt der Vereinigten Staaten ebenso wie der Charakter des Volks die Resultate natürlicher Zuchtwahl sind. Die energischeren, rastloseren und muthigeren Menschen aus allen Theilen Europas sind während der letzten zehn oder zwölf Generationen in jenes grosse Land eingewandert und haben dort den grössten Erfolg gehabt. Blicken wir auf die weiteste Zukunft, so glaube ich nicht, dass die Ansicht des Mr. Zincke übertrieben ist, wenn er sagt: „„Alle Reihen von Begebenheiten — z. B. die, welche als Resultat die geistige Cultur in Griechenland, und die; welche die römische Kaiserzeit hervorgehen liessen — scheinen nur Zweck und Bedeutung zu erhalten, wenn sie im Zu- sammenhang mit, oder noch eher als Unterstützung für … den grossen Strom angelsächsischer Auswanderung nach dem Westen hin betrachtet werden.““ So dunkel das Problem des Fortschritts der Civilisation ist, so können wir wenigstens sehen, dass eine Nation, welche eine lange Zeit hindurch die grösste Zahl hoch intellectueller, ener- gischer, tapferer, patriotischer und wohlwollender Männer erzeugte, im Allgemeinen über weniger begünstigte Nationen das Übergewicht erlangen wird“. So weit Darwin, der Angelsachse. Erinnern wir uns noch aus dem Capitel über die Vermehrung der Zahl, dass von allen Westariern die Angelsachsen sich am stärksten ausbreiten, und dass auch die englische Sprache die übrigen westarischen Sprachen in ihrer Entwickelung weit hinter sich lässt, so scheint das Darwin’s Ansicht nur zu bestätigen. Doch diese höhere Entwickelung des germanischen Zweiges der Westarier darf uns noch nicht ohne Weiteres dazu veranlassen, ihre Anlagen für höher zu erklären. Materielle, klimatische und sonstige, theilweise als Zufall erscheinende Verhältnisse konnten schon in längst ver- gangener Zeit für das eine oder das andere Volk einen Fortschritt bedingt haben, der, einmal gegeben, in seinem Gefolge immer neue Fortschritte für die Begünstigsten nach sich zog. Deshalb muss die Frage der Rangordnung der westarischen Rassen vorläufig offen bleiben. Im Grossen und Ganzen ist die romanische Rasse dem dem wärmeren Klima besser angepasst, die germanische mehr dem kälteren. Die Romanen leiden unter kälteren Klimaten sehr durch Lungenkrankheiten und Schwindsucht, die Germanen können ebensowenig in warmen Klimaten die Romanen dauernd verdrängen (Aufsaugung der blonden Ele- mente in Südeuropa), so dass wir an ein dauerndes Eindringen germanischer Rassen in die meisten der romanischen Wohngebiete nicht denken können. Aber selbst, wenn dieses möglich wäre, würde der Einfluss des wärmeren Klimas höchst wahrscheinlich doch die Tüchtigkeit der Söhne des Nordens wieder von ihrer Höhe herabdrücken, da es eine weit verbreitete Erscheinung auf der Erde ist, dass, abgesehen von der kalten Zone, im Grossen und Ganzen innerhalb einer grossen Rasse die Stämme kälterer Klimate die wärmerer in der Entwickelung von Thatkraft und Intelligenz überragen. Auch die Römer und Griechen des Alterthums waren von Norden her in Italien und Griechenland eingewandert. Die schärfere Auslese in dem ungünstigeren, rauhen Klima scheint in der darin wohnenden Rasse eine Stei- gerung der Körper- und Geisteskräfte zu bedingen. Die allmählige Emancipation des Menschen von den directen Natureinflüssen lässt hoffen, dass auch die Rassen warmer Gegenden dauernd in den Stand gesetzt werden, ihre angeborenen Anlagen voll zur Enfaltung zu bringen und sie zu steigern. Juden. Zum Schluss wollen wir noch einigen Bemerkungen über die jüdische Rasse Raum geben. Wir haben früher die Juden neben den Westariern als höchstentwickelte Culturrasse angeführt. Angesichts der neuerdings wieder erstarkten antisemitischen Strömung ist es nöthig, dies kurz zu rechtfertigen. Es ist soviel über den Gegenstand ge- schrieben worden,Vgl. Alsberg. Rassenmischung im Judenthum. Vorträge von Virchow und Holtzendorff. Neue Folge. 5. Serie. Heft 116. Hamburg 1891. — Gerecke, A. Die Verdienste der Juden um die Erhaltung und Ausbreitung der Wissenschaften. Zürich 1893. — Jacobs, J. The Jews. Journal of the Anthropological Institute of Great Britain. London 1885/86 u. 1891. — Leroy-Beaulieu, A. Les Juifs et l’Antisémitisme. Paris 1893. Auch deutsch von Vin- centi. Wien 1893. — Lombroso, C. Der Antisemitismus und die dass ich nur hervorheben will, was ihre Stellung als Rasse charakterisirt. Die europäischen Juden, die, wie wir sahen, sich in den letzten Jahren stärker als irgend eine andere Rasse in Europa vermehrt haben, sind weder jetzt eine einheitliche Rasse, noch haben sie einen starken Abstam- mungs-Zusammenhang mit den Juden der ältesten Zeiten. Lombroso sagt hierüber: „Die Theorie der Rassen- kreuzung im Judenthum erklärt, dass der blondhaarige jüdische Typus in Südeuropa so selten, in Nordeuropa so häufig, bis zu 29 %, vorkommt, und dass der englische Jude oft das glatte, feine, blonde Haar, das blaue Auge und die hohe Stirn besitzt, die den echten Angelsachsen auszeichnet. Aus demselben Grunde haben die Juden in Piemont vor- wiegend Rundköpfe und Blondhaare, in Venetien vier- eckigen länglichen Schädel und schwarzes Haar, deshalb haben die Juden der Oase Uaregh die Haut der Neger und die Gesichtsform der Weissen, und die Abessiniens die Plattnase, die dicken Lippen, die Prognathie (vor- stehenden Kiefer) und selbst das Wollhaar der Afrikaner und zugleich die helle Haut der Europäer. Es hat eben überall die ursprünglich jüdische Rasse den Einfluss der Rassenkreuzung und des Klimawechsels erfahren.“ Die Rassenkreuzung ist so stark gewesen, dass Lom- broso den Bruchtheil der Juden mit rein semitischem Blut mit Sicherheit nur auf etwa 5 % angeben kann.Diesen Mindest-Gehalt an reinem semitischen Blut folgert Lombroso, etwas zu einseitig auf die Craniologie fussend, aus den 5 % Langschädel unter den Juden. Die echten Semiten gelten als langschädelig. Luschan, auf den er sich neben Leroy-Beaulieu und Jacobs hauptsächlich stützt, betrachtet nur noch die Beduinen Süd- arabiens als rein semitisch. Ihre Rassenmerkmale sind die längliche Schädelform, die dunkle Pigmentirung und Juden im Lichte der modernen Wissenschaft. Deutsch von Kurella. Leipzig 1894. — Luschan. Die anthropologische Stellung der Juden. Berlin 1892. eine kurze kleine Nase. Luschan dagegen fand bei 60000 Juden 50 % Kurzschädel und bei 11 % blondes Haar, eigentliche Langschädel waren nur 5 %. Die reine semitische Nase, nicht was wir gewöhnlich jüdische Nase nennen, war ebenfalls nur wenig vertreten. Jacobs unter- suchte in England 120 000 Juden und fand bei 21 % blaue Augen und bei 29 % blonde Haare. Im deutschen Reich (ausser Hamburg) hatten 1875 unter den Schulkindern Nach Alsberg hat schon vor Jahrtausenden in Palästina und Vorderasien eine intensive Vermischung des jüdischen Stammes mit einem indogermanischen Volke und wahr- scheinlich auch mit Angehörigen der mongolischen Rasse stattgefunden. Bei der Einwanderung der Israeliten in Palästina sei ein Theil dieses Landes von einer durch hellen Teint, röthliches Haar und blaue Augen gekennzeichneten Rasse bewohnt gewesen. Die Mischung mit hellenischen Elementen durch Ankauf griechischer Sclaven und Sclavinnen ist sichergestellt. Lombroso zieht zur Erklärung auch noch Vermischungen mit den Kreuzfahrern und später überall mit der Bevölkerung, in der die Juden lebten, heran. Er kommt in seinen Ausführungen zu folgendem Schluss: „Der ganze angebliche Rassengegensatz verflüchtigt sich also im Lichte der craniologischen Forschung, die uns zeigt, dass im Judenthum mehr arisches als semitisches Blut steckt. Die breite arische Grundlage des Judenthums empfing die fruchtbare Anregung der Rassenkreuzung, die, wie wir sehen werden, ein wesentlicher Factor des mensch- lichen Fortschritts ist, und zusammen mit der noch mäch- tiger anregend wirkenden klimatischen Anpassung uns er- klärt, wie das Judenthum, trotz mancher auf Inferiorität hin- wirkenden Eigenschaften (und hierher gehört auch der mindestens 5 % betragende Gehalt derselben an semitischem Blute), sich so ganz arischen Gewohnheiten angepasst .... hat und der arischen Bevölkerung, unter der sie leben, in so hohem Grade ähnlich geworden sind; bei alledem muss man einräumen, dass sie einen eigenthümlichen Typus be- wahren, der bei der Inzucht unter den Juden und ihrer abgeschlossenen, wenig differenzirten Lebensweise mit Noth- wendigkeit entstehen musste.“ Die Juden scheinen also mehr Arier als Nichtarier zu sein. Das bringt sie natürlich den westarischen Cultur- rassen schon ganz bedeutend näher. Die Entfernung ver- ringert sich noch mehr, wenn man in Betracht zieht, wo- rauf Leroy-Beaulieu hingewiesen hat, dass auch die Europäer durchaus keine reinen Arier sind. Die alten Ur- einwohner, die Europa vor der arischen Einwanderung be- setzt hielten, sind zum grossen Theil mit den Ariern zu- sammengeschmolzen, so dass ein gewisser Procentsatz nichtarischen Blutes mehr oder weniger den Europäern beigemischt ist. „So mancher Franzose und Deutsche, der sich von reinster indogermanischer Abkunft glaubt, ist ein Nachkomme der Höhlenmenschen.“ Zu der Thatsache der Rassenmischung kommt noch hinzu die Wirkung der natürlichen Zuchtwahl. Die Juden sind im Allgemeinen denselben Extralbedingungen unter- worfen, wie die Menschen, unter denen sie leben. Sie variiren in vielen Eigenschaften ganz ähnlich wie sie. Wenn nun die natürliche Zuchtwahl bestimmte dieser Variationen immer wieder auslas und häufte, so mussten verschiedene Charaktere, nämlich alle die von Extralbedingungen ab- hängigen und ihre Correlationen, sich gerade so bei den Juden wie bei den Nicht-Juden gestalten. Dies hat sicher neben der geschlechtlichen Mischung viel dazu beigetragen, den Typus der Juden dem der Völker ähnlich zu machen, unter denen sie leben. Daher mag z. B. ein Theil der blauen Augen und blonden Haare der Juden des nördlichen Europas herrühren. Man kann sich bei Betrachtung des intellectuellen und Charakter-Unterschiedes der Nord- und Südeuropäer nicht des Gedankens erwehren, dass auch ein grosser Theil ihrer geistigen Eigenthümlichkeiten mit den klimatischen Wirkungen zusammenhängt, so dass auch die geistige Verwandtschaft der Juden mit ihrem Wohn-Volk theilweise auf dem Wege klimatischer Anpassung in dar- winistischem Sinne direct oder als Correlationen erworben zu sein scheint. Die hohe geistige Befähigung der Juden und ihre her- vorragende Rolle in dem Entwickelungsprocess der Mensch- heit muss angesichts der Namen Jesus, Spinoza, Marx ohne Weiteres mit Freuden anerkannt werden. Zu Zeiten, wie nach dem Niedergang der byzantinischen Cultur, waren die Juden und andere Semiten, die Araber, fast die alleinigen Träger und Hüter der Wissenschaft, besonders der Naturwissen- schaft und der Medizin, und haben dabei, oft unter Er- duldung von Verfolgungen, Dienste geleistet, die ihnen kein Bürger der Republik der Wissenschaften je vergessen wird. An die zahlreichen Juden der Jetztzeit, die auf den Ge- bieten der Wissenschaft, der Kunst und des öffentlichen Lebens Hervorragendes leisten, braucht nur erinnert zu werden. Alle die Beziehungen der Juden zu den Mitbewohnern und den natürlichen Bedingungen ihres Wohnortes lassen es nicht zu, dass eine künstliche Scheidewand zwischen ihnen und den Westariern aufgerichtet werde, sondern sie müssen als gleich hoch stehende Culturrasse angesehen und behandelt werden, deren völlige Aufsaugung nicht nur im bürgerlichen Interesse liegt, sondern auch für die Ver- edelung beider Theile, Juden wie Nichtjuden, von grossem Vortheil sein kann. Vermischung ähnlicher Rassen wird von fast allen Biologen als ein Mittel der Steigerung der Rassentüchtigkeit und als Quelle guter Variationen aner- kannt (Japaner aus Mongolen und Malaien). Der ganze Antisemitismus ist ein Schlag in’s Wasser, dessen Wellen- kreise in der Fluth der naturwissenschaftlichen Erkenntniss und der humanen Demokratie langsam vergehen werden, und zwar um so eher, je weniger der reactionär-nationale Wind hineinblasen wird, der sich neuerdings unter den Juden erhoben hat. Es giebt zweifellos noch andere kleine Rassen mit hohen Culturanlagen, wie z. B. die Magyaren, doch würde eine eingehendere Beschäftigung mit ihnen sich nicht mit der Oekonomie unserer Arbeit vertragen. 4. Capitel. Der ideale und der heutige Rassenprocess. Der ideale Rassenprocess. Erzeugung guter Devarianten, natür- liche und künstliche Zuchtwahl. — Der heutige Rassenprocess. Variation. Erzeugung schlechter Devarianten durch mangelhafte sexuelle Zuchtwahl, Jugendlichkeit der Eltern, giftige Genussmittel. Auslese. Künstliche Ernährung von Säuglingen. Ungleiche Erziehung. Wirth- schaftliche Ausjätung. Armuth ist selectorisch und nonselectorisch. Wirkungen der Armuth und des Wohlstands auf Gesundheits- zustand. Ehe- und Geburtenziffer. Ersetzt sich die Bevölkerung mehr aus den Armen oder aus den Wohlhabenden? Contraselection, grosse Städte. Nonselectorische Schädlichkeiten, Unfälle, Trinksitten — Kurze Gegenüberstellung der beiden Processe. Der ideale Rassenprocess. Unter Rassenprocess wollen wir die Gesammtheit der Vorgänge im Lebensprocess einer Rasse in Bezug auf Variation, Kampf um’s Dasein und Vererbung zusammen- fassen. Nach unseren früheren Ausführungen wird es uns interessiren, die aufgestellten rassenhygienischen Forde- rungen zur möglichst raschen Vermehrung und Vervoll- kommnung einer Rasse einmal etwas mehr zu zergliedern und zu sehen, welch’ ein Bild etwa eine Gesellschaft in groben Zügen darbieten würde, wenn sie ausschliesslich danach eingerichtet wäre. Es handelt sich also um die Grundlinien einer Art rassenhygienischer Utopie, über deren komisches und grausames Äussere der Leser nicht zu er- schrecken braucht, es ist ja eben nur eine Utopie von einem einseitigen, durchaus nicht allein berechtigten Standpunkt aus, welcher nur den Conflict der bis in ihre Consequenzen verfolgten Anschauungen gewisser darwinistischer Kreise mit unseren Culturidealen deutlich hervortreten lassen soll. Verfolgen wir ein junges Ehepaar, dem die Fort- pflanzung auf Grund ihrer Qualitäten, wie wir nachher noch sehen werden, erlaubt war, in seinen weiteren Schicksalen. Die Lebensführung der Gatten ist beherrscht von der Rücksicht auf die Erzeugung guter Kinder, sie suchen nach gesunder Wohnung, zuträglicher Nahrung, vermeiden die Einfuhr von allerlei Giften, wie Alkohol und Tabak, be- wegen sich viel in frischer Luft und leben überhaupt ihrem Elternberuf schon lange vor der Zeugung. Diese selbst wird nicht irgend einem Zufall, einer angeheiterten Stunde überlassen, sondern geregelt nach den Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen auf- gestellt hat. Die zur Durchführung nothwendigen Kennt- nisse und Mittel der Praeventiv-Praxis werden durch die Gesellschaft Allen vermittelt und zugänglich gemacht. Nach Beginn der Schwangerschaft wird die junge Mutter als eine höchst wichtige Persönlichkeit betrachtet, man gewährt ihr alle möglichen Mittel für ihr eigenes und das Gedeihen ihrer Leibesfrucht, sowie für den ungestörten Ablauf der normalen Geburt. Stellt es sich trotzdem her- aus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder miss- gestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Aezte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugniss über Fort- pflanzungsbefähigung erlaubt ist. Dieses Ausmerzen der Neugeborenen würde bei Zwil- lingen so gut wie immer und principiell bei allen Kindern vollzogen werden, die nach der sechsten Geburt oder nach dem 45. Jahr der Mutter, bezw. dem 50. Jahr des Vaters überhaupt noch — entgegen einem gesetzlichen Verbot — geboren werden. Die im ersten Examen bestandenen Kinder werden nun gesäugt. Ammen zu halten, ist nur beim Tode des Ammen- kindes gestattet und nur, wenn die Mutter durch über- mächtige Einflüsse an dem eigenen Stillen verhindert ist. Anpreisung und Verkauf von künstlichen Kindernährmitteln ist verboten. Vor allen directen grossen Schädlichkeiten werden im Übrigen die Kinder sorgsam bewahrt. Im ganzen Verlauf der späteren Erziehung werden alle Körperfunctionen, besonders aber die des Gehirns, maximal geübt. Nach Beendigung der Erziehung, zu deren vorzüg- lichsten Zwecken es auch gehört, einen starken Sinn für Rassenwohl zu erwecken, wird eine Prüfung der einzelnen Jünglinge und Mädchen vorgenommen, die sich besonders auch auf die intellectuellen und moralischen Qualitäten be- zieht, und die nach einer Methode vorgenommen wird, die wenigstens theilweise eine weitere Ausbildung der von KraepelinKraepelin, E. Ueber geistige Arbeit. Jena 1894, und Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena 1892. empfohlenen repräsentirt. Die Censuren in dieser Prüfung lauten nicht bloss gut, genügend, unge- nügend etc., sondern auch noch: darf keine, eines, zwei, drei oder mehr Kinder zeugen in der Ehe, die eventuell eingegangen wird. Während der Ehe, welche ganz schwächlichen oder defecten Individuen nicht gestattet ist, regulirt sich die Zahl der Kinder, die man dem Paare erlaubt, nach dem Durchschnitt der beiden Zahlen, die jedem der Eltern er- laubt waren, wobei dem Durchschnitt ja stets ½ zugefügt werden könnte, im Fall sich keine ganze Zahl ergiebt. 10 Niemandem ist vor der vollen sexuellen Ausreifung — beim Manne wohl nicht vor Vollendung des 26., beim Weibe des 24. Jahres — das Ausüben der Fortpflanzungs- Functionen gestattet. Zum Zweck einer weitgehenden Möglichkeit guter sexueller Zuchtwahl ist dafür Sorge getragen, dass junge Männer und Frauen in der ausgiebigsten Weise mit ein- ander in gesellschaftliche Berührung kommen, auch in ge- meinsamen Seebädern, dass also jedes Individuum des einen Geschlechts Gelegenheit hat, möglichst viele Individuen des andern Geschlechts körperlich und geistig kennen zu lernen und eine möglichst passende Wahl zu treffen. In Bezug auf die Bewerbung um ökonomische Nähr- stellen sind folgende Einrichtungen vorhanden, bezw. nicht vorhanden: Erbrecht — ausgenommen für Andenken und Consum- güter — existirt nicht, da die Möglichkeit vorliegt, dass im wirthschaftlichen Wettkampf vortreffliche Eltern in ihren Nachkommen entarten und diese nun durch ererbtes Ver- mögen einen Schutz geniessen würden. Jedes Individuum betritt den ökonomischen Kampfplatz mit keiner anderen ungleichen Ausrüstung als seinen Fähigkeiten, im übrigen wird Jedem ein gleicher Antheil an den gesellschaftlichen Productionsmitteln gewährt. Dies ist möglich in der Form eines Credits in gewisser Höhe, mit dem dann der Einzelne für sich muss wirthschaften oder sich an grösseren Unternehmungen muss betheiligen können, ohne durch irgend welche Privilegien von Classen oder Ständen an der Entfaltung seiner Fähigkeiten gehemmt zu werden. Unter solchen Umständen würde wohl manches Söhnchen reicher oder privilegirter Eltern einen schweren Stand haben. Wer sich dann in dem ökonomischen Kampf als schwach erweist und sich nicht erhalten kann, verfällt der Armuth mit ihren ausjätenden Schrecken. Armen-Unter- stützung darf nur minimal sein und nur an Leute verab- folgt werden, die keinen Einfluss mehr auf die Brutpflege haben. Solche und andere „humane Gefühlsduseleien“ wie Pflege der Kranken, der Blinden, Taubstummen, überhaupt aller Schwachen, hindern oder verzögern nur die Wirksam- keit der natürlichen Zuchtwahl. Besonders für Dinge wie Krankheits- und Arbeitslosen- Versicherung, wie die Hülfe des Arztes, hauptsächlich des Geburtshelfers, wird der strenge Rassenhygieniker nur ein missbilligendes Achselzucken haben. Der Kampf um’s Dasein muss in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben, wenn wir uns rasch vervollkommnen sollen, das bleibt sein Dictum. Gegen blutige Revolutionen, besonders solche, in denen das Princip der Gleichberechtigung der Schwachen Zeugniss seiner unwiderstehlich wachsenden Kraft ablegt, wird er auf’s heftigste eifern, als gegen eine unnöthige Zerstörung guter Individuen. Gegen die Kriege wird er weniger etwas haben, da sie eines der Mittel im Kampf um’s Dasein der Völker bilden. Nur wird er darauf dringen, dass entweder mit Söldnerheeren gekämpft wird, oder dass die Aushebung beim System der allgemeinen Wehrpflicht so umfassend wie nur möglich ist, um recht viele auch der schlechteren Individuen in’s Heer zu bekommen, so dass der Nachtheil für die guten Convarianten nicht zu stark wird. Während des Feldzugs wäre es dann gut, die besonders zusammen- gereihten schlechten Varianten an die Stellen zu bringen, wo man hauptsächlich Kanonenfutter braucht, und wo es auf die individuelle Tüchtigkeit nicht so ankommt. Bei solchem oder ähnlichem Gewährenlassen der natür- lichen Zuchtwahl, die in unserem Beispiel noch durch eine künstliche verstärkt ist, wäre eine rasche Vervollkommnung der Rasse zu erwarten. 10* Der heutige Rassenprocess. Gegenüber diesem utopischen Bilde, über dessen Ver- hältniss zu den humanitär-socialistischen Idealen wir uns im nächsten Capitel noch weiter auslassen wollen, wollen wir nun in kurzen Grundlinien das Bild skizziren, das unsere heutige Gesellschaft darbietet.Vgl. Schäffle, A. Bau und Leben des socialen Körpers. 4 Bde. Tübingen. 1881. Was die sexuelle Auslese und die Rücksicht auf die Erzeugung guter Devarianten anlangt, so hat schon Darwin die heutigen Verhältnisse als erbärmlich genug hingestellt. Am Ende des zweiten Theils seiner „Abstammung des Menschen“ lässt er sich folgendermaassen darüber aus: „Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Charakter und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn es aber zu seiner eigenen Heirath kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. Er wird nahezu durch dieselben Motive wie die niederen Thiere, wenn sie ihrer eigenen freien Wahl überlassen sind, angetrieben, obgleich er insoweit ihnen überlegen ist, dass er geistige Reize und Tugenden hochschätzt. Andrerseits wird er durch blosse Wohlhabenheit oder durch Rang stark angezogen … Wenn die Principien der Züchtung und der Vererbung besser verstanden werden, werden wir nicht unwissende Glieder unserer gesetzgebenden Körper- schaften verächtlich einen Plan zur Ermittelung der Frage zurückweisen hören, ob blutsverwandte Heirathen für den Menschen schädlich sind oder nicht.“ Irgend eine Beschränkung des niedrigst zulässigen Heirathsalters in annehmbarer Weise haben wir in keinem Culturstaat, überall ist es zu früh angesetzt, in manchen Ländern auf 16, bezw. 14, ja 12 Jahre. Auch die öffent- Meinung ist viel zu stumpf in diesem Punkt. In Thüringen, Oldenburg und Braunschweig, deren Statistik Material dafür liefert, wurden im Durchschnitt der Jahre 1876—80 53502 Kinder geboren, davon 13023, oder etwa ein Viertel, ehe die Mutter 25 Jahre alt war. In Berlin betrug für 1878 ‒ 80 dieser Bruchtheil 23,8 %.Statistik des Deutschen Reichs. Neu Folge, Bd. 44. S. 142. In den Neuengland-Staaten sind unter den Eheschliessenden 15—25 % der Frauen unter 20 Jahren und etwa 60 % von ihnen unter 25 Jahren, von den heirathenden Männern stehen etwa 40 % unter 25 Jahren. Nach den Arbeiten von KörösiKörösi, J. Ueber den Einfluss des elterlichen Alters auf die Lebenskraft der Kinder. Hildebrand’s Jahrb. für National- Oeconomie und Stat. 3. Folge, 4. Bd. S. 518. ist es zweifellos, dass die Kinder, die vor der völligen Reife der Mütter gezeugt werden, lebensschwächer sind, und dass man diese völlige Reife der Mütter für gewöhnlich zu früh ansetzt. Ein Ausschliessen offenbarer Schwächlinge und Kranker von der Fortpflanzung findet nur in seltenen Fällen statt. Krethi und Plethi heirathet lustig drauf los. Kränkliche Menschen, alte Roués heirathen manchmal nur zu dem Zweck, eine Pflegerin zu bekommen, und wenn dabei dann nebenher noch so ein Häufchen Jammer auf die Welt kommt, wird es noch mit aller möglichen Sorgfalt auf- gepäppelt. In neuerer Zeit bemühen sich fromme Damen sogar als Heirathsvermittler zwischen Blinden und Taub- stummen. Auch von kräftigen Gatten werden oft genug minder- werthige Kinder gezeugt, weil sie die zwar der Wissenschaft bekannten, aber in Folge unserer vortrefflichen Erziehung ihnen selbst nicht zu Ohren gekommenen günstigen Zeugungsbedingungen nicht zu benutzen und die ungünstigen nicht zu vermeiden verstehen. Da wird so manches Kind im halben Rausch oder kleineren Bruchtheilen dieses herr- lichen Zustandes gezeugt, das sonst viel besser gerathen wäre. So mancher Sprosse starker Geschlechter büsst etwas von ihrer Constitutionskraft ein, weil der Vater ein unmässiger Raucher war, oder die Mutter ihren kräftigen Körper durch fortdauerndes starkes Schnüren zart und schlank machen wollte und sich so Gebärmutter-Krank- heiten zuzog. In anderen Fällen wieder werden die Kinder so rasch hinter einander gezeugt, dass die Mutter und der spätere Nachwuchs schwer geschädigt werden, ganz zu geschweigen von den noch immer zahlreichen Fällen, in denen nach dem ersten halben Dutzend Kinder ein zweites, wie wir auf S. 59 sahen, sich stetig verschlechterndes folgt.In Berlin machten 1891 die Kinder vom Sechstgeborenen (einschliesslich) aufwärts ein Sechstel aller Geborenen aus. Was die Kinderpflege anlangt, so wird auch hier in mannigfachster Weise gegen die reinen rassenhygienischen Forderungen gesündigt. Schwächliche Mütter besorgen sich Ammen, Soxhlet’sche Sterilisationsapparate und allerlei Kindernährmittel und vererben auf diese Weise häufig ihre flachen Brüste und sonstige Mängel ihrer Constitution. Wenn die natürliche Auslese der Schwachen doch in Form von allerlei Kinderkrankheiten, besonders Ver- dauungsstörungen und Entzündungen der Athmungsorgane in ihr Recht treten will, kommt der Arzt dazwischen und bereichert in vielen Fällen die Menschheit um eine schwache Constitution, die sich später oft nur selbst zur Last wird. Bei der Erziehung wird nicht Jedem die gleiche Chance gegeben, sondern der, dessen Eltern wohlhabend sind, geniesst von Anfang an eine bessere Ausbildung als der Sohn des Proletariers. Dagegen wäre vom Standpunkt des Rassenwohls dann nicht viel einzuwenden, wenn der Vermögensstand der Eltern die directe Folge ihrer wirth- schaftlichen Fähigkeiten wäre. Das ist aber sehr häufig durchaus nicht der Fall, da viele Vermögen sich bereits seit Generationen forterben und auch in ihrer ersten Entstehung häufig genug auf Lug und Trug oder Gewalt beruhen. Auch das Erbrecht, das bei dem Wettkampf um die Nährstellen den einen Theil der Bewerber von vorn herein günstiger stellt oder ihn überhaupt jeden Kampfes über- hebt, steht noch in voller Glorie. Dass dieser Theil nicht rein mit dem besten zusammenfällt, ist bekannt. Hierdurch, sowie durch starke nonselectorische Schädlichkeiten im Gebiet des wirthschaftlichen Lebens ist die Armuth, um die auch sonst heute das grösste Gewirr von Fragen schwärmt, oft betrachtet worden als ein Schicksal, das die Menschen ohne Rücksicht auf ihre Eigenschaften überfällt, so be- sonders oft von den Socialisten. Andere wieder haben allzu stark betont, dass die Armen stets nur wegen ihrer Inferiorität arm sind, und dass man sie zu identifiziren habe mit den Unterlegenen des Kampfes um’s Dasein. Armuth. In Wirklichkeit ist allerdings die Armuth eine Ausjäte- Erscheinung, die Schwächsten fallen ihr am ehesten zum Opfer. Allein dies ist doch nicht immer der Fall, eine beträchtliche Quote der Armuth, wie z. B. ein Theil des Krisenelends ist sicher nonselectorischen Charakters. Jeden- falls besitzen wir in dem oekonomischen Kampf um’s Dasein eine ausserordentlich wirksame Art der natürlichen Auslese. Dies behält dadurch nicht minder seine Bedeutung, wenn wir zugeben, dass die Armuth in Folge unserer wirthschaft- lichen EinrichtungenVgl. Marx, Karl. Das Capital. I. Bd. III. Aufl. Hamburg 1883. in beinahe demselben Grade be- bestehen würde, wenn alle Individuen gleich hoch begabt wären. Es trifft nur eben nicht zu, dass „alle Menschen, gleich geboren, sind ein adliges Geschlecht,“ sondern so sehr es in vielen Fällen unmöglich ist, zwischen ursprüng- licher Anlage und späteren Wirkungen der Umgebung zu unterscheiden, so wird doch kein Naturwissenschaftler, am wenigsten ein Arzt, die grossen natürlichen Unterschiede in den Anlagen der Menschen abläugnen. Wir wollen die ökonomische Ausjäte hier noch etwas genauer in’s Auge fassen, da sie auch für das nächste Capitel, in dem die Folgen ihres Fortfalls besprochen wer- den sollen, eine hervorragende Bedeutung hat. Besonders wird es nöthig sein, das Märchen vom gesunden armen Mann, dem seine frugale Lebensweise die Kraft erhalten hat, mit der Statistik zu confrontiren, um zu sehen, ob etwa dadurch die ausjätende Potenz der Armuth in Frage gestellt wird. Zur ökonomischen Ausmerzung würde jede Schädi- gung der Individuen in Zeugung und Kinderpflege aus Mangel oder aus einem Zuviel an sogenannten wirthschaft- lichen Tugenden gehören, indem die nothwendigen Güter zur Gewinnung eines Gatten und zur Pflege der Kinder, natürlich auch zur eigenen Erhaltung nicht gesammelt oder bewahrt werden können. Die Zahl der Nährstellen ist eine stets schwankende, hier anschwellend, z. B. durch Eröffnung neuer Siedelungs- oder Waarenabsatz-Gebiete, dort zurückgehend durch Krisen oder stark arbeitsparende Maschinen. Aber stets ist sie auf die Dauer eine verhältnissmässig beschränkte und zwingt desshalb, abgesehen von den nonselectorischen Momenten in Krisen, Strikes, Lockouts, zum wirthschaftlichen Kampf um’s Dasein unter den zu zahlreichen Bewerbern. Die Eigenschaften, die darin zum Siege helfen, sind bei der Verschiedenheit der Anforderungen, die an diese Bewerber um die verschiedenen Nährstellen gestellt werden, jeden- falls sehr mannigfaltig. Im Grossen und Ganzen kann man aber doch sagen, dass sie bestehen in einer guten Con- stitutionskraft, vor allem gut entwickelter Intelligenz und Arbeitskraft, einigen moralischen Hemmungen, einem ge- wissen Verhältniss von Altruismus und Egoismus und last not least einer ziemlichen Fähigkeit zu lügen und zu heucheln. Die gute Constitutionskraft sichert geistige und körper- liche Arbeitsfähigkeit und Widerstandskraft gegen die Schäd- lichkeiten der Arbeit. Ihr Intelligenztheil zeigt den Haupt- punkt bei aller Wirthschaft, das richtige Verhältniss zwischen Kostenwerth und Gebrauchs-, bezw. Tauschwerth, zwischen Ausgabe und Einnahme, vergrössert die Ergiebigkeit der Arbeit und schützt vor dem Strafgesetz und sonstigen allzu starken Conflicten mit Gesellschaft oder den Individuen. Die moralischen Hemmungen leisten dieses Letztere eben- falls, nur auf anderem Wege. Das richtige Verhältniss altruistischer und egoistischer Neigungen sorgt für ein günstiges, die Individual-Wirthschaft nicht beeinträchtigendes Verhältniss zwischen den empfangenen Leistungen, wie sie den Altruisten vielfach von den Nebenmenschen zu Theil werden, und den Rückleistungen, die der Egoismus nicht zu hoch ansteigen lässt. Es giebt natürlich auch genug Fälle, wo ein ungemischter Egoismus — auch ohne non- selectorische Glücksmomente — den grössten wirthschaft- lichen Erfolg davonträgt, wie z. B. im Falle Jay Gould’s, allein für die grosse Masse trifft das wohl kaum zu, mindestens muss ein gewisses Maass von Altruismus geheuchelt werden. Was die Heuchelei anlangt, so weiss Jeder, dass oft genug, abgesehen von den directen Lügen aus Habgier, von den conventionellen Lügen bis zur groben Heuchelei alles auf- gewandt wird, um den Anschauungsabstand von den Mit- menschen nicht zu gross erscheinen zu lassen. Sonst würde für einen Bewerber um wirthschaftliche Gunst die Gefahr zu gross, von einem Anderen verdrängt zu werden, dessen zur Schau getragene Meinungen in dem Gehirn des Gunst- verleihers nicht so viele Reibungen verursachen. Nebenbei gesagt, liegt hierin eine grosse und allge- meine Entwürdigung, in die das heutige capitalistische System die übergrosse Mehrzahl der Menschen hineinzwängt. Die Ausmerzung nun in diesem wirthschaftlichen Kampf um’s Dasein besteht hauptsächlich aus Folgendem: erstens Tod in Folge von Hunger oder Krankheiten, die durch Mangel, Schmutz, Unwissenheit, Sorgen und andere Be- gleiterscheinungen der Armuth entstehen, kurz Armuths- Sterblichkeit; zweitens Ehelosigkeit oder verminderte Kinder- zeugung durch absolute oder relative Armuth, auch Ar- muths-Krankheiten, sowie durch sonstige geistige und körperliche Folgezustände der Armuth, kurz Armuths- Praevention; endlich drittens jede Schädigung, von denen die Keime und die Kinder während der Zeit ihres Heran- wachsens durch die Armuth der Eltern getroffen werden. Die Schädigungen dieser letzten Kategorie würden natür- lich für eine spätere Zeit auch entweder auf Armuths-Tod oder Armuths-Praevention hinauslaufen, so dass es nur dann Werth hat, diese Kategorie überhaupt aufzustellen, wenn die gesammte wirthschaftliche Ausjäte zu einem ge- gebenen Zeitpunkt betrachtet werden soll. Um nun den Inhalt der wirthschaftlichen Ausjätung etwas specialisiren zu können, wollen wir die Einflüsse der Armuth schlechtweg auf Gesundheitszustand, Eheschliessung und Geburtenziffer in’s Auge fassen. Das ist insofern nicht ganz correct, als die Armuth in ihrer Gesammtheit nicht die Folge des wirthschaftlichen Kampfes um’s Dasein allein ist, sondern ausserdem giebt es ja noch die Armuth durch die nonselectorischen Einflüsse der Krisen, der Einführung von Maschinen etc. und des blossen Umstandes der Geburt in Familien, die durch solche nonselectorischen Momente arm geworden sind. Aber der Fehler bezieht sich haupt- sächlich nur darauf, dass der Begriff der Gesammt-Armuth ein quantitativ umfassenderer ist, als der der wirthschaftlichen Ausjäte, ihre spezielle Beschaffenheit und die Art ihrer Folgen sind so ziemlich dieselben. Höchstens könnte man anführen, dass bei der nonselectorischen Armuth die Ent- artung des Familienlebens und das hoffnungslose Erlahmen nicht so häufig eintritt eben durch das öftere Vorhanden- sein guter wirthschaftlicher Eigenschaften, so dass also die nonselectorische Armuth im Allgemeinen die weniger schäd- liche Art wäre. Allein es ist unmöglich, darüber eine ge- gründete Meinung auszusprechen, da wohl in sehr vielen Fällen die guten wirthschaftlichen Eigenschaften den Ar- muths-Einflüssen bald zur Beute fallen. Eine vage Anschauung von dem gegenseitigen Verhältnis des selectorischen und nonselectorischen wirthschaftlichen Untergangs in gewissen Kreisen des Volks mögen folgende von dem World AlmanacThe World Almanac und Encyclopedia. New-York 1894. S. 176. nach Bradstreet’s Journal gelieferten Zahlen geben. Von den 12394 Bankerotten des Jahres 1891 in den Vereinigten Staaten von Amerika kamen in Procenten auf folgende Ursachen und hatten folgende Procente der Gesammtverpflichtungen aller Bankerotteure: Den Posten mit der Bezeichnung Mangel an Capital müssen wir aus der Betrachtung fortlassen, da in ihm ja schon viele Ärmere inbegriffen sind, was auch dadurch documentirt wird, dass der Antheil dieses Postens an den Verpflichtungen (32 %) ein gut Theil hinter seinem Antheil an der Zahl der Bankerotte (39,2 %) zurückbleibt. Von den noch übrig bleibenden 61 % können wir 34, d. h. etwa die Hälfte, eher als wirthschaftliche Ausjäte betrachten, nämlich die Posten Unfähigkeit, Unerfahrenheit, unkluger Credit, Verschwendung, Nachlässigkeit, Speculation und Betrug, und 27, die kleinere Hälfte, eher als Folge non- selectorischer wirthschaftlicher Factoren ansehen, nämlich die Posten Bankerott Anderer, Concurrenz, Unglücke und Krisen. Einen exacten Werth können diese Zahlen natürlich schon deshalb nicht haben, weil die wahren Ursachen der Bankerotte nicht immer leicht festzustellen sind. Wir haben demnach gar keine andere Möglichkeit, als uns an die Gesammt-Armuth zu halten. Eine Betrachtung der Beziehungen der Armuth zur Constitutionskraft und zur Qualität der erzeugten Devarianten ist nicht nur nothwendig, um die Folgen der ökonomischen Ausjätung zu charakte- risiren, sondern wir müssen auch die der nonselectorisch entstandenen Armuth näher kennen lernen, um die Be- deutung dieses letzteren Factors für den Rassenprocess würdigen zu können. Was zunächst den directen Hungertod anlangt, so mag er ja in seiner acuten Form nicht so sehr häufig auftreten, trotzdem z. B. 1887 in London in 36 Fällen der Tod durch buchstäbliches Verhungern von den Leichenbeschauern constatirt wurde. Allein in der langsamen indirecten Form, die kaum noch mit Hungergefühl ausser grade nach andrer und besserer Nahrung einhergeht, ist er häufiger, indem die mangelhafte Ernährung das Auftreten vieler Krank- heiten erleichtert und ihren Verlauf schlimmer gestaltet.In Bezug auf die grosse Erkrankungsziffer der niederen Volks- schichten findet sich viel Material in den Berichten der verschiedenen Fabrikinspectoren; besonders instructiv ist die ausgezeichnete Arbeit der Herren Dr. F. Schuler, eidgenössischer Fabrikinspector in Mollis Man hört so oft von der Gesundheit reden, die dem Armen als Lohn für seine einfache Lebensweise zu Theil wird, gegenüber der Kränklichkeit des Wohlhabenden in Folge üppiger Lebensweise, und tritt auch wohl manchmal mit dieser Behauptung allzu unzufriedenen Elementen entgegen. Allein die Statistik lehrt doch etwas ganz Anderes. Über die Morbidität und Mortalität der Gesammtheit der Armen und der der Wohlhabenden in einem Lande ist mir nur wenig Material zugänglich. Was das allmählige Erlöschen der Familien des hohen Adels anlangt, so spielen dabei Inzucht, künstliche Verminderung der Geburten und häufiges Heirathen von Erbinnen, d. h. Töchter kinder- armer Eltern, eine ziemlich bedeutende Rolle. Im übrigen aber steht Morbidität und Mortalität unter sonst gleichen Umständen im umgekehrten Verhältniss zum Einkommen. Einige Zahlen mögen dies für die Sterblichkeit, resp. das durchschnittliche Lebensalter darthun. „Für England hat die Berufs-Statistik als durchschnitt- liches Lebensalter festgestellt: in den höheren Klassen 44 Jahre in dem niederen Mittelstand 26 „ bei den arbeitenden Klassen 22 „ Nach derselben Quelle beträgt die Sterblichkeitsziffer für das ganze Land 22 ‰ für den Wohnsitz der höheren Klassen 17 „ für die Arbeiter-Districte 36 „ und Dr. A. E. Burkhardt, Professor für Hygiene in Basel: Ueber die Gesundheitsverhältnisse der Fabrik-Bevölkerung in der Schweiz, ferner die Arbeit von Dr. H. Rauchberg: Ueber die Erkrankungs- und Sterblichkeits-Verhältnisse bei der allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse in Wien 1887. Einen kurzen Auszug daraus giebt Dr. H. Lux in seinem geschickt zusammengestellten Socialpolitischen Handbuch. Berlin 1892. — Vgl. ferner Engels. Fr. Die Lage der arbeitenden Klassen in England. II. Aufl. 1892. — Marx, K. Das Kapital. 1. Band. III. Aufl. Hamburg 1883. Dr. Anderson Lux, a. a. O. S. 68. Daselbst auch Angabe voriger Seite. in Dundee wies nach, dass bei einer Gesammtsterblichkeit von 20,7 ‰ die Sterblichkeit je nach der verschiedenen Grösse der Wohnung, die ja ein indirecter Maasstab des Einkommens ist, sich folgender- maassen verhält: in Wohnungen mit 4 und mehr Zimmern 12,3 ‰ „ „ „ 3 „ 17,2 „ „ „ „ 2 „ 18,8 „ „ „ „ 1 „ 23,3 „ VillerméCitirt in Haushofer, Lehr- und Handbuch der Statistik. Wien 1882. macht für Paris interessante Angaben über das Verhältniss der Wohnungspreise in den einzelnen Quartiren zu der Sterblichkeit in ihnen von 1821—1826. Der bekannte Statistiker KolbCulturgeschichte der Menschheit. III. Aufl. Leipzig 1885. S. 33. äussert sich folgender- maassen über den ausjätenden Einfluss der Armuth: „Wohl- stand und Armuth sind es, welche auf das Gedeihen und Verkümmern der Menschen am gewaltigsten einwirken! Heirathen, Geburten und Sterbefälle vermehren oder ver- mindern sich mit den Preisen der Lebensmittel und der Arbeitsgelegenheit. In dem ziemlich ausgedehnten Zeit- raume von 1694—1784, also in 90 Jahren, betrug die durch- schnittliche Sterblichkeit zu Paris: in den 10 theucrsten Jahren je 21174 Sterbefälle „ „ 10 wohlfeilsten „ „ 17529 „ Ebenso zählte man zu London: in 7 englischen Grafschaften: Nicander fand, das in Schweden die Zahl der Sterbe- fälle durch die Theuerung vermehrt wurde: im Jahre 1762 um ⅕, 1763 um 1/7, 1772 um ¼, 1733 um ⅓, 1799 um 1/7, 1800 um ⅙. Die Wirkung der Theurung ist aber um so furchtbarer, da nicht die Gesammtheit der Einwohner ihren gleichmässigen Beitrag zu dieser Vermehrung der Todesfälle liefert, sondern die ganze Erhöhung zunächst von den Armen herrührt, welche also nicht etwa bloss 1/7, ¼ u. s. w. mehr als gewöhnlich an Todten liefern, sondern noch ungleich härter betroffen werden, da sie auch einen grossen Theil der auf die Reichen treffenden Quote zu liefern haben. In Übereinstimmung hiermit zeigt sich dann auch die gewaltige Einwirkung von Wohlstand oder Armuth, wenn wir nicht bloss einzelne Jahre sondern die Lebensverhältnisse ganzer Menschenklassen in’s Auge fassen. Die Schriften von Benviston, Morgan, Dr. Casper und Quetelet enthalten reiches Material. Nach Caspar’s Untersuchungen leben von 1000 zu gleicher Zeit geborenen Menschen nach Die Zahlen der ersten Colonne (Wohlhabende) nahm Caspar aus Zusammenstellungen der bei adligen Familien eingetretenen Sterbefälle, jene der zweiten (Arme) aus den Listen der seit vielen Jahren in Berlin verstorbenen Stadt- armen. — Die mittlere Lebensdauer stellt sich bei den Reichen auf 50, bei den Armen nur auf 32 Jahre. … Das Missverhältniss tritt, wie man sieht, schon in der frühesten Zeit ein, es dauert aber im höheren Alter ohne Minderung fort und wäre noch ungleich grösser, wenn sich die Reichen nicht häufig durch ein Übermaass von Genüssen selbst das Leben verkürzten; Villermé’s Beobachtungen stimmen damit überein. Er ermittelte, dass in dem mehr von Reichen bewohnten 1. Stadtbezirk von Paris jährlich nur 1/53, in dem mehr von Armen bewohnten 12. Bezirk mindestens 1/40 der Gesammtbevölkerung starb. Ebenso entreisst der Tod in den wohlhabenden Departements Frankreichs jährlich 1/53, in den armen 1/46 der Ein- wohnerschaft. Lord Ebrington fand zu London eine durch- schnittliche Sterblichkeit von 25‰, jedoch stieg sie in einigen Quartieren auf 40, während sie in andern nur 13 betrug. Ebenso berechnete er an einigen Orten eine mittlere Lebensdauer im Handwerkerstande von 19—20, in der Klasse der Handelsleute und Gentlemen eine von 40—45 Jahren. Und dabei darf nicht übersehen werden, welche bedeutende Annäherung der Ziffern dadurch stattfindet, dass nirgends bloss Reiche, nirgends bloss Arme vorhanden sind; schon der partielle Unterschied erzeugt solche Ab- weichungen. Thatsachen dieser Art — und die Zahl der Beispiele liesse sich ungemein vermehren — führen von selbst zu dem Axiom: Je geringer die Civilisation und der Wohlstand, je grösser die Uncultur und das Elend, desto furchtbarer rafft der Tod die Menschen hinweg; mit der Cultur und dem Wohlstand erhöht sich die Lebensdauer.“ Wie eine schlechte Ernährung auch das Zurückbleiben der allgemeinen Körperentwicklung bedingt, zeigte Keleti durch Nachweis der Harmonie, die in den einzelnen un- garischen Comitaten zwischen dem auf den Kopf kommenden Eiweiss-Gehalt der Nahrung und der Zahl der Militär- tauglichen besteht. Keleti, Dr. Karl. Die Ernährungstatistik der Bevölkerung Ungarns auf physiologischer Grundlage bearbeitet. Uebersetzung aus den ungarischen Amtlichen statistischen Mittheilungen. Budapest. 1887. Refer. im Arch. f. soc. Gesetzgeb. u. Statistik. 1. Bd. S. 346. Tübingen 1888. Was die Verfolgung der näheren Art und Weise an- langt, wie die Armuth durch schlechte Ernährung, enge Wohnung, Schmutz, Unwissenheit, Prostitution, Zwang zur Arbeit unter gesundheitsschädlichen Bedingungen u. s. w. eine Schädigung der Entwickelung, Krankheit und früh- zeitigen Tod hervorbringt, so führt das zu weit ab in’s medicinische Gebiet. Die Armuths-Krankheiten vermindern unter den von ihnen Betroffenen natürlich die Eheschliessungen und die Zahl der Nachkommenschaft und liefern dadurch Material für die Armuths-Praevention. Aber die Armuth wirkt auch praeventiv in mehr directer Weise. Ein Theil der ärmeren Männer scheut die Kosten der Ehe, als Zuflucht bleiben ja die Prostituirten, und ein Theil der ärmeren Mädchen bleibt wegen zu geringer Mitgift unverheirathet oder fällt durch Noth und Verführung der Prostitution zum Opfer, wobei die Wahrscheinlichkeit sich zu verheirathen und Kinder zu erzeugen bekanntlich minimal, dagegen die Sterblichkeit gross ist. Dass die Prostitution sich so gut wie ausschliess- lich aus armen Mädchen rekrutirt, zeigt eine Ermittelung des Berliner Polizei-PraesidiumsLux, a. a. O. pag. 135. in den Jahren 1871 bis 1878 über den vorherigen Erwerb von 2224 Prostituirten. Darnach waren Dienstmädchen 794 = 35,7 % Fabrikarbeiterinnen 355 = 16,0 „ in Hausindustrie und Ladengeschäft 936 = 42,0 „ Aufwärterinnen in Verkaufslokalen 139 = 6,3 „ 11 Parent Duchatelet fand unter 3084 Prostituirten nur drei Bemittelte mit einem jährlichen Einkommen von 300 bis 1000 Franken. Der Antheil, den defecte Gehirnanlagen an den Ursachen der Prostitution haben, ist also nicht so aus- schlaggebend, wie man nach TarnowskyCitirt in Ploss, Das Weib. III. Auflage. Leipzig 1891. S. 345. und Lom- brosoLombroso, C. und Ferrero. Das Weib als Ver- brecherin und Prostituirte. Deutsch von Kurella. Hamburg 1894. glauben könnte, sondern die Armuth spielt als Quelle ebenfalls eine bedeutende Rolle. Bei den schlecht bezahlten Arbeitern, besonders in Gegenden, wo viel Frauenarbeit herrscht, scheint das ge- ringe Einkommen die Ehe nicht so leicht zu hindern, als andere Momente in den höheren Ständen. Die Ehen werden wenigstens bei den Arbeitern im Durchschnitt früher geschlossen. Nach einer officiellen englischen Sta- tistikNeue Zeit. 1887. pag. 190. aus den Jahren 1884 und 1885 ist das durchschnitt- liche Heirathsalter der Bergwerksarbeiter 23,56 Jahre Arbeiter in Textilfabriken 23,88 „ Schuster und Schneider 24,42 „ geschickten Arbeiter 24,85 „ Taglöhner 25,06 „ Handlungs-Commis 25,75 „ Detail-Händler 26,17 „ Pächterssöhne 28,73 „ Gebildeten und Unabhängigen 30,72 „ Übrigens darf man grade in Bezug auf Eheschliessung die Armen schlechtweg durchaus nicht als die Unter- liegenden ansehen. Das Unterliegen ist relativ und richtet sich nach der gewohnheisgemässen Lebenshaltung der Concurrirenden; der Kampf wird also, wie in mancher an- deren Beziehung, zum grossen Theil innerhalb der Stände ausgefochten. Ein reicher Adliger z. B. unterliegt im Kampf um die Familie oft schon, wenn er auf eine Lebenshaltung herabgedrückt wird oder werden soll, die dem gewöhnlichen Arbeiter noch als sehr hoch vorkommt. So muss man verschiedene, natürlich nicht scharf abgegrenzte Classen von Lebenshaltungen unterscheiden, deren Mitglieder den Kampf um die Familie schon von Anfang an auf einer andern Basis ausfechten. Aber diese Art relativer ökono- mischer Ehehindernisse erscheint doch immer, auch bei Wohlhabenden, im Gefolge einer wirthschaftlichen Schädi- gung selectorischer oder nonselectorischer Natur oder im Gefolge der Furcht vor einer solchen Schädigung, gehört also durch ihren selectorischen Theil zur wirthschaftlichen Ausjäte. Es wird interessant sein, einige Zahlen über die Ehe- losigkeit überhaupt anzuführen. In Berlin waren 1890 24 % der Männer, die über 25 Jahre, und 31 % der Frauen, die über 20 Jahre waren, ledig. In den Jahrgängen von 30 bis 35 waren von den Männern noch über 27 % ledig, in den Jahrgängen von 35 bis 40 bei den Männern über 15 %, bei den Frauen über 17 %, wobei die grössere Sterblich- keit der Ledigen ihr Verhältniss zu den Verheiratheten und damit auch die Rate der sexuellen Ausjäte noch günstiger erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit ist. Für das Deutsche Reiche und einige andere Staaten geben folgende Ziffern Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge. Bd. 44. Berlin 1892. einen Anhalt: Es waren in den 70er Jahren ledig in 11* Complicirter liegen die Dinge bei dem Theil der Armuths-Ausmerze, der sich direct in der Verminderung der Geburten kundgiebt, die auf eine Ehe kommen könnten. Es ist wohl keine Frage, dass durch die Armuth insofern ein vermindernder Einfluss ausgeübt wird, als die Sterblich- keit der Armen eine grössere ist und also oft genug zu frühzeitigem Aufhören der Kindererzeugung führen muss. Dieser Einfluss wird sich besonders zeigen, wenn man die Kinderzahl pro Ehe bei der industriellen Reserve-Armee, den Ärmsten unter den Armen, vergleicht mit derjenigen der mehr stetig beschäftigten, wenn auch immerhin noch armen Arbeiter. Auch unter letzteren werden die durch vorzeitigen Tod gelösten Ehen zahlreicher sein als unter den wohlhabenden Classen. Allein diesem Einfluss steht ein viel mächtigerer ent- gegen: mit zunehmendem Einkommen vermindert sich im Grossen und Ganzen die Zahl der Geburten, die auf eine Ehe kommen. Marx sagt: „In der That steht nicht nur die Masse der Geburten und Todesfälle, sondern die absolute Grösse der Familien im umgekehrten Verhältniss zur Höhe des Arbeitslohnes.Marx, Karl. Das Kapital. I. Bd. III. Aufl. Hamburg 1883. S. 661. DumontDumont, A. Dépopulation et civilisation. Paris 1890. pag. 80 und folg. erklärt: „Es giebt kaum etwas Gesicher- teres in der Demographie, als dass das Elend fruchtbar, der Reichthum und die Wohlhabenheit verhältnissmässig unfruchtbar sind.“ Er citirt Legoyt, (Revue scientifique, 4. Sept. 1880): „Nach den Arbeiten von Quételet für Brüssel, W. Farr für London, de Villermé und Benoiston de Chateanneuf für Paris wird das Maximum der Geburten erzeugt in den Quartieren der arbeitenden Klassen und das Minimum in den Quartieren der Reichen oder der einfach Wohlhabenden.“ Der Grund dieser Erscheinung liegt wohl nur zum allerkleinsten Theil darin, dass wohlgenährte Eltern rein physiologisch eine geringere Zeugungspotenz haben als schlecht genährte. Die Aerzte wissen zwar, dass Fettsucht unfruchtbar machen kann, allein über den Einfluss der blossen guten Ernährung und des behaglichen Lebens überhaupt auf die Fruchtbarkeit der Menschen liegen keine einwandsfreien Beobachtungen vor. Darwin kommt bei der Betrachtung dieses Gegenstandes zu dem von den Hausthieren abge- leiteten Analogie-Schluss, man dürfe erwarten, dass civilisirte Menschen wegen ihrer nahrhaften Kost frucht- barer seien als wilde.Darwin. Abstammung des Menschen. Deutsch von Carus. 1. Bd. S. 57. Es wäre auch wohl anzunehmen, dass eine eventuelle rasche Abnahme der Zeugungskraft der Wohlhabenden sich nicht nur in der Menge, sondern auch in der Güte der Kinder offenbaren würde, wogegen die bessere Entwickelung der Kinder von Wohlhabenden spricht. Es bleibt nur übrig, den Hauptgrund der Er- scheinung in der grösseren Abneigung der Wohlhabenden gegen Kinderzeugung und -Pflege zu suchen und in ihrer grösseren Macht, Zeugung und Geburt zu verhindern. Abneigung der Eltern gegen eine grössere Zahl Kinder besteht wohl ausnahmslos sowohl bei den Armen, wie bei den Wohlhabenden. Mir ist auf zahlreiche Anfragen noch nie der Bescheid geworden, dass mehr wie zwei bis drei Kinder erwünscht seien. Im Gegentheil wurden mir sogar von wohlhabenden, verheiratheten Frauen nicht nur prae- ventiver Verkehr, sondern auch mehrfacher künstlicher Abort eingestanden. Eine kinderlose Amerikanerin erzählte mir in der Consultationsstunde in der harmlosesten Weise, sie hätte drei künstliche Fehlgeburten durchgemacht. Dabei hat sie Kinder sehr gern und scheut sogar kleine Reisen nicht, um hübsche Babies zu besuchen, von Katzen und Hunden, die sie hält, ganz zu schweigen. Trotz Mutter- instinct also keine Kinder. Man scheut die Mühen und die Gefahren der Schwangerschaft und Geburt, die Unbe- quemlichkeit und die Kosten der Kindererziehung, den Ver- lust der schönen Leibesformen und vor Allem auch die Beeinträchtigung der eigenen Bewegungs- und Vergnügungs- Freiheit durch die Kinder. Dass diese Hemmungen bei den besseren Klassen stärker ausgesprochen sind als bei den niederen, kann nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass die Mitglieder der ersteren im Allgemeinen feinfühliger sind, und dass ihnen die Vergnügungen in ganz anderer Art zugänglich sind, als den Armen. Dasselbe gilt für einen weiteren, rein wirthschaftlichen Grund der Kinder-Beschränkung: man will den bereits erzeugten Kindern keine neuen Mitbewerber schaffen in Bezug auf gute Ausbildung und Erbtheilung. Bei den ärmeren Classen spielt das eine geringe Rolle, sie haben ihren Kindern keine Erziehung zu geben und kein Erbe zu hinterlassen; im Gegentheil, wenigstens die Fabrik- und besitzlosen Landarbeiter können von einem grösseren Nach- wuchs eher Vortheil erhoffen, da die Kinder früh selbst verdienen können und als eine Art Alters-Versicherung angesehen werden. Noch ein weiteres Moment müssen wir in Betracht ziehen. Haben die Wohlhabenden schon in höherem Maasse das Bestreben, die Kinderzahl zu beschränken, so kommt noch hinzu, dass es ihnen auch bedeutend leichter ist, ihr Bestreben durchzuführen. Sie haben erstens durch ihre vorwiegend geistige Beschäftigung mehr Übung in der Selbstzucht, sie können sich besser „vorsehen“, ein Um- stand, der besonders bei der so häufigen Form des coitus interruptus eine Rolle spielt. Sodann sind sie durch Lectüre und Aerzte besser über die Technik des praeventiven Verkehrs unterrichtet und können sich Pessare, Condome etc. eher verschaffen. Und was nicht gering angeschlagen werden darf, Hebamme, Apotheker und andere Helfer können eher bezahlt, also benutzt werden. Die Praeventiv-Mittel sind eben alle nicht ganz sicher, bei Armen wie bei Reichen „passirt“ doch manchmal etwas. Die ärmere Frau kann nur unvollkommene Anstrengungen machen, „ihre Regeln wieder zu bekommen“, die wohlhabende dagegen findet oft genug Hände bereit, ihr aus der Noth zu helfen. Man braucht nur einen Blick in den Annoncen-Theil gewisser grossstädtischer Blätter zu werfen, um zu erfahren, wie ausgedehnt dieses Geschäft betrieben wird. Bebel, August. Die Frau. S. 53. Ploss sagt: „Es ist bekannt, dass unter den Weissen Nord-Amerika’s die Abtreibung sehr üblich ist, und dass insbesondere in allen grossen Städten eigene Anstalten existiren, in denen Mädchen und Frauen eine frühzeitige Entbindung bewerk- stelligen.“. Ferner: „Auch in Europas grossen Städten scheint die Frucht-Abtreibung überhand zu nehmen. … Nach der Ansicht aller Sachverständigen wird die Frucht- abtreibung in Paris vollkommen handwerksmässig nament- lich durch die Hebammen und in den Privat-Entbindungs- anstalten betrieben, deren wahrer Zweck allgemein bekannt ist.“Ploss, Das Weib. I. Bd. S. 543 u. ff. Lombroso spricht sich in seinem Buche „Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte“ ähnlich aus: „In den vereinigten Staaten ist der Abort ein specifisches locales Gelegenheits-Verbrechen, das vor der öffentlichen Meinung nicht mehr als strafbar gilt. … In diesem Lande, wo die Frauen immer mehr an der Berufsarbeit und den Geschäften Theil nehmen, wozu die Entwickelung des Capitalismus drängt, ist die Mutterschaft oft ein sociales Übel, der Abort fast eine Nothwendigkeit; die öffentliche Meinung richtet ihr Urtheil nach dieser Lage der Dinge.“ Dass nicht Abnahme der natürlichen Fruchtbarkeit, sondern absichtliche Verhütung der Empfängniss oder der regelmässigen Geburt der überwiegende Grund der geringen Geburtenrate ist, darin stimmen viele Beobachter überein. Ich erinnere an die schon früher angeführten Worte von Dumont: „Die wahre Ursache des Herabgehens unserer (der französischen) Geburtenziffer ist der Wille, nur wenig oder keine Kinder zu haben,“ und von Comte: „Die Krankheit der Gesellschaft wird als physisch angesehen, während sie ausschliesslich moralisch ist.“ Hier können wir also constatiren, dass die Armuth auch einmal einen Vortheil im Kampf um’s Dasein mit sich bringt, dass sie in sich neben so vielen ausmerzenden Momenten auch eines birgt, das ihre Opfer in der Erzeugung der Nachkommenschaft schützen hilft. Dieser Schutz betrifft jedoch nur die Zahl der Nach- kommen, keineswegs ihre Güte. Im Gegentheil, die Kinder der Armen haben eine bedeutend grössere Sterblichkeit als die der Wohlhabenden, und zwar fällt die Kindersterblichkeit ganz regelmässig, wenn das Einkommen der Eltern steigt. Einige Zahlenangaben mögen dies belegen. Nach A. Wolff’s Untersuchungen über die Kinder-SterblichkeitCitirt in Oldendorff, A. Die Säuglingssterblichkeit in ihrer socialen Bedeutung. Archiv für sociale Gesetzgebung und Statistik. I. Jahrg. S. 89. beträgt in Erfurt die Mortalität der Säuglinge im Arbeiterstande 30,5 %, im Mittelstande 17,3 %, in den höheren Ständen 8,9 %. In Braunschweig starben nach Reck (Bericht über die Gesundheitsverhältnisse der Stadt Braunschweig)Citirt in Wurm, Die Volksernährung, Dresden 1888. S. 199. Die noch folgenden Angaben werden von UffelmannUffelmann. J., Handbuch d. Hygiene des Kindes. Leipzig 1881. S. 93. citirt. Nach Clay leben von 100 lebend Geborenen in England nach Verlauf von 10 Jahren: aus den vornehmen Ständen noch 81 aus dem Handels-Stande „ 56 aus dem Arbeiter-Stande „ 38 In dem wegen seiner musterhaften Arbeiterverhältnisse fälschlich berühmt gewesenen Mühlhausen i. Els. sterben 50 % der Kinder der Arbeiterclasse vor dem 8. Jahre, während 50 % der Kinder von Fabrikanten das 29. Jahr erreichen. Nach dem Bericht des Oberbürgermeisters Bachem starben in Köln von Eltern mit einem Einkommen bis 600 Mark 29 % der Säuglinge von 600—1500 „ 25 „ „ „ von 1500—3000 „ 18 „ „ „ von über 3000 „ 15 „ „ „ Dass diese Erscheinung auch für die reichsten Familien gilt, zeigte Casper: unter 1000 Sterbefällen in fürstlichen Familien trafen 57, von 1000 Sterbefällen in armen Familien dagegen 345 auf Kinder bis zu 5 Jahren. Die Vermögens-Verhältnisse der Eltern haben nicht nur einen Einfluss auf die Sterblichkeit, sondern auch auf die Körperentwickelung der Kinder. Kinder armer Eltern sind schlechter entwickelt. VillerméCitirt in Lux, H. a. a. O. S. 105., ein hervorragen- der französischer Statistiker, constatirt, dass „der Mensch um so grösser wird und sein Wachsthum um so schneller seine Vollendung erreicht, je reicher unter im Übrigen gleichen Umständen das Land, je allgemeiner der Wohl- stand ist, je besser die Kleidung, die Wohnung, besonders aber die Nahrung, und je geringer die Noth, die Anstren- gungen und Entbehrungen sind, die man in der Kindheit erfährt.“ Geissler und Uhlitzsch (Die Grössenverhältnisse der Schulkinder des Freiberger Bezirks 1888) maassen unter einer Bevölkerung, in der sich der Bergmanns-Beruf forterbt, 10343 Knaben und 10830 Mädchen, wobei sich ergab, dass die Bergmanns-Kinder durchschnittlich um 2, 3 bis 5 Centimeter kleiner waren als die Bürgerkinder. Die „Neue Zeit“ (XI. Jahrgang, 1. Band. No. 27) liefert ähnliche Belege durch folgende Ziffern der Professoren Hasse in Leipzig, Bowditch in Boston und Pagliani in Turin. Die Durchschnittsgrösse der Kinder betrug in Centimetern nach Hasse: nach Bowditch: nach Pagliani: nach Geissler und Uhlitzsch: Ganz ähnliche Unterschiede stellten diese Autoren für das Gewicht der Untersuchten, Pagliani auch noch für die Lungencapacität fest, woraus hervorgeht, dass das Überwiegen der Länge bei den Kindern der Wohlhabenden kein ungesundes in die Höhe Schiessen ist, sondern ein durchaus gesundes Wachsthum. Die obigen Ziffern be- ziehen sich auf Städte mit beträchtlicher Industrie-Bevöl- kerung. Man könnte geneigt sein, diesem Umstand die grössere Sterblichkeit der armen Kinder zuzuschreiben. Vielleicht möchte es sich auf dem Lande anders verhalten. Es liegt mir zwar keine direct verwendbare Angabe hier- über vor, allein die Thatsache, dass die Durchschnitts- Sterblichkeit aller Kinder der Landbewohner immer noch ziemlich viel höher ist als die der Kinder von reichen Städtern, lässt darauf schliessen, dass auch auf dem Lande die Kinder der Armen eine grössere Sterblichkeit haben als die der Reichen. Der Unterschied ist nur nicht so be- deutend wie in den Städten, da die Gesammt-Sterblichkeit der Kinder der Landbewohner ein gut Theil geringer ist als die der Stadtkinder. Uffelmann Uffelmann. Hygiene des Kindes. S. 87. sagt: „Schon Süssmilch berechnete, dass auf 100 Todesfälle im Alter von 0—5 Jahren kamen in Städten 46,4 auf dem Lande 38,2. Nach Oesterlen starben in sieben europäischen Staaten im Mittel von 100 Geborenen (incl. Todtgeborenen) vor Ablauf des 5. Jahres in Städten 33,60 % auf dem Lande 27,28 „. In England traten unter 100 Todesfällen aller Alters- classen ein bei Kindern bis zu 10 Jahren im Mittel 44,91 % in Städten mit 100000 Einwohnern und mehr 51,39 „ „ „ „ weniger als 20000 Einwohnern 46,79 „ in feldbauenden Landdistricten 35,40 „ Ausnahmen sind selten.“ Mit diesen Ziffern über die Kindersterblichkeit auf dem Lande vergleiche man die oben besprochene Sterblichkeit der reichen Stadtkinder, und man wird den Unterschied zu Gunsten der letzteren ziemlich gross finden. Wieviel von der mangelhaften Körperentwickelung und grossen Sterblichkeit der Kinder armer Leute auf ange- borene Schwäche und wieviel auf die späteren Einflüsse der Armuth zu setzen ist, ist nicht zu bestimmen. Es wird der grössten Wahrscheinlichkeit nach beides zusammen wirken, besonders in den Gegenden, wo viel Frauenarbeit herrscht. Der ausjätende Charakter der Armuth erhellt auch noch wenigstens zum Theil aus dem Vergleich der körper- lichen Beschaffenheit von erwachsenen Armen und Reichen. Bebel Die Frau und der Socialismus. XII. Aufl. Stuttgart 1892, S. 185. erzählt folgende Beobachtung: „In unseren Industriebezirken bilden Arbeiter und Unternehmer schon äusserlich einen solchen Gegensatz, als gehörten sie zwei verschiedenen Menschenrassen an. Obgleich an diesen Gegensatz gewöhnt, kam er uns doch in einer fast er- schreckenden Weise anlässlich einer Wahlversammlung vor die Augen. … Den vorderen Theil des Saales nahmen die Gegner ein, fast ohne Ausnahme starke, kräftige, oft grosse Gestalten, von sehr gesundem Aussehen, im hinteren Theil des Saales und auf den Galerien standen Arbeiter und Kleinbürger, zu neunzehntel Weber, meist kleine, dünne, schmalbrüstige, bleichwangige Gestalten, denen Kummer und Noth aus dem Gesichte sah.“ Bebel beschuldigt die äusseren Lebensbedingungen ausschliesslich. Hiergegen hat man aber den Unterschied in der Grösse und sonstigen Beschaffenheit der Köpfe in’s Feld geführt. Wohlhabende scheinen durchschnittlich grössere Köpfe zu haben, was auf grössere Gehirne nnd deshalb höhere geistige Functionen zurückschliessen lässt. Ammon Ammon. a. a. O. S. 252 u. ff. maass in Karlsruhe die Köpfe von 30 Männern, die dem wohlhabenden Stande angehörten und zum grössten Theil Gelehrte, Techniker und Künstler waren. Unter diesen Köpfen fanden sich so viele lange Köpfe über 19 cm, wie sonst in keiner anderen von ihm gemessenen Gruppe. Kein einziger Kopf maass unter 18 cm Länge. Nach dem Verhältniss der Wehrpflichtigen (25,2 % unter 18 cm Länge) müssten unter der gemessenen Gruppe 8—9 Köpfe unter 18 cm haben. Doch bildet hier die etwaige Übung und Auslese der Intelligenz einen Factor, der den Vergleich stört. Nach den Messungen der Tarnowskaja Lombroso, C. und Ferrero. Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte. Deutsch von Kurella. Hamburg 1894. S. 309 u. 312. war die berechnete durchschnittliche Schädelcapacität bei 150 Pro- stituirten (also fast ausschliesslich Armen) 1452 ccm, bei 100 Diebinnen (ebenfalls meist Armen) 1462 ccm, bei 100 russischen Bäuerinnen 1465 ccm und bei 50 gebildeten Stadtfrauen, die wohl meist wohlhabend waren, 1467 ccm. Der französische Anthropologe Le Bon Variations du volume du cerveau. Revue d’Anthropol. Paris 1879. VIII. Jahrg. 2. Ser. 2. Theil. S. 27. maass bei 1200 normalen Franzosen verschiedener Lebensstellungen den Kopfumfang, ein Maass, das sowohl nach seinen wie Welcker’s Untersuchungen bei grösserem Betrage der Fälle dem Hirngewicht annähernd proportional ist, und fand in Procentzahlen einen Bei den Bauern der Beauce, die Le Bon maass, war das Verhältniss noch ungünstiger, die Kopfumfänge schwankten im Grossen und Ganzen zwischen 54 und 56 cm. Die Wissenschaftler könnten also nach obiger Tabelle den Anspruch erheben, dass sie als Stand das grösste Geistes- organ besitzen, dann folgen die Bürger, dann der Adel, schliesslich die Bedienten und die Landbauern. Diese mageren Angaben — bessere habe ich nicht auftreiben können — geben natürlich ganz und gar nicht einen festen Anhalt für eine niedrigere Organisations-Stufe der Armen. Meine Beobachtungen, die während der Aus- übung der ärztlichen Praxis zum grössten Theil schätzungs- weise gemacht wurden, und deren exacter Theil zu einer Veröffentlichung noch zu geringfügig ist, haben mich aller- dings auch zu der Annahme gebracht, dass die Wohl- habenden im Grossen und Ganzen wohl etwas grössere Köpfe haben. Allein solche und ähnliche Schätzungen trügen zu sehr; genügend umfangreiches beweisendes Material ist nicht vorhanden. Bär Bär, A. Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. Leipzig 1893. S. 155. spricht sich ganz im Allgemeinen dahin aus: „Erscheinungen degenerativer Natur finden sich bei Indivi- duen aller Classen der menschlichen Gesellschaft, häufiger aber in den niederen Schichten der Bevölkerung als Stigma der Inferiorität ihrer Organisation“. Blaschko gesteht zu: „Es wäre thöricht, läugnen zu wollen, dass oft ein gutes Theil angeborener höherer geistiger Leistungsfähigkeit vorhanden ist (nämlich bei den oberen Classen) und äusserlich sichtbar zu Tage tritt, wenn das auch noch nicht in feste anthropologische und anato- mische Formeln zu fassen ist“. Blaschko, A. Natürliche Auslese und Klassentheilung. Neue Zeit, Stuttgart 1894/95. XIII. Jahrg. 1. Bd. S. 620. Überall würde ausserdem die Frage eine Hauptrolle spielen (also auch bei der Kopfgrösse), was von den Unter- schieden zwischen Armen und Wohlhabenden ist nur der Anlage und was nur den äusseren Wirkungen auf dieselbe zuzuschreiben. Die sichere Entscheidung dieser Frage im Einzelfall wird meist unmöglich sein. Und was die Beurtheilung ganzer Bevölkerungs-Schichten anlangt, so sind Männer wie Buckle und viele Socialisten, die von Unterschieden der Anlagen bei Wohlhabenden und Armen nichts wissen wollen, grade so sehr dem Vorwurf der Ein- seitigkeit ausgesetzt, als diejenigen bürgerlichen Darwinianer, die gegen die Wirkungen der Umgebung auf die Menschen im Lauf ihres Individuallebens halb blind sind und alles auf Anlage zurückführen. Von diesem Standpunkt aus müssen auch die ein- gehenden Untersuchungen Ammon’s über die Verschiebung des hellen und dunklen Typus in Deutschland betrachtet werden. Ammon, a. a. O. bes. Zusammenfassung S. 312 u. ff. Nach Ammon gehören die Wohlhabenden, wie über- haupt der bessere Theil der Nation, mehr einem blonden, langköpfigen, den alten Germanen ähnlichem Typus an, während die Armen, die im Kampf um’s Dasein wenigstens in den Städten Unterliegenden, mehr einem kleineren dunkleren, rundköpfigen Typus angehören. Folgende Aeusserung von Hölder wird auch von Ammon S. 257 herangezogen: „Leicht kann sich Jedermann überzeugen, dass im Allgemeinen die brachycephale (kurzköpfige) Schädelform unter der niederen Volksklasse überall im Lande am häufigsten vorkommt. Die besitzenden, höher stehenden Klassen, so namentlich der ältere Adel, stehen dem unvermischten germanischen Typus viel näher als jene.“ Im Alterthum und im Mittelalter hätten zahlreiche Mischungen der beiden Typen stattgefunden. Nebenher sei auf der einen Seite eine Auslese des hellen Typs gegangen, der die besseren geistigen und Charakter-Anlagen hätte, allein auf der anderen Seite wäre durch eine Reihe von Factoren eine so starke Schädigung dieses hellen Typs erfolgt, dass er heut- zutage gegen früher in die Minderzahl gerathen wäre und noch fortdauernd weiter abnähme. Diese Abnahme des hellen, besseren Typs erfolge einerseits durch seine grössere Befähigung zum Kriegsdienst, andererseits durch den folgenden Mechanismus. Die vom Lande in die Städte Einwandernden begreifen in sich mehr helle Langköpfe als die in dem ge- sunden Landleben Zurückbleibenden. In den Städten nun hat der helle Langkopf es anfangs gut, er kommt rascher fort als der dunkle Typ, so dass die Stadtgeschlechter um so mehr helle Langschädel unter sich zählen, einer je späteren Generation sie angehören. Nun sterben aber der Erfahrung nach die Geschlechter um so rascher aus, je länger sie in der Stadt wohnen. Hierdurch wird das ger- manische Element wieder zerstört, und da die vom Land in die Städte Wandernden dem Lande relativ mehr helle Langköpfe entziehen als sie zurücklassen, so wird durch diesen Process der Bestand der Nation an hellen Lang- schädeln beständig vermindert. Ammon steht nicht an, diesem Vorgang ein Nieder- gehen des deutschen Geistes in der letzten Zeit zuzu- schreiben. Die ganze Beweisführung Ammon’s stützt sich auf ein ziemlich grosses Beobachtungsmaterial. Allein ein wesent- licher Punkt ist nicht genügend berücksichtigt, das ist der Einfluss der geistigen Übung auf ihr Organ, das Gehirn. Wenn das Gehirn sich wie andere Organe verhält, also bei starker Übung wächst, so ist es möglich, dass bei der Stadtjugend in Folge der stärkeren geistigen An- strengung ein Druck auf die in ihren Nähten noch nicht völlig verwachsene Schädelkapsel ausgeübt wird. Ist dies der Fall, so wäre es bei der verschiedenen Dicke der Schädelwand, einmal vorn und hinten, das zweite Mal an 12 den Seiten, durchaus nicht so unwahrscheinlich — oder unerhört, wie Ammon sagt, wohl im Bewusstsein des wunden Punktes — dass der Schädel sich in verschiedener Weise in die Länge und in die Quere ausdehnt, so dass das ursprüngliche Verhältniss dieser beiden Maasse sich verschieben könnte. So lange dieser Punkt nicht durch gründliche Untersuchungen klar gelegt worden ist, ist eine Verwerthung des Theils der Ammon’schen Resultate, der besagt, dass die Armen einen durchschnittlich niederern Typ repräsentirten, nicht zulässig. Vgl. ausserdem die beachtenswerthen Einwürfe Blaschko’s a. a. O. Einen anderen Einwand, der besonders gegen die Ausdehnung der Ammon’schen Folgerungen auf ganz Deutschland spricht, liefert die Thatsache, dass in Berlin eine Auslese des germanischen Typus, die Ammon für die Städte behauptet, nicht vor sich geht. In Berlin waren 1875 nur 29,5 % der Kinder von rein blondem Typus, d. h. hatten helle Haut, blonde Haare und blaue Augen, in ganz Norddeutschland dagegen 33,5 bis 43,3 %. Zeitschrift des Kgl. Preuss. statist. Bureaus. 33. Jahrg. Berlin 1893. S. 197 ff. Man könnte meinen, dass vielleicht an dem Aufbau der Berliner Bevölkerung die Einwanderung aus den polnischen Landestheilen Preussens oder aus anderen, brünetten Gegenden stark betheiligt wäre, so dass sich dadurch der geringe Procentsatz des blonden Typus erklären würde. Diese Muthmassung findet aber in der Berliner Statistik keine Begründung. Statist. Jahrbuch der Stadt Berlin. 1893. S. 20. Von 1876—1890 sind 936143 Fremde in Berlin ein- gewandert. Von dieser Summe stammen 34426 aus Süd- deutschland und aus fremden Staaten mit Ausnahme des stark blonden Skandinaviens, Englands, Hollands und der amerikanischen Union, so dass wir diese Quelle von Brünettheit nur sehr gering veranschlagen dürfen, um so mehr, als ja auch in Süddeutschland und Oesterreich, die bei Weitem den grössten Theil dieser 34426 Fremden ausmachen, beträchtliche Mengen blonder Elemente vor- handen sind. Von der anderen, der grossen Hauptmasse der Fremden, 901717, stammten 895750, also mit geringer Ausnahme alle aus Norddeutschland. Von diesen 895750 Norddeutschen kamen aus Landestheilen mit muthmasslich wenig germani- schem Typus, d. h. aus Posen, Schlesien, Ost- und West- preussen und der Rheinprovinz 343267. Sehen wir uns nun diesen Theil Norddeutschlands auf die Zahl seiner rein blonden Typen hier näher an, so finden wir, dass unter je 100 Kindern rein blond waren in Ostpreussen 39,6—39,9 Westpreussen 39,7—39,8 Posen 36,2 Mittel- und Niederschlesien 30,1—31,3 Oberschlesien 27,3 Rheinprovinz (ohne Trier und Aachen) 30,7—32,3 Rg.-Bezirke Trier und Aachen 24—25,9 Stadtkreis Berlin 29,5. Von allen norddeutschen Quellen der Berliner Be- völkerung weisen also nur Oberschlesien und der Südwesten der Rheinprovinz eine geringere Zahl rein blonder Elemente auf als die Stadt Berlin. Die Einwanderung von diesen kleinen Gebietstheilen fällt um so weniger in’s Gewicht, als die Hauptmasse der einwandernden Fremden, 477270, die aus den 4 Provinzen Brandenburg, Pommern, Sachsen und Hannover stammen, das Mittel Norddeutschlands in Bezug auf Blondheit weit überragen. Es waren nämlich blond in Brandenburg 36,2—38,9 % Pommern 42,6 „ 12* Sachsen 36,2 % Hannover 41,0 „ Aehnliche Verhältnisse zeigen sich, wenn wir nun auch den Antheil der Brünetten an der Bevölkerung Berlins mit dem an der Bevölkerung der näheren und weiteren Um- gebung vergleichen. Die rein Brünetten machten aus in Berlin 16,4 % Brandenburg mit Berlin 12,1 „ Norddeutschland 7—11,2 „ dem ganzen Deutschen Reich 14,1 „ Berlin hat also mehr reine Brünette als sein Nährboden. Das sieht nicht nach einer Einwanderung germanischer Elemente in die Stadt und ihrem Siege dort aus. In dem Originalbericht Virchow, R. Gesammtbericht über die von der deutschen anthropol. Ges. veranlassten Erhebungen über die Farbe der Haut, Haare und Augen der Schulkinder in Deutschland. Arch. f. Anthrop. Bd. XVI. 1886. S. 320. über diese Verhältnisse con- statirt Virchow: „Ungemein zahlreich sind die grösseren und mittleren Städte, welche eigene Verwaltungsbezirke besitzen, in denen die Verhältnisszahl der Brünetten grösser ist als in den benachbarten ländlichen Bezirken .... Grade die mehr sesshafte Bevölkerung des Landes und der kleinen Städte ist die Trägerin der typischen Eigen- schaften, der brünetten so gut wie der blonden“. Alle diese Thatsachen lassen die Verallgemeinerung der Schlussfolgerungen Ammon’s nicht zu, dass die in die Städte Einwandernden mehr germanische Elemente in sich schlössen, als die auf dem Land Zurückbleibenden, und dass für den städtischen Kampf um’s Dasein diese germanischen Elemente besser geeignet seien. Dass bei unserem vorgebrachtem Einwand die Langköpfigkeit nicht direct berücksichtigt ist, braucht ihn nicht abzustumpfen, da erstens Langköpfigkeit bei dem rein blonden Typ öfter als beim braunen vorkommt, und da zweitens nach Ranke die Langköpfigkeit keineswegs zu den nothwendigen Eigen- schaften eines Germanen gehört, weil so rein germanische Stämme wie die Friesen stark zur Kurzköpfigkeit neigen (12 % Lang-, 51 % Mittel- und 31 % Kurzköpfe). Dass die Armen durchgehends die Schlechteren seien, behauptet natürlich auch Ammon nicht, da ja die Bauernbevölkerung sowohl, wie die verhältnissmässig armen in die Städte Eingewanderten auch diejenigen umfassen, die später die aufsteigenden Stadtgeschlechter hervorbringen. Nach ihm schliessen also jedenfalls die Armen ausser den bereits im Ausjäte-Process Begriffenen auch eine grosse Menge der besten Convarianten in sich, und zwar grade diejenigen, deren Abkömmlinge später in den Städten die geistige Elite der Nation reprä- sentiren werden. Wie übrigens Ammon nach Darlegung seines ver- meintlichen Processes der Verarmung der Nation an ihren germanischen Elementen, für welch letztere er gradezu begeistert ist, Sympathie für die wirthschaftlichen Formen aufbringen kann, die den Process doch bedingen, ist mir unerfindlich. Nach unseren früheren Darlegungen wäre der ganze Vorgang, falls er in Wirklichkeit existirte, ein grossartiges contraselectorisches Phänomen, eine fortwährende Ver- nichtung guter Convarianten, eine Schädigung unseres Volkes und der Rasse, zu der wir gehören. Die wirth- schaftliche Ordnung, die diese Contraselection gestattet, sollte mindestens nicht vertheidigt werden, wie Ammon es in seiner Abhandlung über die Socialdemokratie thut. Aus allen diesen Bemerkungen über die ökonomische Ausmerzung scheint es somit keineswegs ohne Weiteres klar, dass die Reichen im Kampf um’s Dasein, d. h. um Eigen- erhaltung und Nachwuchs über die Armen den Sieg davon tragen, also in stärkerem Grade beim Aufbau der folgenden Generation betheiligt sind. Die Reichen haben geringe Sterblichkeit, aber auch wenig Geburten, die Armen haben grosse Sterblichkeit, aber viel Geburten. Erst der relative Geburten-Überschuss in beiden Classen würde uns zeigen, welche sich stärker vermehrt. Ziffern hierüber sind schwer erhältlich. Soviel scheint festzustehen, dass sowohl die reichsten Geschlechter wie die ärmsten Proletarier einer Entartung und allmählichen Ausmerzung verfallen. Wie dagegen das Verhältniss sich stellt nicht zwischen Reichsten und Ärmsten, sondern zwischen einer wohlhabenderen und ärmeren Hälfte, das bleibt dahin- gestellt, schon weil die heutige langsame Zerbröckelung des Mittelstandes durch nonselectorische wirthschaftliche Factoren das Erkennen der selectorischen Verschiebung verhüllt. Und doch wäre die Entscheidung dieser Frage von so grosser Wichtigkeit für den Fall, dass die ärmeren Classen durch- schnittlich ein schlechteres Menschenmaterial umfassten. Darwin und Hiram Stanley neigen, wie aus den von mir weiter unten angeführten Citaten hervorgeht, mehr zu der Annahme, dass durch die starke Contraselection bei den Wohlhabenden die ärmere Hälfte es ist, die die Continuität der Rasse hauptsächlich bewirkt. Auch ich kann mich unter dem Eindruck vieler Thatsachen nicht erwehren, an den generativen Ersatz unserer Cultur-Rassen durch ihre ärmere Hälfte zu glauben. Die grösste Rolle spielt die ökonomische Ausmerzung jedenfalls innerhalb der verschiedenen Gesell- schaftsclassen selbst, hauptsächlich bedingt durch das zähe Festhalten der Menschen an der Stufe ihrer gewohnten Lebenshaltung, das bei wirthschaftlicher Be- drängniss zur Vermeidung der Ehe und zu Einschränkung der für die Gesundheit nothwendigen Ausgaben zu Gunsten von Äusserlichkeiten tendirt. Werfen wir nun einen Blick auf das Verhältniss der Armuth zum Rassenprocess zurück, so erscheint als fest- stehend, dass ein Theil der Armuth die ökonomische Ausjäte repräsentirt, dass aber auch ein sehr beträchtlicher Theil der Armuth die Folge nonselectorischer Einwirkungen wie Krisen und anderer Erscheinungen des capitalistischen Systems ist. Da dieser nonselectorische Theil dieselben schlechten Folgen für die Gesundheit der betroffenen Individuen und der von ihnen erzeugten Kinder hat, wie der selectorische Theil der Armuth, so liegt im Gegensatz zu letzterem sein bedeutender Schaden für den Rassen- process durch die bewirkte Erzeugung vieler schlechten Devarianten auf der Hand. Das heutige capitalistische System ist also durchaus nicht mit den reinen rassen- hygienischen Forderungen in Übereinstimmung, wie uns so manche Darwinianer glauben machen wollen. Fahren wir nun in dem Vergleich unserer heutigen Zustände mit der rassenhygienischen Utopie fort. Wir sind durch die Erwähnung der Ammon’schen Ausführungen auf die Contraselection gekommen, und wollen diese weiter verfolgen. Contraselection. Grosse Städte. Der bereits erwähnte Process, dass die Städte die guten Convarianten aus dem Lande aufsaugen und sie in sich vernichten, wird von vielen Beobachtern bestätigt. Die Städte sammeln die Intelligenz und den Unternehmungs- geist des Landes zu grossartigen Centren des geistigen Lebens, um jedoch allmählich die gesammelten intelligenten Geschlechter durch grössere Sterblichkeit und nicht ent- sprechende Zunahme der Geburten in sich zu zerreiben. Der bekannte englische Statistiker Ogle schrieb 1889: „Idiotenthum und ebenso Taubstummheit treten häufiger auf dem flachen Lande als unter der Arbeiterbevölkerung der grossen Industriestädte auf. Ich kann diese merk- würdige Thatsache nur damit erklären, dass die kräftigsten Arbeiter des Landes jährlich in die Städte gehen und die schwächsten übrigbleiben. Ist das aber der Fall, so muss man zu dem Schlusse gelangen, dass die gesammte Be- völkerung Englands einer fortschreitenden Verschlechterung unterliegt. Denn in den Städten ist die Sterblichkeit stärker als auf dem Lande.“ In England betrug 1881 die städtische Bevölkerung 60 % der gesammten. Ein Bericht Lagneau’s in der Pariser medizinischen Akademie constatirt (Bulletin médical, Juli 1890: „In Frank- reich rechnet man 1888 21,9 Todesfälle auf 1000 Ein- wohner überhaupt, 20,8 auf 1000 Landbewohner und 24,5 auf 1000 Einwohner des Département de la Seine (Paris und Umgebung) ..... Die Sterblichkeit der Einwohner der grossen Städte, insbesondere von Paris, wenn man die- jenige der auf’s Land geschickten Säuglinge hinzurechnet, würde mehr oder minder prompt das Erlöschen der städtischen Bevölkerung herbeiführen, wenn sie nicht unauf- hörlich durch eine Einwanderung von Provinzialen und Fremden erneuert würde. Diese Erneuerung ist während jeder Generation von ca. 33 Jahren so umfangreich, dass in Paris bei der Zählung von 1886 von 1000 Einwohnern nur 331 in Paris geboren, dagegen 669, also mehr als zwei Drittel, eingewandert waren.“ In den sogenannten Registrations-Staaten der amerika- nischen Union, in denen die Sterbefälle in ziemlich zuver- lässiger Weise registrirt werden, betrug die Sterblichkeit in der Gesammtheit der Städte 23,58 ‰, in der der länd- lichen Gemeinden nur 15,5 ‰; sie war also in den Städten um die Hälfte grösser. Compendium of the 11 Census. Part II. Washington 1894. S. 4. Für Berlin können wir den wirklichen Sterblichkeits- verhältnissen, die durch das starke Einwandern der kräftigsten Altersclassen noch viel günstiger scheinen, als sie in Wahr- heit sind, bedeutend näher kommen, wenn wir die von Böckh wissenschaftlich berechnete corrigirte, d h. die aus der Sterblichkeitstafel abgeleitete Sterblichkeitsziffer in Be- tracht ziehen. Statist. Jahrbuch der Stadt Berlin. 1893. S. 47. Dann ergeben sich folgende Sterberaten in Promillen für das Deutsche Reich (gewöhnliche Sterbe- rate) und Berlin: Diese Gegenüberstellung — die corrigirte Sterbeziffer des Reichs würde nur wenig von seiner gewöhnlichen Sterberate abweichen — bringt natürlich auch schon deshalb nicht den ganzen Unterschied der städtischen und länd- lichen Mortalität zum Ausdruck, weil die Sterblichkeiten aller Städte, auch Berlins, in der Gesammt-Sterblichkeit des Deutschen Reichs enthalten sind, und also die ländlichen Gemeinden allein eine noch bedeutend geringere Sterblich- keit als die des ganzen Reichs haben müssen. Aehnliches gilt für die Geburten. Die Rate derselben ist bei der Gesammtbevölkerung der Stadt, die aus Stadt- geborenen und Eingewanderten besteht, höher als bei den Stadtgeborenen allein, weil unter den zahlreichen Ein- wanderern relativ mehr junge und kräftige sind, als unter den Stadtgeborenen. Trotz dieses günstigen Momentes ist die Geburtenziffer der gesammten Stadtbevölkerung häufig noch geringer als die des Landes. In Frankreich fielen 1888 im Seine-Département (Paris und Umgebung) auf 100 Frauen zwischen 15—45 Jahren 10 Geburten, in allen übrigen Départements 12—13. Für das Deutsche Reich und Berlin betrugen die Ge- burtenraten auf 1000 Einwohner im Jahr Reich Berlin 1882 38,8 39,4 1883 38,2 37,9 1884 38,7 37,1 1885 38,5 36,4 1886 38,5 35,6 1887 38,4 35,2 Jahr Reich Berlin 1888 38,1 34,5 1889 37,9 34,0 1890 37,0 32,8 1891 38,2 33,4 1892 36,9 31,7 Der zum Theil beträchtliche Geburten-Überschuss der grösseren Städte — nur Oberitalien und Frankreich weisen solche mit Überschuss von Sterbefällen auf — kann nicht gegen den lebensfeindlichen Einfluss der Stadt heran- gezogen werden, da, wie wir schon erwähnten, die starke Einwanderung kräftiger junger Leute vom Lande einerseits die Sterblichkeit der eigentlichen Städter geringer, andrer- seits ihre Geburtenziffer höher erscheinen lässt. Die Schädigung der Culturrassen durch die Städte ist überdies noch in stetem Zunehmen begriffen, da der An- theil der städtischen an der Gesammtbevölkerung fort- während steigt. In Frankreich kamen 1872 31 % auf die Städte, 1886 dagegen 36 %; Belgien hatte bereits 1856 nur 25 % acker- bautreibende Bevölkerung, 1880 nur noch 22 %. Im Deutschen Reich stieg der Procentsatz der Stadt- bevölkerung von 36,1 im Jahre 1871 auf 42,8 im Jahre 1890. Dabei sind als Städte alle Orte von 2000 und mehr Ein- wohnern betrachtet worden. In den Vereinigten Staaten von Amerika wohnten im Jahre 1800 nur 4 % der Bevölkerung in Städten, im Jahre 1840 schon 8,5 %, im Jahre 1880 dagegen 22,57 % und im Jahre 1890 29,12 %. Im Staate Connecticut, einem der entwickeltsten der Union, stieg die städtische Bevölkerung von 20 % im Jahre 1850 auf 53 % im Jahre 1890. Dieser allgemeine Zug in die Stadt bei allen Cultur- nationen bildet eine fortwährende Steigerung des ohnehin schon grossen Betrages der Contraselection. Die anderen Elemente der Contraselection haben wir bereits früher besprochen. Volkskriege und Revolutionen sind in unserer modernen Zeit häufig genug gewesen und drohen für die Zukunft in denselben schlimmen Formen wieder zu erscheinen. Auch die Geburten-Praevention ist in ihrer contra- selectorischen Wirkung schon an mehreren Stellen ge- würdigt worden. Für sie trifft dasselbe zu wie für die Städte: sie wächst mit der Cultur. In Deutschland breitet sie sich neuerdings ebenfalls mehr und mehr aus, und wenn sie auch noch den kleinen Mittel- und den niederen Stand verschont hat, so hat sie doch bei unseren gebildeten Ständen schon vielfach feste Wurzeln gefasst. Die Formen der Contraselection, die einen besonders grossen Schutz grade der Schwachen bedeuten, herrschen bei uns bereits in ausgedehntem Maasse. Hierher gehört vor allem jede Pflege von Krankheiten, die unmittelbar auf dem Boden einer anerzeugten Schwäche oder Anomalie erwachsen sind, wie z. B. viele Geisteskrankheiten, viele Fälle von Schwindsucht bei Wohlhabenden; oder die mittelbar durch anerzeugte Minderwerthigkeiten in ihrem Auftreten erleichtert werden, wie z. B. viele Krankheiten, besonders Schwindsucht, bei auf selectorische Weise arm Gewordenen. Die Ärzte unter meinen Lesern werden sofort inne werden, ein wie bedeutender Theil der medizinischen Thätigkeit der Contraselection dient. Andere sociale Hülfseinrichtungen, die man versucht wäre hierher zu rechnen, bedeuten zwar noch keine Contra- selection, aber doch schon eine schädliche Aufhebung des Kampfes um’s Dasein in Bezug auf mancherlei, meist wirth- schaftliche Fähigkeiten. Kranken-, Alters-, Unfall- und Arbeitslosen-Versicherung, der ganze sogenannte Schutz der wirthschaftlich Schwachen, sind in stets wachsender Organisation begriffen und verfolgen bewusst den Zweck, den Kampf um’s Dasein einzuschränken. Noch nicht erwähnte nonselectorische Schäden. Unfälle. Trinksitten. Die grobe Zeichnung des heutigen Rassenprocesses darf der Linien nicht entbehren, die sich auf die nonselec- torischen Schädlichkeiten beziehen, d. h. auf solche, die nach dem jetzigen Stande unseres Wissens Jeden ohne Rücksicht auf den Grad seiner Constitutionskraft treffen und schädigen können. Dass ein bedeutender Theil der Armuth hierher gehört, ist oben schon erwähnt worden. Ferner gehört hierher der Theil der Unfälle, von dem die Geschädigten betroffen wurden, ohne daran schuld und ohne durch die Art ihrer Constitutionskraft der Gelegenheit zu dem Unfall besonders ausgesetzt gewesen zu sein. Diesen Theil abzugrenzen, ist natürlich sehr schwierig und in vielen Fällen unmöglich; ein selectorisches Element spielt doch sehr häufig in stärkerem oder geringerem Grade mit. Wenn ein unbeaufsichtigter Junge an einem Fenster mit einem geladenen Revolver spielt, ihn abdrückt und einen zufällig Vorbeigehenden tödtlich trifft, so ist das ein Beispiel rein nonselectorischer Vernichtung. Ein anderes reines Beispiel bieten die mehreren Tausend Be- wohner von Ischia, die vor einigen Jahren bei einem Erd- beben zu Grunde gingen. Wenn ein Weichensteller beim Wagenkoppeln zwischen zwei Puffern zerquetscht wird, so können hier schon eine ganze Menge selectorischer Momente mitspielen. Der Mann konnte unter Alkoholwirkung gestanden haben, konnte kränklich sein, konnte eine angeborene Langsamkeit der Auffassung und Bewegung haben; vor allem konnte er aus selectorischen Gründen arm geworden sein, so dass er sich dadurch überhaupt erst um einen so gefährlichen Posten bewerben musste, u. s. w. Alle diese Momente ent- halten etwas Selectorisches. Andrerseits konnte er durch Überanstrengung im Dienst müde und unaufmerksam ge- worden sein; dann gebührte der grösste Antheil an dem Unfall einem nonselectorischen Factor, nämlich dem Aus- beutungs-Bestreben der Bahnverwaltung. Unfälle und ähnliche z. Th. nicht wählende Schädlich- keiten sind nun zwar keineswegs so selten wie man gemein- hin glaubt. So starben in den Jahren 1890—92 in unseren Städten mit über 15000 Einwohnern etwa 15 ‰ aller Ge- storbenen durch Verunglückung und Todtschlag, ungefähr ebenso viel wie an Unterleibstyphus und Scharlach zu- sammengenommen. Statist. Jahrbuch f. das Deutsche Reich. 15. Jahrg. Berlin 1894. S. 147. Allein das bildet noch keine besonders grosse Belastung für den Rassenprocess. Dies kann man aber nicht so ohne Weiteres von einer anderen, höchst wahrscheinlich zum grössten Theil nonselectorischen Schädlichkeit, von unseren Trinksitten, behaupten. Es ist eine der schwierigsten und doch der Lösung dringend bedürftige Frage, ob der unmässige Alkoholgenuss bei den Culturvölkern, besonders den nörd- lichen, ein überwiegend selectorischer Factor ist, der genügend Individuen so intact lässt, dass die Continuität des gesunden Rassenprocesses gewahrt bleibt, oder ob er überwiegend eine nonselectorische Schädlichkeit darstellt, die Jeden ohne Rücksicht auf seine Kraft treffen und beeinträchtigen kann, und dabei so viele wirklich trifft, dass durch die gleichzeitige Verschlechterung der Zeugungs- producte die Rasse ernstlich bedroht wird. Wäre es richtig, dass hauptsächlich sittlich schwache Personen dem Alkoholismus zum Opfer fallen, sittlich widerstandskräftige, besonnene Naturen aber bis auf Aus- nahmen verschont blieben, dann würde der Rassen- hygieniker sans phrase keinen Grund haben, sich für die nordische Temperenzbewegung zu erwärmen, die ja nur die Ausjätung der Schwachen hindern würde. Träfe dagegen der Alkoholismus seine Opfer ohne Rücksicht auf ihre Eigenschaften, sagen wir durch zu- fälliges Bekanntwerden mit der Trinksitte, und schädigte er sie ausnahmslos in einem gewissen Grade gleich stark (wenn auch in höheren Graden ungleich stark), so wäre es zweifellos, dass unsere heutigen Trinksitten bei ihrer enormen Ausbreitung und der ihnen folgenden Degeneration der Nachkommen eine nonselectorische Schädlichkeit darstellen würden, die der Rassenhygieniker mit allen Kräften be- kämpfen müsste. Die Entscheidung dieser Frage wird selbstverständlich nicht in der Weise erwartet, dass der ganze Alkoholismus nun entweder in den selectorischen oder den nonselectorischen Topf geworfen werden muss, sondern es handelt sich um das gegenseitige Grössen- verhältniss dieser beiden Momente. In England, Nordamerika, Skandinavien und jüngst in der Schweiz ist man in weiteren Kreisen zu der Über- zeugung gelangt, dass der Alkoholismus eine die Gesammt- rasse degenerirende Volkskrankheit ist, aber ein wirklicher Beweis ist nur dafür erbracht, dass ein gewisser Theil des Volkes, jedenfalls mehr wie ein Zehntel, stark geschädigt wird. Ob dadurch schon eine thatsächliche, wenn auch noch so leichte, durchgehende Entartung des Volkes zu Stande gebracht wird, bleibt zweifelhaft. Sicher jedoch ist, dass die Verhältnisszahl der er- zeugten guten Devarianten durch die deletären Wirkungen des nicht sehr mässig genossenen Alkohols (in Bier, Wein und Schnaps) auf die Zeugungstoffe ganz beträcht- lich herabgedrückt wird. Schriebe ich für ein gebildetes englisches Publikum, so brauchte ich hierfür nicht so noth- wendig weitere Belege anzubringen. Aber unser gebildeter Deutscher ist grade puncto Alkohol so schlecht unterrichtet und hegt so merkwürdige Anschauungen über die zuträg- lichen Folgen seiner Trinksitten, dass er ihre Schäden gar nicht sieht. Für ihn giebt’s noch keine Alkoholfrage, wenn sie auch in anderen Ländern schon brennend ge- worden ist. Und doch werden jährlich in die allgemeinen Heil- und Irrenanstalten des Deutschen Reichs über 10000 Patienten mit Alcolismus chronicus eingeliefert,Baer, A. Die Trunksucht und ihre Abwehr. Wien und Leipzig 1890. S. 29. eine Zahl, die ja nur einen kleinen Theil des Schadens anzeigt. Nach den Publicationen des Eidgenössischen statistischen Bureaus, basirend auf ärztlichen Todtenscheinen aus den 15 grössten Städten der Schweiz während des Jahres 1891, fielen von den 1239 im Alter von 40—59 Jahren verstorbenen Männern 183 oder 14,8 % den directen oder indirecten Folgen des Alkoholgenusses zum Opfer, d. h. mehr als der siebente Theil. Dies repräsentirt nur die Sterblichkeit durch die Trinksitten. Wieviel schwächliche Kinder diese Alkoholisten vor ihrem Tode in die Welt gesetzt haben, das constatiren keine Berichte. Demme, der Berner Kinderkliniker, hat den schlimmen Effect der elterlichen Trunksucht in einigen Fällen genauer untersucht und ist dabei zu erschreckenden Resultaten gekommen.Demme, Über den Einfluss des Alkohols auf den Organismus des Kindes. Stuttgart 1891. S. 38. Er verfolgte je zehn Familien von Trinkern und von sehr Mässigen in ihren Lebensschicksalen. Von den 57 Kindern aus den Trinkerfamilien starben an Lebensschwäche 25 = 43,9 % waren Idioten 6 = 10,5 „ zurückgeblieben im Wachsthum 5 = 8,8 „ Epileptiker 5 = 8,8 „ hatten Veitstanz mit Idiotie 1 = 1,7 „ angeborene Erkrankungen und Defecte 5 = 8,8 „ zusammen abnormale Kinder 47 = 82,5 % normal scheinende „ 10 = 17,5 „ Von den 61 Kindern aus den Familien Mässiger starben an Lebensschwäche 5 = 8,2 % hatten heilbare Nervenkrankheiten 4 = 6,6 „ angeborene Defecte 2 = 3,3 „ zusammen abnormale Kinder 11 = 18,1 % normal scheinende „ 50 = 81,9 „ Für die besonders Trinkfreudigen möge noch folgende Angabe Neisson’s, eines englischen Gelehrten, Platz finden.Citirt in Pflüger, Über die Kunst der Verlängerung des menschlichen Lebens. Bonn 1890. S. 19. Er untersuchte 6111 Trinker im Alter von 16—90 Jahren auf ihre wahrscheinliche Lebensdauer und berechnete dieselbe Diese Ergebnisse sind von mehreren Seiten bestätigt worden. Daraus wird verständlich, warum englische Lebens- versicherungen Abstinenten billiger als Mässige versichern. Zu diesen Gesundheits-Schädigungen kommt noch hinzu, dass das Trinken eines der wirksamsten Mittel ist, die Gefängnisse und Irrenhäuser zu füllen, sowie die an- steckenden Geschlechtskrankheiten zu verbreiten. Ich kann aus Raummangel hierfür und für alle sonstigen Beziehungen zwischen der Tüchtigkeit unserer Rasse und den Alkoholsitten nicht noch mehr von dem in Masse vorhandenen Material beibringen. Das Angeführte genügt, um auf die Stärke dieser Beziehungen hinzuweisen und den, der sich dafür interessirt, zu weiterer Orientierung anzuspornen.Vgl. ausser Baer und Demme, a. a. O. noch: Baer, A. Der Alkoholismus. Berlin 1878. — Bunge, G. Die Alkoholfrage II. Aufl. Leipzig 1887 und Lehrbuch der physiologischen und patho- logischen Chemie. II. Aufl. Leipzig 1890. — Forel, A. Alkohol und Geistesstörungen. Basel 1891. — Gaule, J. Wie wirkt der Alkohol auf den Menschen? Basel 1892. — Lang, O. Alkohol- genuss und Verbrechen. Leipzig 1892. — Strümpell, A. Die Zwei andere grosse Volksgeisseln, die Tuberculose und die Syphilis, sind in Bezug auf ihre Bedeutung für den Rassenprocess und besonders in Bezug auf die Frage, wie- viel nonselectorische Wirkungen sie entfalten, noch viel weniger geklärt. Die Rolle, die eine etwaige Disposition bei der Erkrankung an diesen beiden weitverbreiteten Uebeln spielt, wird von den Wissenschaftlern für sehr verschieden wichtig gehalten. Die einen schätzen sie sehr gering, die andern lassen kaum etwas ausser ihr gelten, ja degradiren die Ansiedelungen der betreffenden Bakterien zu einer neben- sächlichen Folge-Erscheinung. Deshalb muss noch eine grössere ätiologische Klärung abgewartet werden, ehe wir die wahre Bedeutung der beiden Krankheiten für den Rassen- process feststellen können. Kurze Gegenüberstellung der beiden Processe. Im Grossen und Ganzen ist nach den bisherigen Aus- führungen dieses Capitels das Resultat unseres Vergleichs 13 des heutigen Standes der Entwickelungsfactoren mit dem, wie er von einer rücksichtslosen Rassenhygiene gefordert werden müsste, durchaus kein so günstiges, dass wir uns jeder Befürchtung für die Zukunft unserer Rasse entschlagen dürften. Schlechtere Devarianten werden in Masse gezeugt, trotzdem sie zum grossen Theil vermeidbar wären. Dem Kampf um’s Dasein sind vielfach Schranken gezogen, und die Contraselection wächst in höchst bedrohlichem Maasse. Was das Verschlechtern der Devarianten anlangt, so ist als eine der Hauptursachen desselben in neuerer Zeit der grosse Betrag nonselectorischer Armuth zu nennen, den die hohe Entwickelung des Capitalismus mit sich ge- bracht hat. Eine fernere Ursache ist das Anwachsen des nonselectorischen Theiles des Alkoholismus. Neben diesen mehr modernen Ursachen spielen natürlich die alten, die hauptsächlich aus dem ungeregelten Ablauf der Fort- pflanzungsfunctionen hervorgingen, immer noch ihre frühere Rolle. Allerdings sind auch manche Quellen der Ver- schlechterung der Devarianten, die aus nonselectorischen Schädlichkeiten entsprangen, durch die moderne Hygiene verstopft worden. Was die Beschränkung des Kampfes um’s Dasein und das Anwachsen der Contraselection anlangt, so erscheinen diese beiden Momente hauptsächlich als Gefolge des Sieges- zuges, den der humanitäre Gleichberechtigungs-Gedanke durch unsere moderne Culturwelt angetreten hat. Huxley nennt die Einschränkung des Kampfes um’s Dasein geradezu das Wesen der Civilisation. Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkte aus. Berliner klinische Wochenschrift 1893. No. 39. — Zur Alkoholfrage, Vergleichende Darstellung der Gesetze und Erfahrungen einiger ausländ. Staaten zusammengestellt vom Eidgenöss. statist. Bureau. Bern 1884. Da der Capitalismus, diese eine Ursache der Devarianten- Verschlechterung, die unzweifelhafte Tendenz hat, auf der Höhe seiner Entwickelung in mehr socialistische Productions- weisen überzugehen,Vgl. Marx, K. Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. I. Band. III. Aufl. Hamburg 1883 und Engels, Fr. Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. III. Aufl. so bleibt nur noch der Gegensatz ernstlich zu betrachten, der zwischen den Gerechtigkeits- und den humanen Idealen auf der einen Seite und der Nothwendigkeit der Rassen-Vervollkommnung auf der an- deren Seite besteht. Der näheren Untersuchung dieses Gegensatzes wollen wir ein neues Capitel widmen. 13* 5. Capitel. Der Conflict zwischen Rassen- und Individual- Hygiene und seine Lösung. Die nonselectorischen socialpolitischen Systeme. Ihre elementaren Forderungen: der angepassten Summen der Bevölkerung und der Productionsmittel, des gleichen Nutzrechtes der Productionsmittel und der Versicherung gegen Arbeitsunfähigkeit. Die Beziehungen dieser drei Postulate zur Erhaltung und Fortpflanzung der Individuen. Socialismus und Malthusianismus. — Conflict mit den Forderungen der Rassenhygiene. Angriffe bedeutender Darwinianer auf die non- selectorischen Systeme. — Deren Vertheidiger und ihre Versuche zur Lösung des Conflicts. Wallace’s Lösung durch Verstärkung der sexuellen Auslese. — Lösung durch Beherrschung der Variabilität. Beeinflussung und künstliche Auslese der Keime. Einwürfe. Die modifizirten Rassenforderungen. Nothwendigkeit, schon heute Kenntnisse zu verbreiten, die die Erzeugung tüchtiger Nachkommen betreffen. Der Socialismus vom rassenhygienischen Standpunkt. Die nonselectorischen Forderungen der Socialpolitik und der Individual-Hygiene. Im vorigen Capitel sprachen wir bereits aus, dass das demokratisch-humanitäre Ideal es ist, welches sich den reinen Rassenforderungen in immer wachsendem Maasse entgegensetzt. Es gehört keine grosse Phantasie dazu, sich auszumalen, wieviel Unterdrückung und Jammer mit der Durchführung dieser Forderungen verknüpft sein würden; die Menschheit würde ewig auf Kosten der Gegenwart mit Schmerzen für die Zukunft sorgen. Auch die heutige abgemilderte Form des Kampfes um’s Dasein bringt noch eine so grosse Masse Elend mit sich, dass bei der steigenden Verfeinerung unserer Empfindung die Motive des Mitleids und der Humanität immer neue Anreize erhalten. Viele, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung der heutigen Privilegien haben, suchen ja das Elend zu ver- tuschen, allein man braucht, um es voll zu erkennen, kein nationaloekonomisches Sonntagskind zu sein, wie Karl Marx, oder ein hellsehender Dichter, wie Gerhart Hauptmann; es genügt, ein ruhiger, menschlicher Betrachter menschlicher Dinge zu sein, der sich nicht weiss machen lässt, was schwarz ist. Die Thatsache des Elends eines grossen Theils der Menschheit hat seit den ältesten Zeiten die Unzufriedenen zu theoretischen Forderungen und blutigen Versuchen zur Abhülfe getrieben. Diese Forderungen zeigen von der einzelnen Maassregel theoretisch kurzsichtiger Politiker bis zu den ausgearbeiteten Systemen praktisch kurzsichtiger Utopisten alle möglichen Abstufungen. Auch die heutigen socialpolitischen Bestrebungen gehen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus. Die Systeme des reinen Manchesterthums und theil- weise die mehr und weniger verwandten Systeme der resignirten Concurrenzwirthschaftler kommen mit dem Princip der natürlichen Zuchtwahl wenig in Conflict. Sie wären nur werth, dass man ihnen näher auf die Finger sieht in Bezug auf ihre Tendenz, durch Schaffung nonse- lectorischer Armuth die Devarianten zu verschlechtern. Theilweise ist dies im vorigen Capitel geschehen. So nothwendig eine eingehendere Betrachtung wäre, würde sie uns doch hier zu weit abführen, weil eine weitere Aus- breitung der Principien dieser Systeme nach den Arbeiten von Marx und verschiedenen Katheder-Socialisten weder wissenschaftlich wahrscheinlich ist, noch auch in der Richtung der gewaltig anwachsenden humanitären Cultur- bewegung liegt. Diese letztere scheint durch Aufhebung des Kampfes um’s Dasein eine viel grössere Gefahr für die Tüchtigkeit unserer Rasse einzuschiessen. Wir haben deshalb unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen Systeme zu concentriren, deren beabsichtigte oder unbeabsichtigte Wirkungen eine Einschränkung oder völlige Abschaffung des Kampfes um’s Dasein hervorrufen würden. Hierher muss man die mal- thusianischen, alle socialistischen, seien sie staatssocialistisch, christlich-social oder socialdemokratisch, sowie die gemischten Systeme rechnen, soweit deren Versicherungs- und sonstige Schutzmaassregeln in den natürlichen Gang des Wettbewerbs eingreifen. Es würde zu weit führen, alle diese Systeme, die ich der Bequemlichkeit halber nonselectorische nennen will, genauer vorzuführen. Es sollen hier nur ihre Elementarforderungen oder -Erwartungen formulirt werden, um zu untersuchen, wie weit nnd unter welchen Bedingungen ihre Erfüllung mit der Fortdauer einer gedeihlichen Ent- wickelung der Rasse verträglich ist. Die sonstige Durch- führbarkeit oder Berechtigung dieser Elementar-Forderungen soll natürlich gänzlich ausser Acht gelassen bleiben. Das Grundbestreben aller Unterdrückten und im Kampf um’s Dasein Herabgekommenen ist, ihre Lebensbedingungen so zu verbessern, dass sie Lust und Unlust in demselben günstigen Verhältniss empfinden, wie sie es bei den Privilegirten voraussetzen. In den Zeiten der rechtlichen Abhängigkeit einzelner Stände war es die einfache Forderung der gleichen Freiheit Aller, der gleichen Entfaltungs-Mög- lichkeit der Persönlichkeit, von deren Erfüllung man er- wartete, dass nun auch die Befreiten wirklich ihre Fähig- keiten entfalten und ihre Lage bedeutend verbessern würden. Aber man sah bald, dass nach wie vor ein grosser Theil des Volkes in Elend weiterlebte, weil ihm die materiellen Grundlagen der Verbesserung der Lage fehlten. Man fand diese Grundlagen in der Arbeits-Fähigkeit des Individuums nnd in der Zugänglichkeit der Natur (ein- schliesslich aller Productionsmittel) als Object und Werkzeug für die Arbeit und erstreckte die Gleichberechtigungs- Forderungen nun auch darauf. Menschliche Arbeit und Natur, auf welche sie angewandt wird, bilden die Quelle aller Bedürfniss-Befriedigung und aller Güter. Auch in dem Fall, wo ein Mensch sich scheinbar ohne Arbeit und Natur Befriedigung verschafft, z. B. beim Verharren in Musse oder Schlaf, braucht er die Güter dazu, die nöthig sind, um den körperlichen Stoff- verbrauch während der Zeit zu decken. Die Ursachen des Unterschieds in der Bedürfniss-Befriedigung der Menschen können also nur darin liegen, dass die Natur, einschliesslich aller Productionsmittel, nicht Jedem gleichmässig zugänglich ist, oder dass die aufgewendete Arbeitskraft verschieden ist, oder dass ein Theil der Menschen von dem anderen nimmt, ohne etwas Gleichwerthiges zu geben. Alle drei Ursachen bestehen in ausgedehntem Maasse noch in der heutigen Gesellschaft. Dem Erben eines Ritter- guts oder einer Fabrik sind die Productionsmittel zugäng- licher wie dem Sohn eines Proletariers. Ein Schwacher, eine Schwangere, ein Kranker können nicht die Durch- schnitts-Arbeitskraft aufbringen. Die Aneignung der Arbeits- resultate Anderer findet im weitesten Maasse statt als nothwendige Folge der heutigen Wirthschaftsform, die den Waaren-Charakter der Arbeitskraft und damit das Auftreten des annectirbaren „Mehrwerths“ bedingt.Marx, Karl. Das Kapital. Hamburg 1883. I. Bd. 2. und 3. Abschnitt. Wie ist dem zu steuern? Wie ist jedem Menschen die gleiche Möglichkeit der Befriedigung seiner Bedürfnisse, der Entfaltung seines Wesens zu verschaffen? Versuchen wir einmal, im Geiste der nonselectorischen Systeme zu deduciren. Gegeben sei eine menschliche Ge- sellschaft und das Stück Erde, auf dem sie lebt. Soll Allen die gleiche individuelle Entfaltung gewährleistet werden, so ist die erste Forderung die, dass die Gesammtheit der verfügbaren Natur (einschliesslich der von den früheren Generationen geschaffenen Productionsmittel) zur Gesammt- heit der Menschen in ein solches Verhältniss gebracht wird, dass Jeder — bei gleicher Zugänglichkeit der Natur — mit Durchschnitts-Arbeitskraft mindestens die nothwendigen Bedürfnisse des individuellen und Gattung- lebens befriedigen kann. Diese Forderung werde ich die der angepassten Summen der Bevölkerung und der Productionsmittel oder kurweg die Forderung der angepassten Summen nennen. Als zweite allgemeine Forderung muss die Bedingung erfüllt werden, dass der Grad der Benutzbarkeit der Natur, überhaupt aller Productionsmittel, für Alle der gleiche ist. Diese Forderung werde ich die des gleichen Nutz- rechtes der Productionsmittel oder kurz die des gleichen Nutzrechtes nennen. Die Factoren Rohstoff und Werkzeug der Arbeit für die Befriedigung der Bedürfnisse wären nun in gleichem und ausreichendem Maasse gesichert. Allein das genügt noch nicht. Wer keine oder nur eine schwache Arbeitskraft besitzt, könnte doch noch verhungern, wenn nicht das Postulat erfüllt würde, die Arbeitsproductivität zum Theil oder ganz versagender Arbeitskraft Einzelner auf die durch- schnittliche Arbeitsproductivität Aller zu ergänzen. Dadurch würde z. B. einem 60jährigen nur halb arbeitsfähigen Mann, einer schwangeren Frau, einem geschwächten Kranken, sowie den Kindern die volle Befriedigung der nothwendigen Bedürfnisse garantirt. Dies werde ich die Versicherungs- Forderung nennen. Diese drei Elementar-Forderungen der nonselectorischen Systeme zielen hin auf die Entfaltungsmöglichkeit aller Individuen, der schwachen wie der starken, sie müssen sich also in allen ihren feinsten Ausläufern als hygienische Forderungen für das Individuum erweisen. Sie gehören völlig zur Individual-Hygiene. Die Urformen der christ- lichen Gesellschaft, der moderne christliche Socialismus, der Staatssocialismus und die Socialdemokratie, alle tendiren nach der Richtung dieser drei Elementar-Forderungen, die eben die allgemeinen socialistischen Forderungen reprä- sentiren. Die Socialdemokratie speciell vertritt den Standpunkt, dass die Entwicklung der wirthschaftlichen Verhältnisse ganz nothwendig zu der Abschaffung des Capitalismus und der Überführung der Productionsmittel in gesellschaftliches Eigenthum führen werde, und dass ihre Forderungen conform mit der gesetzmässigen Weiterentwickelung der mensch- lichen Gesellschaft seien. Der Malthusianismus beschränkt sich auf die Forderung der angepassten Summen und will damit den auf der bis- herigen Nicht-Anpassung der Summen beruhenden Kampf um’s Dasein aufheben. Der Socialliberalismus Herztka’s und die Boden- reformer im Allgemeinen verlangen nur das für Jeden gleiche Recht, den Grund und Boden zu benutzen. Sie dehnen dagegen ihre Ansprüche nicht immer aus auf die gleiche Benutzbarkeit der sonstigen Productionsmittel, ein Punkt, der sie vom reinen Socialismus unterscheidet. Hertzka allerdings hat das volle Recht auf Arbeit in sein Programm aufgenommen. Auch die Bodenreformer hoffen, dass die Durchführung ihres Systems allein zur Herbei- führung materiell günstiger Verhältnisse für Alle genügen würde, verlangen aber nicht direct die Aufhebung des wirthschaftlichen Kampfes um’s Dasein, so dass sie streng principiell genommen nicht alle (z. B. Henry George nicht) ein nonselectorisches System vertreten. Gegen die nonselectorischen Systeme des Socialismus und Malthusianismus nun erhebt die Rassenhygiene ihre Warnungen und weist darauf hin, dass keine Gesellschaft für eine lange Dauer von Generationen fortbestehen kann, wo die Erfüllung der drei nonselectorischen Postulate zur allmählichen Entartung der menschlichen Rasse führen würde. Betrachten wir zunächst einmal diese Postulate etwas näher in Bezug auf ihre ganz allgemeinen Zusammenhänge mit Fortpflanzung und Selbsterhaltung der Individuen, um später die principiellen Beziehungen zum Rassenprocess würdigen zu können. Die erste Forderung, die der angepassten Summen, welche verlangt, dass die Zahl der Menschen und die Grösse der zugänglichen Natur einschliesslich aller Productions- mittel in richtigem Verhältniss zu einander stehen und stehen bleiben, ist naturgemäss für die verschiedenen Nationen ver- schieden je nach dem Grade, in dem sie die Natur auszu- beuten verstehen. Die Forderung ist wohl für alle civili- sirten Völker erfüllt, bei allen wäre der Antheil an der Erde und ihren Schätzen genügend unter einer günstigen socialen Ordnung, die bei der Gütererzeugung die Productionsmittel gleichmässig zugänglich machte. Unter dieser Bedingung wäre also von Übervölkerung keine Rede. Das ist der Standpunkt der Mehrzahl der Socialisten, MarxMarx, Karl. Das Kapital. S. 645 u. f. — Bebel, August. Die Frau. VIII. Aufl. London 1890. S. 198 u. f. an der Spitze. Sie meinen im Grunde, dass die jetzigen Einwohner z. B. von Deutschland, im Fall Collectiv-Eigenthum und -Bewirthschaftung aller Productionsmittel plötzlich eingeführt werden könnten, eine für den Augenblick genügende An- zahl von Nährstellen finden würden. Die meisten Socialisten kümmern sich desshalb um die eigentliche Bevölkerungs- frage nur wenig. Anders die Malthusianer. Sie fassen den Begriff Über- völkerung in Bezug auf die nur heute vorhandenen Nähr- stellen, und von diesem Standpunkt aus haben sie Recht, eine Übervölkerung anzunehmen. Die Zahl der jetzt vor- handenen oder, was das gleiche, der unter Berücksichtigung aller Factoren heute möglichen Nährstellen ist eben ab- solut nicht gleichbedeutend mit der Anzahl von Nährstellen, die vorhanden sein würden, falls gewisse heutige Ein- richtungen und Zustände wie Eigenthums-Gesetzgebung, Planlosigkeit der Production, mangelhafte Intelligenz der Massen etc., nicht existirten, sondern sie ist bedeutend kleiner. Und für sie trifft es zu, dass sie zu klein ist für die vorhandene Zahl der Bewerber, und dass sie zu lang- sam wächst, um mit der natürlichen Vermehrungs-Tendenz der Bevölkerung Schritt zu halten. Also in Bezug auf die Summe der heute vorhandenen Nährstellen ist Übervöl- kerung wirklich da und ist die Quelle des wirthschaftlichen Kampfes um’s Dasein und die Bedingung der natürlichen Zuchtwahl. Die Malthusianer sagen nun, wenn die Nährstellen sich nicht so rasch vermehren lassen, gut, so lasst uns die natürliche Vermehrungs-Tendenz der Menschen dadurch einschränken, dass jedes Ehepaar nur zwei bis drei Kinder zeugt. Sie wollen damit den wirthschaftlichen Theil des Kampfes um’s Dasein und das aus ihm folgende Elend möglichst ausrotten, sehen damit auch wohl die sociale Frage schon gelöst. Doch die Socialisten beharren in ihrer überwiegenden Mehrheit dabei, dass die Bevölkerungs-Beschränkung die schlechte Vertheilung der Güter nicht ändern würde, dass dagegen nach Einführung ihrer eigenen Reformen keine Übervölkerung mehr vorhanden sein würde, da sich mit einem Schlage die Zahl der Nährstellen bedeutend erhöhen würde. So recht die Socialisten nun auch darin haben mögen, dass das malthusianische Princip für sich allein die sociale Frage nicht lösen kann, weil es eben nur die Forderung der angepassten Summen einschliesst, so übel begründet ist ihre Zuversicht, dass sie selbst dieses Princips gänzlich entrathen können. Da die Durchführung der socialistischen Ideen wohl noch lange auf sich warten lassen würde und wegen des organisatorischen Wesens derselben naturgemäss nur sehr allmählich von Statten gehen könnte, so würde auch die Zahl der Nährstellen nur sehr langsam ansteigen, und desshalb das elend-mildernde Moment der Bevöl- kerungs-Beschränkung wohl am Platze sein. Und zwar nicht bloss in der Zeit bis zur Erfüllung der socialistischen Forderungen, sondern auch gleich weiter, da ja wegen der Langsamkeit des wirklichen Fortschritts die Bevölkerung immer hätte nachdrängen können. Denen, die durchaus nicht vom Glauben abzubringen sind, dass die Nutzbarmachung der Natur der Vermehrungs- Tendenz gleichen Schritt halten kann, hat man mit Recht die schliessliche Grenze der constanten jährlichen Sonnen- strahlung und die Beschränkung des Raums, besonders für Wohnzwecke, vorgehalten. Es liegt nicht in meiner Ab- sicht, hier näher auf die ganze Controverse einzugehen. Es soll nur festgestellt werden, dass die Wissenschaftler überwiegend annehmen, dass die Bevölkerungs-Beschränkung ein unumgänglich nothwendiges Mittel sein wird, um die Summen der Menschen und der von ihnen ausnutzbaren Natur zu einander in ein günstiges Verhältniss zu bringen. Nur einige wenige Socialisten, vor allem F. A. Lange F. A. Lange. Die Arbeiterfrage. Winterthur 1879. 5. Cap. besonders S. 238., Aveling Aveling, E. Darwinism, and small families. London 1882. und Kautzky Kautzky, Karl. Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft. Wien 1880., welch’ letzterer dadurch in grundlegender Weise die socialistische Wirthschaftslehre den ersten bedeutenden Schritt seit Marx weiter geführt hat, haben die Nothwendigkeit der Bevölkerungs-Beschränkung klar erkannt, die meisten anderen verlassen sich auf die unendliche Ausnutzbarkeit des Bodens oder auf das Herab- gehen der physiologischen Fruchtbarkeit durch die er- langte Behäbigkeit, eine Annahme, die durchaus unsicher ist, und die, wie der Zoologe Ziegler richtig bemerkt, aus biologischen Gründen für die nächsten Jahrhunderte nicht gemacht werden dürfte. Die Frage der künstlichen Beschränkung hat übrigens längst aufgehört, eine rein theoretische zu sein. Ganze Völker, wie die Franzosen und Yankees haben, wie wir ja schon wissen, practisch das Zwei-, richtiger das Dreikinder- System eingeführt, veranlasst einestheils durch die oekono- mischen Vortheile für die Familie, anderntheils durch die Abneigung der Frauen gegen die Mühsale wiederholter Geburten. Andere Völker folgen langsam nach, so dass möglicherweise manche socialistische Gemeinwesen nicht vor die Frage gestellt würden, wie man die Bevölkerung be- schränkt, sondern vor die schwierigere Frage, wie man das Abnehmen der Bevölkerung verhindert. Die Forderung der angepassten Summen kann auf die Dauer nur durch eine Verringerung des natürlich möglichen Nachwuchses erfüllt werden, sei es dass diese auf dem demokratischen Wege des Neo-Malthusianismus, oder irgend einem aristokratischen der künstlichen Zuchtwahl zu Stande kommt. Wir werden zum Schluss genauer auf diese Wege zurückkommen. Die zweite Forderung, die des gleichen Nutzrechtes, ist eine, deren Durchführung auf zwei Weisen möglich erscheint. Bei beiden jedoch ist das Gemein-Eigenthum der Gesellschaft an den Productionsmitteln (Grund und Boden, Capital) nöthig, um die Aufrechterhaltung des gleichen Anrechts Aller auch für den Nachwuchs zu garantiren. Entweder die Productionsmittel werden, so gut es geht, in so viele annähernd gleichwerthige Theile getheilt, wie Mit- glieder der Gesellschaft da sind, also ähnlich wie in Sparta und der alten deutschen Markgenossenschaft. Oder die ganze Natur wird gemeinschaftlich bewirthschaftet, wobei Jeder das Recht auf Arbeit gewährleistet bekommt. Die erste, die Vertheilungs-Art war früher, wo die Productions- mittel fast aus nichts weiter als aus Grund und Boden be- standen, am Platze. Heutzutage wäre eine solche Ver- theilung schwer, und jedenfalls theilweise nur indirect denkbar, da eine grosse Zahl der Productionsmittel in Fabriken, Minen, Eisenbahnen u. s. w. besteht. Für unsere moderne Productionsweise in Grossbetrieben scheint der zweite Modus, die Productionsmittel von Gesell- schaftswegen zu bewirthschaften und Jedem das gleiche Recht auf Arbeit und ihren Ertrag zu gewähren, nicht nur einfacher, sondern auch durch die jetzige Entwickelung anticipirt. Nur diese zweite, höchstens noch gemischte Arten werden von den modernen Socialisten vertreten. Für unsere Forderung ist es im Grunde genommen gleich, auf welche Art jeder sein Recht an dem gleichen Antheil der Benutzbarkeit der Productionsmittel bekommt. Voraus- sichtlich würden die einzelnen Völker verschiedene Wege einschlagen je nach dem Verhältniss zwischen ihrem individualistischen Unabhängigkeitssinn und dem Streben, viele Güter zu produziren. Allein immer müsste das Gemein- Eigenthum an den Productionsmitteln wirklich bestehen und diese in irgend einer Art jedem Einzelnen in annähernd gleicher Weise zugänglich sein, so dass jeder Arbeitsfähige in den Stand gesetzt würde, sich die Bedingungen seiner Erhaltung zu schaffen. Die dritte, die Versicherungs-Forderung, ist nicht minder eine Consequenz des Princips der Gleichberechtigung. Was nützt es mir, grollt der Kranke, der Krüppel, das alte alleinstehende Mütterchen, wenn ich zwar gleichen Antheil an dem Productiv-Eigenthum habe, allein nicht ge- nügend Arbeitskraft, um ihn auszunutzen. Sollen sie sich des Daseins freuen wie die Anderen und die gleiche Fähigkeit haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und sich zu erhalten, so muss die Gesellschaft ihren Kranken und Schwachen, natürlich auch den Kindern, auf irgend eine Weise, auf welche, ist hier gleichgültig, ein menschen- würdiges Einkommen garantiren. Diese Versicherungs- Forderung steht auf dem socialpolitischen Programm aller Socialisten. Der Conflict zwischen Individual- und Rassenhygiene. Die drei nonselectorischen Postulate stehen mit ein- ander in innigem Zusammenhang, sie sind im Grunde nur einzelne Zweige der sich immer mehr Geltung schaffenden Individual-Hygiene. Neben dem wirthschaftspolitischen, mittelbaren Schutz der Schwachen strebt unsere Zeit einen immer ausgedehnteren directen Schutz der rein körperlich und geistig Schwachen und Kranken an. Hygiene, Medizin und eine Menge von Wohlthätigkeits-Einrichtungen arbeiten alle im Sinne des humanitären und ritterlichen Ideals, dem Schwachen nach Kräften zu helfen. Doch gerathen alle diese nonselectorischen Schutzmaassregeln und alles Ver- langen, immer neue zu schaffen, offenbar in lebhaftem Widerspruch mit dem, was wir in den vorigen Capiteln als die reinen Forderungen der Rassenhygiene kennen gelernt haben. Die nonselectorischen Forderungen werden von den Menschen vertreten werden, so lange sie vom Hunger nach Gütern und nach Gerechtigkeit getrieben werden, aber auch ohne Erfüllung kann die Menschheit bestehen und hat ungezählte Jahrtausende bestanden. Wenn dagegen in einem Volk die Grundbedingungen seiner Erhaltung und seines Fortschritts dauernd geschädigt werden, verfällt es dem Niedergang und der Vernichtung, womit auch der Er- füllung der humanen Ideale die Grundlage entzogen wird. Die Forderung des Rassenwohls bleibt also die Grund- bedingung und der Prüfstein aller anderen. Was von ihnen geeignet ist, zu einem Stillstand oder einer noch so lang- samen Entartung der Rasse beizutragen, muss ein für alle Mal unterdrückt werden. Und hier nun setzt die Kritik beinahe der Gesammtheit der darwinistisch gesinnten Natur- wissenschaftler ein, um gegen Socialismus und Malthusianismus und oft genug auch gegen weitere Humanitäts-Bestrebungen mehr oder weniger offen zu Felde zu ziehen. Darwin selbst erklärt, offenbar nicht leichten Herzens, im Schluss seiner „Abstammung des Menschen“: „Wie jedes andere Thier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz als Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben.“ So der deutsche Übersetzer Carus. Im Original steht freilich: „it is to be- feared, that he must remain subject to a severe struggle“.Darwin, The descent of man. II. Edit. London 1882. S. 618. Weshalb die Darwin doch höchstens ehrenden Worte „es ist zu fürchten“, die überdies noch die absolute Noth- wendigkeit offen lassen, nicht übersetzt wurden, ist unerfind- lich. Darwin fährt fort: „Im anderen Falle würde er in Indolenz versinken, und die höher begabten Menschen würden im Kampf um das Leben nicht erfolgreicher sein als die weniger begabten. Es darf daher unser natürliches Zunahmeverhältniss, obschon es zu vielen und offenbaren Übeln führt, nicht durch irgend welche Mittel bedeutend verringert werden.“ Im ersten Satz wird der Socialismus, im zweiten der Malthusianismus abgewiesen. Haeckel, der erste Bannerträger der Selectionstheorie in Deutschland, tritt schroff dem Socialismus entgegen, von dem er sich aller- dings kein zutreffendes Bild macht, denn es ist nicht richtig, dass der Socialismus für alle Staatsbürger gleiche Güter und gleiche Genüsse verlangt. HaeckelHaeckel, E. Freie Wissenschaft und freie Lehre. Stutt- gart 1878. S. 73. hegt folgende Meinung über die Beziehungen der Selectionstheorie zum Socialismus: „Der Darwinismus ist alles Andere eher als socialistisch! Will man dieser englischen Theorie eine bestimmte Tendenz beimessen — was allerdings möglich ist — so kann diese Tendenz nur eine aristokratische sein, durchaus keine demokratische, und am wenigsten eine socialistische! Die Selectionstheorie lehrt, dass im Menschenleben, wie im Thier- und Pflanzen- leben überall und jederzeit nur eine kleine bevorzugte Minderzahl existiren und blühen kann; während die über- grosse Mehrzahl darbt und mehr oder minder frühzeitig elend zu Grunde geht .... Der grausame und schonungs- lose „Kampf um’s Dasein“, der überall in der lebendigen Natur wüthet, und naturgemäss wüthen muss, diese unaufhör- liche und unerbittliche Concurrenz alles Lebendigen, ist eine unleugbare Thatsache; nur die auserlesene Minderzahl der bevorzugten Tüchtigen ist im Stande, diese Concurrenz glücklich zu bestehen, während die grosse Mehrzahl der Concurrenten nothwendig elend verderben muss! Man kann diese Thatsache tief beklagen, aber man kann sie weder wegläugnen noch ändern. Alle sind berufen, aber Wenige sind auserwählt! Die Selection, die Auslese dieser „Aus- erwählten“ ist eben nothwendig mit dem Verkümmern und Untergang der übrigbleibenden Mehrzahl verknüpft .... Wenn daher der Darwinismus nach Virchow, consequent durchgeführt, für den Politiker eine „ungemein bedenkliche Seite“ hat, so kann diese nur darin gefunden werden, dass sie aristokratischen Bestrebungen Vorschub leistet. Wie aber der heutige Socialismus an diesen Bestrebungen Freude haben soll, … das ist mir, offen gestanden, absolut unbegreiflich!“ Auch der Zoologe Oskar Schmidt erhob sich gegen den Anspruch der Socialisten, mit der Selectionstheorie im Einklang zu stehen: „Das Resultat unserer Untersuchung ist, dass die Socialdemokratie, wo sie sich auf den Darwinismus beruft, ihn nicht verstanden hat, wenn sie ihn aber ausnahms- 14 weise verstanden hat, mit ihm nichts anzufangen weiss und sein unveräusserliches Princip, die Concurrenz, negiren muss“.Schmidt, O. Darwinismus und Socialdemokratie. Bonn 1878. S. 38. Noch deutlicher liess er sich im „Ausland“ ver- nehmen: „Wenn die Socialisten klar denken, so müssten sie alles thun, um die Descedenzlehre zu verheimlichen, denn sie predigt überaus deutlich, dass die socialistischen Ideen unausführbar sind“. Auch Heinrich Ernst Ziegler, Zoologe in Freiburg, hat sich zur Nothwendigkeit des Kampfes um’s Dasein in einer kürzlich erschienenen SchriftZiegler, H. E. Die Naturwissenschaft und die social- demokratische Theorie. Stuttgart 1894. bekannt, in der er ausserdem die Socialdemokratie in effigie Bebels zu wider- legen bemüht ist. Auf S. 152 formulirt er seine Über- zeugung in folgenden Sätzen: „Der Kampf um’s Dasein kann im Menschengeschlecht nicht aufgehoben werden. Er zeigt sich in den Kriegen der Völker, in der Concurrenz der wirthschaftlichen Betriebe und in der Arbeitsconcurrenz der Einzelnen“. Als Anmerkung fügt er hinzu: „Ich rede hier nur vom Kampf um’s Dasein auf socialem Gebiet. Man könnte auch von einem Kampf um’s Dasein auf hygienischem Gebiet sprechen, welcher nur die körper- liche Widerstandsfähigkeit betrifft, und welcher diejenigen Indivividuen eliminirt, welche für das betreffende Klima und die betreffenden Lebensverhältnisse zu schwach sind“. Warum wendet sich übrigens Ziegler dann nicht auch ebenso stark wie gegen den Socialismus gegen seine Collegen von der medizinischen Facultät? Das wäre doch von seinem Standpunkt aus, dass die Auslese überhaupt aufrecht erhalten bleiben muss, nicht mehr wie billig und nur consequent. Diese feindlichen Auslassungen von Darwinianern gegen den Socialismus und die humanitären Bestrebungen könnte ich leicht um viele vermehren, ich könnte Ammon,Ammon, O. Der Darwinismus gegen die Socialdemokratie. Hamburg 1891. Hellwald, Herbert Spencer, Tille und manchen andern hervorragenden Darwinianer citiren, jedoch die Aus- sprüche würden alle ziemlich ähnlich lauten, so dass ich den Leser nicht damit ermüden will. Unter diesen Gegnern befinden sich die Namen so glänzender Sterne der Wissenschaft, und so überzeugungs- treuer, aufrichtiger Männer, dass ihre Aussprüche eine grosse Bedeutung gefunden haben. Andrerseits haben die ethischen Lehren des Christenthums und die ethischen und wissenschaftlichen Lehren des Socialismus auch wieder warme und überzeugte Vertheidiger gefunden und zwar sowohl unter Darwinianern wie Nicht-Darwinianern. Die Versuche dieser letzteren, den Widerspruch der nonselectorischen Forderungen mit dem Princip des Kampfes um’s Dasein einfach dadurch zu läugnen, dass sie die natür- liche Zuchtwahl als unberechtigte Hypothese zurückweisen, darf uns hier natürlich nicht weiter aufhalten; diese un- zeitgemässe Arbeit müssen wir den unzeitgemässen Geistern überlassen, die ja noch zahlreich genug vor- handen sind. Aber aus dem Lager der Darwinianer selbst haben sich zahlreiche, z. Th. mächtige Vertheidiger erhoben, die es auf verschiedenen Gedankenwegen unternommen haben, die Hoffnungen der Menschheit mit den aus der Selections- theorie fliessenden Grundsätzen der Rassenhygiene zu ver- einigen. Die ganze daraus hervorgehende Discussion ist um so wichtiger, als es sich längst nicht mehr nur um Hoffnungen und Erwartungen handelt, sondern um die An- fänge der Realisation. Denn wir sind bereits mitten im Fahrwasser nicht nur des privaten, sondern auch des staat- lichen Schutzes der wirthschaftlich Schwachen und der 14* Schwachen überhaupt. Kranken-, Unfall- und Altersver- sicherung, Schutz der Arbeiter gegen übermässige Arbeits- zeit und gegen mancherlei sonstige Beeinträchtigungen durch die Arbeitgeber, das sind heutzutage gesicherte Errungen- schaften in vielen Culturländern. Die Gesetzgebung be- wegt sich ziemlich überall in der Richtung des weiteren Ausbaues dieser grundlegenden Anfänge, und das Ver- langen nach dem verfassungsgemäss garantirten Recht auf Arbeit — und damit auf den Lebensunterhalt und den Schutz vor den hauptsächlichsten ausmerzenden Factoren — hat sich aus einer theoretischen zu einer von grossen Par- teien gestützten politischen Forderung entwickelt. In wei- terem Sinne richtet sich auf den Schutz der Schwachen die Arbeit aller der tausend privaten Wohlthäter, sowie ein grosser Theil der ärztlichen Thätigkeit. Die ganze Frage ist also keine akademische mehr, sie beansprucht das öffentliche Interesse. Es handelt sich eben um die allerersten Garantien jeder Gesellschaftsform, um die Erhaltung des gesunden, blühenden Lebens. Die etwa mögliche Vereinbarung der socialistisch-humanen For- derungen mit denen der Rassenhygiene wäre demnach von der grundlegendsten Bedeutung für die fernere Entwickelungs- richtung der menschlichen Gesellschaft. Daher verdienen die von Darwinianern und darwinistisch gesinnten Socialisten gemachten Vereinigungsvorschläge die grösste Aufmerk- samkeit. Vorschläge zur Lösung des Conflicts. Der leichtfertige Rath zu warten, bis unsere Nachkommen einmal eine Lösung finden, mag ja ganz practisch sein, gibt uns aber keine Handhabe zur Discussion. Der Hinweis darauf, dass später der Kampf der Einzelnen unter einander durch den der Gesammt- Menschheit gegen die Natur ersetzt werden würde, erscheint jedem Darwinianer sofort als Missverständniss des eigent- lichen Problems. Als wenn nicht gerade der Kampf um’s Dasein der Einzelnen und der Völker unter einander der springende Punkt bei der ganzen Controverse wäre. Auch Männer wie RitchieRitchie, D. Darwinism and Politics. Humboldt Library No. 125. New-York 1890. und StiebelingStiebeling, G. Sozialismus und Darwinismus. New- York 1879. beruhi- gen sich mit dieser Umwandelung des Kampfes. Nach den obigen Ausführungen ist es nicht nöthig, diesen Punkt näher zu besprechen, der angebliche Ausweg wird leicht als Missverständniss der eigentlichen Frage erkannt, um so mehr, als der erwartete Kampf der Gesammt-Menschheit gegen die Natur durchaus nicht als echter darwinistischer Extralkampf aufgefasst wird. Andere, wie z. B. BrocaBroca, Paul. Les sélections. Revue d’Anthropologie. 1. Bd. Paris 1872. S. 707 u. 708. und viele Socialisten, empfehlen eine sorgsame Erziehung aller Individuen, eine Ausbildung ihrer guten Anlagen durch Uebung, und hoffen dann, dass nach den Anschauungen von Darwin, Haeckel, Lamarck, Spencer diese so erworbene stärkere Functions- fähigkeit der Organe auf die Nachkommen als stärkere An- lage vererbt und damit eine Vervollkommnung des mensch- lichen Typus hervorgebracht werde. Dieser Vorschlag steht und fällt mit der Entscheidung der Vorfrage: Sind im Lauf des Individuallebens erworbene Eigenschaften ver- erbbar oder nicht? Wie wir bereits im ersten Capitel sahen, ist der heutige Stand der wissenschaftlichen Forschung für die Beant- wortung dieser Frage noch nicht reif. Es stehen sich unter den Biologen zwei Parteien ziem- lich schroff gegenber, so dass ein gänzlich Unparteiischer auf eine befriedigende Lösung verzichten muss, wenn auch mit schwerem Herzen. Denn was gäbe es hoffnungsvolleres für die Entwickelung der Menschheit, als wenn wir durch richtige Uebung der Hirnfunctionen und Vererbung der Uebungsresultate die Vervollkommnung unmittelbar beein- flussen und rascher als durch natürliche Zuchtwahl höheren Stufen entgegen führen könnten? Der Kampf ums Dasein mit all’ seinem Jammer wäre im Princip entbehrlich ge- worden, die Verbesserung der Devarianten, die Verstär- kung der Regulations-Anlagen der Kinder würde ja ganz unmittelbar durch Uebung der elterlichen Anlagen zu Stande kommen. Darwinianer, die eine Vererbbarkeit er- worbener Eigenschaften annehmen, wie Haeckel und Spencer, können schon aus diesem Grunde keinen prin- cipiellen Gegensatz zwischen den nonselectorischen Forde- rungen und den aus der darwinistischen Entwickelungs- theorie ableitbaren rassenhygienischen Forderungen auf- stellen. Aber wir wollen uns auch angesichts dieser freudigen Aussicht, die die Vererbbarkeit von Uebungsresultaten für die Verminderung menschlichen Elends eröffnen würde, nicht zu kritikloser Anerkennung eines blossen Glaubens- satzes, und das ist die Vererbung erworbener Eigenschaften heute noch, hinreissen lassen. Etwa drei Viertel der Bio- logen soll sich dagegen und nur ein Viertel dafür ausge- sprochen haben. Daraus folgt ja an und für sich nichts, es wird nur die herrschende Strömung gekennzeichnet. Aber halten wir das fest: so wenig wie die Vererbung er- worbener Eigenschaften exact bewiesen ist, so wenig ist sie exact widerlegt. Die Experimente, die diesen für den Menschenfreund so wichtigen Punkt klar stellen könnten, sollen erst noch angestellt werden. (Vgl. S. 24.) Die bisher angestellten entscheiden principiell nichts. Jeden- falls berechtigt der heutige Stand dieser Frage uns nicht dazu, die Vereinbarkeit der nonselectorischen mit den rassen- hygienischen Forderungen darauf zu basiren. Das ist denn auch von verschiedenen Seiten berück- sichtigt worden, und hat dazu Veranlassung gegeben, sowohl die künstliche als die geschlechtliche Zuchtwahl heranzuziehen. Für künstliche Zuchtwahl hat sich z. B. der berühmte Vererbungsforscher Francis Galton aus- gesprochen. Er will ein staatliches Censur-System für Familientauglichkeit, das sich auf Fachurtheile über Ge- sundheit, Intelligenz und sittliches Verhalten gründen soll. Inhabern guter Censuren soll durch ausreichende Staats- unterstützung die Gründung einer Familie ermöglicht werden. Wallace bemerkt sehr richtig zu diesem Vorschlag, dass er wohl die Tendenz haben würde, die Zahl unserer be- gabtesten Männer zu vermehren und ihr Niveau zu heben, dass er aber gleichzeitig die grosse Menge der Bevölkerung gar nicht treffen würde. Was wir brauchten, sei aber nicht nur ein höheres Niveau der Vollendung für Wenige, sondern ein höheres Niveau für den Durchschnitt. Ausserdem ist Galton’s Vorschlag zu sehr auf die Concurrenzwirthschaft berechnet. Bei den nonselectorischen Wirthschafts-Systemen würden sich Liebende, wenn sie nur die Aussicht auf hinreichenden Unterhalt ihrer Familie hätten, schwerlich um staatliche Unterstützung kümmern. Es wird soviel davon erhofft, dass später die Heirathen öfter aus Liebe als aus allen möglichen anderen Motiven geschlossen werden, da muss man dann aber auch mit dem ganzen rücksichtslosen und unbedachten Vorgehen von Liebesleuten rechnen. Hiram Stanley (in milderer Form auch Broca) denkt ebenfalls an eine künstliche Zuchtwahl, um der nach seiner Ansicht jetzt bereits drohenden Entartung der Cultur- menschheit zu begegnen. Er will das Vorrecht, Kinder zu erzeugen, für eine durch wissenschaftliche Fachleute aus- gesuchte Minderheit reserviren. Wirksam wäre das ja zweifellos, allein glaubt dieser Bürger der grössten demo- kratischen Republik wirklich, dass moderne Menschen, die sich um ihr Wahlrecht die Köpfe blutig schlagen, je dahin kommen werden, sich das Recht auf die Familie weg zu decretiren? Auch Hegar, einer unserer bedeutendsten Gynaeko- logen, erhofft fast Alles von einer richtig geleiteten künst- lichen Zuchtwahl: „Wenn wir aber weiter gehen und dahin streben, die nächsten Generationen zu verbessern, eine kräftige und edle Rasse zu schaffen, so ist eine methodische Zuchtwahl jedenfalls das beste und sicherste Mittel, mit welchem in verhältnissmässig kurzer Zeit schon recht viel zu erreichen wäre“.Hegar, A. Der Geschlechtstrieb. Stuttgart 1894. S. 136. Speciellere Vorschläge, wie diese künstliche Zuchtwahl geregelt werden müsste, macht Hegar übrigens nicht. Wir kommen schliesslich zu den Erwartungen, die auf eine verbesserte, aber frei wirkende geschlechtliche Zucht- wahl gesetzt worden sind. Grant Allan, ein bekannter englischer Schriftsteller, schlägt die völlige Abschaffung der rechtlichen Einschränkungen über die Ehe vor, die nur so lange dauern soll, wie beide Theile es wünschen. Überdies soll den Mädchen durch die Erziehung, sowie den Druck der öffentlichen Meinung beigebracht werden, dass es die Pflicht jedes gesunden und gescheidten Weibes sei, so viele und so vollkommene Kinder wie nur möglich zu bekommen. Zu diesem Zwecke sollen sie sich die schönsten, gesundesten und intelligentesten Männer zu zeit- weiligen Gatten aussuchen. Hierin steckt ein gutes Stück Utopie. Gut erzogene Mädchen von heutzutage wissen recht wohl, dass sie als blosse Gebärmaschinen und Kleinkinder-Wärterinnen nicht zu ihrem vollen Lebensgenuss kommen würden. Wenn man auch versuchen würde, ihnen solche Gesinnungen anzuerziehen, so würde doch die schöne Litteratur, die man nicht censiren oder verbieten kann, und die wohl nie das blosse, fortwährende Kindergebären und -Aufpäppeln als schönsten Erdengenuss predigen wird, einen Strich durch die Rechnung machen. Das bewusste Weib lehnt sich heute schon gegen eine zu starke Inanspruchnahme im Dienste der Gattung auf. Wo die moderne Frau am höchsten entwickelt ist, wie in Amerika und England, kommt das Streben nach fester Monogamie und kleiner Familie, sowie die manchmal sogar zu starke Abneigung gegen das viele Kindergebären voll zum Ausdruck. Ein, zwei, allerhöchstens drei Kinder, weiter versteigt sich das Ideal des modernen Weibes nicht. Die Hoffnung, das bessere, gescheidtere Weib werde freiwillig mehr Kinder zeugen als die andern, scheint mir auf Sand gebaut. Wallace’s Ansicht über die Lösung. Bei Weitem die bestgegründeten Ansichten über die Lösung des Conflicts hat bisher Alfred Russel Wallace, einer der berühmtesten Naturforscher geäussert, derselbe Mann, der zugleich mit Darwin und unabhängig von ihm die Selectionstheorie aufstellte, und der später trotz seines Alters mit mehr Herzensfrische, als sie viele unserer jungen Gelehrten aufbringen, für seine humanen und socialistischen Ideale eintrat. Wallace erkannte klar den inneren Conflict zwischen diesen letzteren und der Selectionstheorie und legte sich die natürliche Lösung desselben in einer Weise zurecht, die principiell völlig auf der Grundlage der Selectionstheorie steht. Er war der erste berechtigte Socialist auf darwinistischem Boden. Darwin hatte für eine solche Stellungnahme in wirthschaftlicher Beziehung nicht genügend lebhafte Interessen, war auch im Allgemeinen stets schüchtern, sobald es sich darum handelte, aus seiner Theorie weit- gehende Schlussfolgerungen zu ziehen. In Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes will ich Wallace’s Ansicht ausführlich mit seinen eigenen Worten wiedergeben: „So bleibt uns denn nur noch übrig, uns zu überlegen, welche Mittel in einer solchen socialistischen Gesellschaft eine dauernde Hebung der Rasse ermöglichen würden, wenn wir annehmen, dass die Bildung als directe Kraft für diesen Zweck wirkungslos bleibt, da ihre Wirkungen nicht erblich sind, und doch eine Auslese in irgend welcher Form eine absolute Nothwendigkeit ist. Diese Hebung wird meiner Meinung nach sicherlich erreicht werden durch die Wirksamkeit der Wahlfreiheit der Frauen hinsichtlich der Ehe. Sehen wir also zu, wie diese vermuthlich wirken würde. Man wird allgemein zugeben, dass, obgleich viele Frauen jetzt mehr aus Noth als aus freier Wahl unver- heirathet bleiben, es immerhin eine beschränkte Anzahl giebt, die keine starke Neigung zur Ehe fühlen, die einen Mann nur nehmen, um sich den Unterhalt oder ein eigenes Heim zu sichern …. In einer Gesellschaft, in der alle Frauen in der Geldfrage unabhängig wären …, würde die Anzahl derer, die aus eigener Wahl unverheirathet bleiben würden, stark wachsen …. Andrerseits ist die leidenschaftliche Liebe beim Mann allgemeiner und ge- wöhnlich stärker. Und da in einer Gesellschaft, wie sie durch unsere Forderungen gekennzeichnet ist, sich kein anderer Weg ausser der Ehe bieten würde, ihr zu genügen, so würde fast jedes Weib Anträge empfangen, und damit würde wiederum eine auslesende Function in die Hände des weiblichen Geschlechts gelegt werden. Unter dem Druck der hier vorgeschlagenen Erziehungsweise und der öffentlichen Meinung würde diese Auslesefunction auch thatsächlich ausgeübt werden. Die Arbeitsscheuen und die Selbstsüchtigen würden fast allgemein Körbe erhalten. Die mit einer Krankheit Behafteten oder geistig Schwachen würden ebenso in der Regel ehelos bleiben …. Diese Art der Hebung der Rasse durch Ausscheidung der Schlechtesten hat viele Vortheile über die andere Art, das frühe Heirathen der Besten sicher zu stellen. Erstlich ist es die directe statt der indirecten Art, denn es ist wichtiger und wohlthätiger für die Gesellschaft, den Durchschnitt ihrer Mitglieder zu heben, indem sie die niedrigsten Typen ganz beseitigt, als die höchsten noch ein wenig höher zu heben. Ausnahmsweis grosse und gute Menschen werden immer in genügender Zahl producirt und sind auf jeder Civilisationsstufe immer producirt worden. Von ihnen brauchen wir nicht so nothwendig mehr, als wir weniger Schwache und Schlechte brauchen. Dieses Ausjätesystem ist die Art und Weise der natürlichen Auslese gewesen, durch die das Thier- und Pflanzenreich so gestiegen ist und sich entwickelt hat. Das Überleben der Tüchtigsten bedeutet in Wirklichkeit die Vernichtung der Untüchtigen. In der Natur geschieht diese in ganz ungeheurem Maasse, weil in Folge der rasenden Vermehrung der meisten Organismen die jährlich vernichteten Untüchtigen einen grossen Bruchtheil der Geborenen bilden. Unter unserer bisherigen unvollkommenen Civilisation ist dieser heilsame Process, soweit er die Menschen betrifft, neutralisirt worden. Aber diese Neutralisirung ist das Ergebniss der höheren Eigenschaften unserer Natur gewesen. Die Humanität, dieses wesentlich menschliche Gefühl, hat uns das Leben der Schwachen und Leidenden, der Krüppel und Unvoll- kommenen an Geist und Körper retten lassen. Das hat der körperlichen und geistigen Rassehebung einigermaassen im Wege gestanden; aber es hat uns sittlich gehoben durch die anhaltende Entwickelung der bezeichnenden und Alles krönenden Zierde unserer menschlichen Natur als unterschieden von unserer thierischen. Eine zukünftige Gesellschaft wird diesen Mangel ab- stellen, nicht durch Verminderung unserer Humanität, sondern dadurch, dass sie das Entstehen und Wachsen eines noch höheren menschlichen Kennzuges fördert, die Bewunderung alles dessen, was schön und freundlich und opferfreudig ist, und die Bekämpfung alles Selbstsüchtigen, Gemeinen und Grausamen. Wenn wir uns in unserem Verhalten gegen unsere Mitmenschen durch Vernunft, Gerechtigkeit und Allgemeinsinn leiten lassen und uns zu dem Entschlusse aufraffen, durch Anerkennung des gleichen Anrechts aller Bürger unseres gemeinsamen Landes auf einen gleichen An- theil an dem Reichthum, den das Zusammenwirken Aller erzeugt, die Armuth abzuschaffen, — wenn wir somit das geringere Problem der vernunftgemässen socialen Organisation gelöst haben, die die gleiche Wohlfahrt Aller zu sichern geeignet ist; dann können wir das weit höhere und tiefere Problem der Hebung der Rasse getrost dem gebildeten Geist und dem reinen Gefühl der Frauen dieser herauf- kommenden Zeit überlassen“.Wallace, A. R. Menschliche Auslese. Zukunft von Harden. No. 93. Berlin, 7. Juli 1894. S. 21 ff. Hieraus geht hervor, dass Wallace sich nicht nur des Conflicts zwischen den humanen Idealen, insbesondere dem Socialismus, und den Forderungen der Rassenhygiene deutlich bewusst ist, sondern auch, dass die Lösung, wie er sie sich denkt, völlig im Rahmen der modernen Entwicke- lungslehre liegt. Er glaubt, dass sich eine verbesserte sexuelle Zuchtwahl schaffen lässt, und dass sie die starke Abschwächung der natürlichen und besonders der wirth- schaftlichen Zuchtwahl völlig ausgleichen kann.In ähnlicher Art denkt sich Aveling die Vereinigung des Malthusianismus mit der Selectionstheorie. Vgl. Darwinism and small families. London 1882. Das sieht natürlich sehr bestechend aus und ist zweifel- los von allen bisher gebrachten Lösungsversuchen weitaus der berechtigste. Die bessere sexuelle Zuchtwahl wird auch sicherlich in einer verfeinerten Cultur ihre bedeutende Rolle spielen. Allein einige Zweifel an das Ausreichende dieser Rolle drängen sich doch demjenigen auf, der die menschliche Natur etwas weniger optimistisch ansieht. So ist schwer daran zu glauben, dass bei ökonomischer Sicherstellung beider Geschlechter die Frauen sich noch öfter des Heirathens enthalten würden als heutzutage. Die Statistik lehrt überall, dass bei Besserung der wirthschaft- lichen Lage eines Volkes die Zahl der Eheschliessungen sich rasch hebt. Wenn wir sehr verschieden reiche Völker mit einander in Bezug auf ihre Eherate vergleichen, so be- merken wir durchaus keinen vermindernden Einfluss der Wohlhabenheit. Die armen Irländer verheirathen sich viel weniger häufig als die wohlhabenden Engländer. Um noch die Eheraten einiger anderer Länder mit heranzuziehen, so kommen auf 1000 Einwohner in den Jahren 1871 — 80 Eheschliessungen in Irland 4,7 Griechenland 5,8 Rumänien 6,4 Schweden 6,6 Norwegen 7,2 Belgien 7,3 Italien 7,7 Spanien (1861—70) 7,7 Schweiz 7,7 Dänemark 7,8 Frankreich 8,0 Grossbritannien 8,0 Niederlande 8,1 West-Oesterreich 8,1 Finnland 8,3 Deutsches Reich 8,6 Galizien 9,1 Russland 9,3 Ungarn 10,2 Serbien 11,4 Nordatlantische Staaten der Union 9—11 Arme Länder stehen am Anfang wie am Schluss der Reihe, die nach der Zunahme der Eheziffer geordnet ist. Es dürfte somit schwer sein, hieraus irgend einen vermin- dernden Einfluss der Wohlhabenheit zu folgern. Die Be- fürchtung, dass die Zahl der Ehen sich unter den ge- sicherten ökonomischen Verhältnissen des Socialismus ganz bedeutend steigern würde, ist oft ausgesprochen worden. Eine wirklich bedeutende Abnahme der Neigung zum Heirathen wäre übrigens auch, wie wir im zweiten Capitel sahen, in Anbetracht der wachsenden Tendenz zum Zwei- kindersystem eine Gefahr für den Bestand der Bevölkerung. Aber setzen wir einmal den Fall, die Zahl der Frauen, die höhere Ansprüche an den Mann stellen, den sie hei- rathen wollen, nähme ziemlich zu, so wäre doch immer bei durch die Erziehung zu hoch geschraubten Ansprüchen die contraselectorische Gefahr vorhanden, dass die gröber organisirten, die leichtsinnigeren, die sinnlicheren Frauen früher und öfter zur Ehe schreiten würden, als die feineren Frauen mit ausgebildetem Geschmack. Es ist auch nicht zu leugnen, dass viele Männer edlere Frauentypen zwar bewundern, aber niedrigere, coquettere, sinnlichere bei der Gattenwahl vorziehen. Dazu kommt, dass es, wenn auch nicht so viel wie heute, doch genug minderwerthige Individuen beiderlei Geschlechts geben wird, die ganz gut wissen, dass sie nicht so be- gehrenswerth sind und ihre Ansprüche dementsprechend herabschrauben, und die nun, da keine ökonomischen Schwierigkeiten da sind, ruhig zur Ehe mit Individuen des anderen Geschlechts schreiten, die gleich minderwerthig sind. Man sieht doch auch heute die merkwürdigsten, ja geradezu widerwärtige Personen eine Ehe eingehen. Das geht soweit, dass bei grossem Abstande in der rein mensch- lichen Rangordnung der körperlichen und geistigen Tüchtig- keit oft eine instinctive Abneigung gegen dauerndes Zu- sammenleben vorhanden ist, weil auch der niedere Theil deutlich fühlt, dass er da nicht hingehört und dass er sich nur ungemüthlich und zurückgesetzt fühlen würde. Dieser Factor des Heirathens von minderwerthigen Personen unter einander, die doch auch ihre Ansprüche an Familienglück realisiren wollen, würde von um so grösserer Bedeutung werden, als dem Manne die Ent- schädigung für die Ehelosigkeit durch die Prostitution, wie sie ihm heute geboten wird, nicht mehr, oder nur noch in geringem Maasse möglich sein wird. Er wird viel häufiger als heute in die Lage kommen, entweder auf jeden ge- schlechtlichen Verkehr verzichten, oder eine Frau heirathen zu müssen, die zwar nicht zu den besten und schönsten gehört, die aber doch ein Weib ist, das ihn lieben kann. Grade der Mann wird in seinen zwanziger Jahren alles mögliche aufbieten, zum Liebesgenuss zu gelangen. Das ist ein ziemlich allgemein anerkannter anthropologischer Unterschied vom Weibe. Diese Einwürfe, die ich der Ansicht Wallace’s mache, sollen nun nicht für die socialistische Gesellschaft eine grosse Tendenz nach Verbesserung der sexuellen Zuchtwahl ableugnen. Solche Tendenz wird sich sicher einstellen und wird durch die Fernhaltung der schlechtesten Individuen von der Ehe eine ausjätende Function ausüben. Was ich durch meine Einwürfe betonen will, ist nur, dass ich den Grad oder das Maass der Ausjätung durch solche bessere sexuelle Zuchtwahl nicht für ausreichend halte, um den mächtigen Verlust an natürlicher Ausjätung, den die menschliche Rasse bei der völligen Durchführung der nonselectorischen Systeme erleiden würde, zu ersetzen, oder um ein sogar noch wirksameres Moment für die Hebung der Rasse zu bilden. Ich zweifle, ob diese ver- besserte sexuelle Zuchtwahl quantitativ so stark arbeiten wird, dass alle schlechteren Devarianten wirklich ausge- jätet werden. Ich glaube, es ist im Interesse der nonselectorischen Forderungen nöthig, sich noch nach weiteren Garantien umzusehen. Dies wird um so nothwendiger sein, als — und das ist mein letztes Bedenken gegen Wallace’s An- sicht — eine schärfere sexuelle Zuchtwahl, wie sie durch eine zweckentsprechende Erziehung der jungen Leute zu höheren Ansprüchen herbeigeführt werden könnte, doch auch immer Hand in Hand geht mit einer schärferen Aus- jäte. Nun ist hier ja zweifelsohne diese Form der Aus- merzung nicht mit dem Elend verbunden, wie so oft die wirthschaftliche und andere Formen. Allein ein gewisses Quantum Elend und Schmerzen ist auch mit der sexuellen Ausjätung verbunden. Es ist nicht nur die gesellschaftliche Stellung der alten Jungfer, die viele ältere Mädchen quält, es sind nicht nur ihre all- mählich eintretenden psychischen Verschiedenheiten von den verheiratheten Frauen, sondern vor allem das bei liebe- bedürftigen Naturen stark ausgeprägte Verlangen nach einer innigen Lebensgemeinschaft, wie sie eben nur mit einem Manne, selten mit Frauen, möglich ist, und wohl am meisten die Sehnsucht nach einem Kinde, das mit Mutterlust gehegt und gepflegt, und das auch dem einsamsten Weibe Zweck und Inhalt seines Lebens werden kann. Der Mann dürfte ebenfalls bei seinem lebhaften Liebesverlangen die stärkere sexuelle Ausjätung durchaus nicht als gleichgültig empfinden. Es wäre überdies zu fürchten, dass seine aggressive Natur sich doch in irgend einer Art Luft machen würde, und dass möglicherweise dadurch die Neigung zu lockeren Geschlechts- verhältnissen bei Frauen mit niedrigen Anlagen angefacht und benutzt werden könnte, wodurch der Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten immer noch ihr günstiger Boden erhalten bliebe. Das humane Ideal möchte eben alle und jede schmerz- hafte Ausjäte schmerzempfindender Menschen möglichst verhindern und andere Entwickelungs-Factoren an ihre Stelle setzen. Aber ist das überhaupt möglich? Giebt es irgend einen Ausweg, der mit den als wahr erkannten darwinistischen Principien vereinbar ist? Lösung durch Beherrschung der Variabilität. Solch ein Ausweg scheint sich in der That zu eröffnen durch das Bestreben, die Gesetze der Variation genauer zu erforschen und sie bewusst auf die Verbesserung der De- varianten, d. h. des Nachwuchses, anzuwenden. Je mehr wir im Stande sind, die Erzeugung schlechterer Kampf um’s Dasein, um sie wieder auszujäten. Wir würden ihn gar nicht mehr brauchen, wenn wir es in unsere Macht bekämen, in jeder Generation der Gesammtheit der ge- borenen Devarianten einen etwas höheren Durchschnitt zu geben, als die Gesammtheit der Eltern ihn hatte. Ich habe diesen Gedanken schon vor einigen Jahren in folgender Form ausgesprochenTrostworte an einen naturwissenschaftlichen Hamlet. New- Yorker Volkszeitung v. 6. Nov. 1892.: „Sollte es nicht noch einen Ausweg geben? Der Menschengeist bezwingt so viel. Wenn er erforschte, welche Bedingungen es sind, unter denen die Eltern Kinder zeugen, welche bessere Anlagen haben als sie selbst, wenn er die Gesetze der Variabilität erforschte und ihre Erscheinungen unter seine Macht beugte! Einen kleinen Theil kennt er ja schon, bei den Thieren sogar einen ziemlich grossen. Dann wäre der Fortschritt gewähr- leistet, der Kampf um’s Dasein, der bewusste und unbe- wusste Wettbewerb der Einzelnen um Nahrung und Kinder, wäre überflüssig zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kraft und Schönheit unserer Art.“ In ganz allgemeiner Weise, die allerdings hauptsächlich das Princip der künstlichen Zuchtwahl und die Vererbung von Erziehungs-Resultaten, also erworbener Eigenschaften, heranzieht, erwartet auch Bebel eine ähnliche Lösung des Conflicts von der steigenden Einsicht der Naturwissenschaft: „Vermag man mit zweckbewusster Anwendung der Natur- gesetze die Züchtung ganz veränderter Gestalten und selbst Arten in der Thier- und Pflanzenwelt hervorzubringen, mit fast unglaublich erscheinenden Veränderungen, so werden diese — die Entwickelungsgesetze auf die Menschen- erziehungDas Wort „Erziehung“ ist im Original nicht durch gesperrten Druck hervorgehoben. angewandt — schliesslich auch dahin führen, bestimmte körperliche und geistige Eigenschaften hervor- 15 rufen zu können, welche ihm die harmonische Entwickelung ermöglichen“. Bebel, A. Die Frau und der Socialismus. XII. Aufl. Stutt- gart 1892. S. 199. Auch Hegar Der Geschlechtstrieb. Stuttgart 1894. S. 136. hat eine kurze Bemerkung über die Variations-Beherrschung gemacht: „Der andere Weg (eine kräftige Rasse zu schaffen), durch Lebensweise, Umgebung, Erziehung, kurz durch die Umgestaltung der Aussenwelt auf den Organismus der vorhandenen Generation, dann durch dessen Veränderung auf die Keime und durch deren Variationen auf die Eigenschaften der folgenden Generation einwirken zu wollen, ist umständlich, langwierig und unsicher, zumal unsere Kenntnisse uns nicht erlauben, feste Normen über die zweckmässige Art dieser Beeinflussung aufstellen zu können“. Doch die vermeintliche Schwierigkeit des Weges, die Hegar sich durch Trennung des in Wirk- lichkeit einheitlichen Vorgangs in drei nur begrifflich ge- schaffene Abschnitte unnöthig vergrössert, schreckt ihn um so leichter ab, als ihn nicht der Conflict der nonselectori- schen Systeme mit der Selectionstheorie zur Erwägung des Problems veranlasst; wenigstens erwähnt er nichts davon. Die Lösung des Conflictes durch die Beherrschung des Variirens und ihr sonstiger directer Vortheil für die Rasse ist mir seitdem immer mehr einer eingehenden Be- trachtung werth erschienen. In einem Aufsatz Neue deutsche Rundschau. S. Fischer. Berlin. V. Jahrg. 1894. S. 989. (Octoberheft.) über „Rassentüchtigkeit und Socialismus“ versuchte ich eine kurze principielle Begründung, um sie schliesslich durch diese Arbeit in den Rahmen zu setzen, in welchen sie hinein- gehört, nämlich in den einer Rassenhygiene. Ehe wir den Weg der Variations-Beherrschung darauf- hin prüfen, ob er gangbar ist, und ob wirklich Aussicht vorhanden ist, dass er uns zu dem ersehnten Ziel der Vereinbarkeit der humanen und rassenhygienischen Forde- rungen leiten wird, wollen wir noch einige Worte zu seiner rein theoretischen Begründung sagen. Wenn der aufmerksame Leser sich erinnert, was wir am Schluss des ersten Capitels über das gegenseitige Ver- hältniss und die Bedeutung der drei Entwicklungsfactoren Variation, Auslese nnd Vererbung, sowie im dritten Capitel über die Wirkung der Panmixie und die rassenhygienischen Forderungen ausgeführt haben, werden ihm die folgenden Sätze beinahe selbstverständlich erscheinen. Eine erzeugte Generation umfasst vielerlei Convarianten, starke und schwache, vollkommene und weniger voll- kommene, oder kurz gute und schlechte. Diese Ver- schiedenheit führt in der Concurrenz, die durch das Miss- verhältniss zwischen Vermehrung der Menschen und An- wachsen der Nährstellen bewirkt wird, zu einer Auslese der besseren und einer Ausjäte der schlechteren Con- varianten. Hierdurch wird die Gesammtheit der sich fort- pflanzenden Individuen gegenüber der der überhaupt Ge- borenen bedeutend verbessert, so dass nun durch die Vererbungstendenzen die alte Höhe des Typus der Rasse bewahrt oder sogar noch weiter getrieben wird. Vorbedingung zu diesem Überleben der Tüchtigsten, zu ihrer Auslese im Kampf um’s Dasein, war natürlich, dass sie überhaupt erst einmal erzeugt wurden. Vor- bedingung auch zu jeder Vervollkommnung der Rasse war, dass sie in vermehrtem Maasse und in steigend besserer Qualität überhaupt erst erzeugt wurden. Wir erkannten die aufsteigende Variation als das eigentlich fortschrittliche Element, den Kampf um’s Dasein nur als das regulirende. Daraus erhellt ganz unmittelbar, dass, gleiches Tempo der Vervollkommnung vorausgesetzt, die Ausjäte um so weniger einzutreten braucht, einen je grösseren Antheil von der Summe der erzeugten Individuen überhaupt die guten Convarianten ausmachen. 15* Das Verhältniss wird noch deutlicher, wenn wir anstatt mit Convarianten mit Devarianten rechnen, also zwei auf- einander folgende Generationen mit einander vergleichen. Wie wir auf S. 114 bemerkten, ist der Typus einer Generation dann fortgeschrittener als der der vorhergehenden, wenn die Summe der reifen Individuen der zweiten Generation durchschnittlich Wenn ich hier und an andern Stellen einfach durchschnittlich sage, bin ich mir wohl bewusst, dass ein Vergleich der Durchschnitte von Gesammtsummen durchaus kein zutreffender ist. Einige sehr tief oder sehr hoch stehende Glieder können den Durchschnitt stark beeinflussen. In der Statistik und Anthropologie theilt man des- halb auch häufig die Gesammtsumme in Abtheilungen und vergleicht deren Durchschnitte. Der Leser möge also beim Worte Durchschnitt stets an solche abtheilungsweise verglichene Durchschnitte denken. einen höhern Grad der Vollkommenheit repräsentirt, als die Summe der reifen Individuen in der ersten Generation. Dies konnte bei sonst gleichen Be- dingungen nur dadurch erreicht werden, dass die Summe der erzeugten Devarianten der neuen Generation, verglichen mit der der alten Generation, einen höheren Durchschnittswerth darstellt. Die Eltern mussten bessere Devarianten zeugen, das war der Inbegriff alles Fortschrittes in der Entwickelung und wird es auch bleiben. Je mehr bessere Devarianten erzeugt wurden, desto geringer brauchte für dasselbe Tempo der Vervollkommnung der Kampf um’s Dasein einzugreifen. Wenn nun in unserem Falle als Ideal verlangt wird, dass gar kein Kampf um’s Dasein, gar keine Ausjätung eintritt, so liegt auf der Hand, dass die Gesammtheit der erzeugten Devarianten nicht nur einen höheren Durch- schnittswerth haben muss, als die Gesammtheit der er- zeugten Devarianten der alten Generation, sondern sie muss sogar einen höheren Durchschnittswerth haben als die Gesammtheit ihrer Eltern, d. h. als der bereits ausgelesene Theil der erzeugten Devarianten der alten Generation. Wenn der Durchschnitt der gesammten Devarianten auch nur um ein Minimum unter dem der Gesammtheit ihrer Eltern steht, so muss zur Erhaltung der Höhe der Rasse der Kampf um’s Dasein für die Paralysirung dieses Minimums genügend gross sein, wenn aber Hebung der Rasse ge- fordert ist, noch mehr wie die Beseitigung dieses Minimums leisten und in dem Maasse der Forderungshöhe stärker sein. Denn sonst würden durch die geschlechtliche Mischung zwischen den besseren Individuen und denen, welche die geringere Höhe des Durchschnitts bedingen — gleiche Vererbungstendenzen vorausgesetzt — die Devarianten der nächsten Generation unzweifelhaft in ihrem Werthe herab- gedrückt werden. Somit wird die von uns früher aufgestellte rassen- hygienische Forderung der Verbesserung der erzeugten neuen Devarianten gegenüber den erzeugten der alten Generation dann, wenn wir die Ausjäte aufheben wollen dahin verschärft werden müssen, dass die erzeugten neuen Devarianten in ihrer Gesammtheit höhere Werthe repräsen- tiren müssen, als die Eltern sie hatten, die ihnen das Leben gaben. Für jedes Stück des ausjätenden Kampfes um’s Da- sein, das wir durch Hygiene, durch Therapeutik, durch socialen und wirthschaftlichen Schutz der Schwachen, durch socialistische Reformen im Allgemeinen beiseite schaffen, müssen wir nothgedrungen ein Äquivalent bieten in Form von entsprechender Verbesserung der Devarianten, sonst ist eine Entartung sicher. Das glänzende Ideal der Durch- führung aller Forderungen der Humanität und Gerechtig- keit dagegen ist mit naturgesetzlicher Nothwendigkeit ge- knüpft an das volle Äquivalent, dass die Gesammtheit aller Devarianten einen vollkommeneren Durchschnittstyp dar- stellt als die Gesammtheit der Eltern. Mit anderen Worten, die höchsten Hoffnungen des Menschengeschlechts können nur Gestalt gewinnen und in kraftvollem Leben fortdauern, wenn wir zu ihrem Schutz gegen rauhe Naturmächte die jetzigen dürftigen und lückenhaften Schutzmauern der Hygiene der Fortpflanzung allmählich zu einem soliden, wohnlichen Gebäude ausbauen. Im zweiten Bande dieser Arbeit wollen wir sehen, welche Bausteine uns die moderne Wissenschaft dazu liefern kann, auch selbst einige hinzufügen und uns überzeugen, dass schon viel Material daliegt und nur durch seine Zer- streuung in so geringem Maasse Beachtung gefunden hat, dass die landläufige Meinung der Unwahrscheinlichkeit, die Variabilität zu beeinflussen, sich halten konnte. Hegar’s citirtes Buch ist, trotzdem er, wie wir sahen, selbst diese Meinung ausspricht, ein verdienstvoller Versuch, in dieser Hinsicht Licht zu verbreiten. Hier wollen wir noch einige Einwände berühren, die leicht erhoben werden könnten. Das Princip der Auslese ist ein so tiefes, seine Be- deutung in der Lebewelt eine so allgemeine, dass Darwin und Wallace, sowie viele ihrer Nachfolger, es stets als unmöglich empfunden haben, je davon abstrahiren zu können. Auch ich stehe völlig auf diesem Boden. Dass ich mit der Denkbarkeit der Aufhebung des Kampfes um’s Dasein unter den Menschen rechne, scheint auf den ersten Blick ein Verlassen dieses Bodens zu sein. Allein, wenn man näher zusieht, wird das allgemeine Princip der Auslese nicht verlassen, sondern die Auslese aus dem Kampf der Zellenstaaten in den Kampf der die Staaten zusammensetzenden nächst nied- rigen Organisationen, nämlich der einzelnen Zellen gelegt. Die Menschen sind Zellenstaaten. Die Keimstoffe, aus denen sie entstehen, sind in lebenden Einzelzellen verkör- pert, in der Ei- und der Samenzelle. Eine Fortpflanzungs- hygiene, die z. B. zu junge und zu alte, temporär kränk- liche oder alkoholisirte Personen von der Zeugung abhält, bestimmte Zwischenräume zwischen die Geburten legt, für zweckentsprechende Ernährung der Eltern sorgt u. s. w., besteht darin, von den gesammten produzirten Geschlechts- zellen nur einzelne wenige, deren Tüchtigkeit wir irgendwie erschlossen oder bewirkt haben, zur Begattung auszuwählen und andere durch einfache Abscheidung zu Grunde gehen zu lassen. Die Fortpflanzungshygiene ist die Lehre von der Beeinflussung der Variation der Keimzellen und ihrer künstlichen Auslese, und unsere Lösung des Conflicts der nonselectorischen mit den rassenhygienischen Forderungen ist — was den Factor der Selection anlangt — nichts weiter, als ein Verschieben der Auslese und Ausjäte von den Menschen auf die Zellen, aus denen sie hervorgehen, also eine künstliche Auslese der Keimzellen. Der Boden des Selectionsprincips ist damit nicht ver- lassen. Der ganze Artprocess kann ohnedies vollkommen an den Keimzellen durchgeführt werden. Die Keimdrüsen der erhaltenen reifen Individuen einer Art produziren eine Menge von Keimzellen, die alle etwas von einander unterschieden sind — Variation. Von diesen Keimzellen werden, abge- sehen von der nonselectorischen Vernichtung, überwiegend die meisten vor, noch andere nach ihrer Vereinigung mit einander zu Individuen durch selectorische Schädlichkeiten ausgejätet — Auslese. Der übrigbleibende, ausgelesene Rest hat die Tendenz, seine guten Qualitäten auf die von ihm durch ausgewachsene Individuen hindurch wieder neu erzeugten Keimzellen zu übertragen — Vererbung. Unser ganzes Ein- greifen in diesen Process besteht in nichts weiter, als die Ausjäte der Keimzellen vor ihrer Vereinigung mit einander zu verstärken auf Kosten der Ausjäte der Keimzellen nach ihrer Vereinigung mit einander und ihrem weiteren Aus- wachsen zu Individuen. Dass sogar in der Natur die Ausbildung von be- stimmten Eigenschaften oder Graden von Eigenschaften manchmal ohne jeden Kampf um’s Dasein unter den Indi- viduen erfolgt ist, giebt kein geringerer wie Darwin be- reitwillig zu: „Es lässt sich auch kaum daran zweifeln, dass die Neigung in einer und derselben Art zu variiren, häufig so stark gewesen ist, dass alle Individuen derselben Spe- cies ohne Hülfe irgend einer Form von Zuchtwahl ähnlich modifizirt worden sind.“ Entstehung der Arten. Deutsch von Carus. S. 113 u. 114. Ferner schreibt er in einem Briefe an Moritz Wagner: „Nach meinem eigenen Urtheil liegt der grösste Irrthum, den ich beging, darin, dass ich nicht genügendes Gewicht der unmittelbaren Wirkung der Umgebungen (Nahrung, Klima etc.), unabhängig von natür- licher Auswahl, beilegte.Citirt in Ratzel, Fr. Anthropo-Geographie. Stuttgart 1882. S. 79. Man könnte auf den ersten Blick noch zweifeln, ob eine nicht nur erhaltende, sondern wirklich fortschreitende Variabilität dabei bewahrt bleiben würde. Allein erstens muss man sich in Erinnerung rufen, dass ja auch alle bis- herige Vervollkommnung durch Variiren über den Status der Eltern hinaus entstanden sein muss, dass also in der Natur stets unter den Devarianten eine Anzahl progressiver vorhanden sind, und zweitens möchte ich hier an einige Worte von Wallace und Darwin erinnern, die sich treffend über den Punkt ausgesprochen haben. Wallace meint: „Ausnahmsweis gute und grosse Menschen werden immer in genügender Zahl produzirt und sind auf jeder Civilisa- tionsstufe immer produzirt worden“ Menschliche Auslese. Zukunft von Harden. Berlin 1894. No. 93. S. 23. und an einer andern Stelle: „Wenn diese Hebung des Durchschnitts zu Stande gekommen ist, dann muss das Ergebniss auch eine ent- sprechende Hebung des Hochfluthstriches der Menschheit sein .... Denn jene günstigen Keimcombinationen, die nach der Theorie, die wir erörtern, die grossen Männer unserer Tage in’s Dasein gerufen haben, werden ein viel höheres Material haben, mit dem sie arbeiten können, und wir können deshalb erwarten, dass die ausgezeichnetsten Dichter und Philosophen der Zukunft einen Homer und Shakespeare, Newton, Goethe und Humboldt entschieden überragen werden.“ Menschheitsfortschritt. Zukunft von Harden. Berlin 1894. No. 96. S. 158. Darwin äussert eine ähnliche Meinung: „Was die körperliche Structur betrifft, so ist es die Auswahl der unbedeutend besser begabten und die Beseitigung der ebenso unbedeutend weniger gut begabten Individuen und nicht die Erhaltung scharf markirter und seltener Anoma- lien, welche zur Verbesserung einer Species führt. Das- selbe wird auch für die intellectuellen Fähigkeiten der Fall sein .... Hat sich in irgend einer Nation die Höhe des Intellects und die Zahl intelligenter Leute vermehrt, so können wir nach dem Gesetze der Abweichung vom Mittel, wie Galton gezeigt hat, erwarten, dass Wunder des Genies etwas häufiger als früher erscheinen werden. Abstammung des Menschen. Deutsch von Carus. I. Theil S. 178. Ein erheblicherer Einwand gegen die Lösung durch Variations-Beherrschung könnte darin erblickt werden, dass wir beim Fortfall der natürlichen Auslese den Maasstab für die Vervollkommnung verlieren. Nach unseren Be- trachtungen im dritten Capitel war das Kriterium der grösseren Vollkommenheit die bessere Befähigung im extralen wie socialen Kampf um’s Dasein, die höhere Regulations- kraft gegen die Einflüsse der Umgebung. Wir sahen, dass nicht nur die körperliche Constitutionskraft im gewöhnlichen Sinne, sondern auch Schönheit und sociale Tugenden für ihren Besitzer oder den Verband, zu dem er gehörte, wie Familie, Volk u. s. w., eine Waffe im Kampf um’s Dasein bedeuteten. Das Maass für diese Elemente der Vollkommenheit wurde durch den Grad ihres Nutzens im Kampf bestimmt. Jetzt geht mit einmal durch das Aufhören der Concurrenz der bisherige Richter über die Eigenschaften der Individuen verloren, ist da nicht zu fürchten, dass wir in unserer Weiterentwickelung jedes natürliche Ziel verlieren würden? Dem ist zu entgegnen, dass wir einen durch Millionen von Generationen erworbenen allgemeinen Maassstab für individuelle Tüchtigkeit sehr oft als Instinct in uns tragen. Dieser Instinkt ist als richtende Kraft für die sexuelle Zucht- wahl ausgebildet worden, wie wir auf S. 108 ausführten, ist durch unzählige Generationen immer wieder vererbt worden, und hat somit nach biologischen Analogien eine hartnäckige Tendenz, immer wieder angeboren zu werden. Er wird also noch auf viele Generationen hinaus nicht nur einen ziemlich festen Maassstab menschlicher Tüchtigkeit und Schönheit abgeben, sondern sogar viel freier seine Wirksamkeit entfalten können als jetzt, wo allerlei Contra- selectionen besonders wirthschaftlicher Art ihm entgegen- wirken. Dazu kommt, dass uns der weitere Ausbau der Physio- logie mehr und mehr Methoden zur directen Messung und Vergleichung der Regulationen an die Hand geben wird, wobei wir unseren Instinct allmählich durch verfeinerte Ein- sicht ergänzen und ersetzen werden. Der Theil der Vervollkommnung, der sich bezieht auf die Harmonisirung der äusseren menschlichen Formen mit etwaigen tief im Geschehen der Natur verankerten all- gemeinen Schönheits-Principien, würde selbstverständlich keine Verschiebung erfahren, da der Maassstab dafür uns ja stets gegenwärtig ist. Von einem haltlosen Herumvagiren des bewussten Vervollkommnungs-Ideals kann also nie die Rede sein. Wo immer sich übrigens ein Widerspruch des gewünschten Typus mit den Extralbedingungen der Natur einzustellen drohte, würde eine Ausjätung sicher erfolgen, so dass das Vervollkommnungsideal sich stets eng an die Extralbedin- gungen anschmiegen müsste. Als letztes Hinderniss für die Beherrschung der Variation könnte man die Möglichkeit ansehen, dass die wirklich errungenen Kenntnisse einer Fortpflanzungs-Hygiene von den Massen nicht beachtet und nicht durchgeführt würden. Das A und O dieser Hygiene ist natürlich die Praxis des praeventiven Geschlechtsverkehrs, die erlaubt, den Zeitpunkt der Zeugung von den oft nun einmal unüberwindbaren sinnlichen Bedürfnissen des Augenblicks zu trennen und ihn auf den gewünschten Termin günstiger Bedingungen zu ver- legen. Diese Praxis ist bereits heute so vorgeschritten, dass bei ärztlichem Rathschlage wohl nur sehr beschränkte Personen nicht in Stand gesetzt werden könnten, sie aus- zuüben. Den Praeventivverkehr als unmoralisch zu ver- werfen, wie es noch manchmal geschieht, dürfte nur einer unheilvollen Contraselection Thür und Thor öffnen. Es handelt sich einfach um die Wahl zwischen diesem grösseren Uebel und dem kleineren des Praeventivverkehrs. Oder noch richtiger, es handelt sich darum, ob wir die unleug- bar zunehmende Praeventivpraxis für unsere rassenhygieni- schen Zwecke ausbeuten wollen oder nicht. Alle unsere Bedenken, auch liebgewordene aesthetische, werden dem mächtigen Drange der Zeit weichen müssen. Dass mit solchen Hülfsmitteln die Bevölkerung auch wirklich in erheblichem Masse von zeugungshygienischen Kenntnissen Gebrauch macht, kann wohl dadurch bewirkt werden, dass bei der Erziehung das grösste Gewicht auf die Freude an Tüchtigkeit und Schönheit der Individuen und der Rasse gelegt, und dass den Massen aufklärende Litteratur in der liberalsten Weise zugänglich gemacht wird. Als unterstützender Factor würde noch hinzu kommen, dass Eltern, die grosse Sorgfalt bei der Erzeugung und Heranziehung ihrer Nachkommen aufwendeten, dadurch im Kampf um den Nachwuchs ganz erheblich besser fahren und so ihre Rasseninstincte eher vererben würden als die Gleichgültigen. Unsere im dritten Capitel formulirten rassenhygieni- schen Forderungen würden demnach durch ihre Anpassung an die nonselectorischen Systeme folgendes Ansehen ge- winnen: 1. Die Gesammtheit der erzeugten Nachkommen muss durchschnittlich einen höheren — und zwar möglichst viel höheren — Grad der Vollkommenheit repräsentiren als die Gesammtheit ihrer Eltern. Hierzu ist insbesondere die Auf- hebung aller solchen nonselectorischen Schädlichkeiten nöthig, die auch die Keimzellen verschlechtern. 2. Keine Contraselection ausser Krankenpflege. 3. Die Zahl der erzeugten Nachkommen darf nicht unter die Zahl der erreichbaren auskömmlichen Nährstellen sinken. Dies hat nur Bedeutung für eine einzelne Rasse oder ein Volk, das im Societätenkampfe steht, nicht für die gesammte Menschheit. Vorstehende Forderungen werde ich für später einfach die modifizirten Rassenforderungen nennen. Die- selben werden im zweiten Band näher betrachtet werden. Die Variations-Beherrschung wäre als Garantie in ihrem vollen Umfange nur dann nothwendig, wenn alle nonselec- torischen Forderungen, medizinische und wirthschaftliche, verwirklicht' würden. Von beiden Arten sind nun bis heute schon eine ziemliche Reihe thatsächlich erfüllt worden; private und öffentliche Hygiene, Kranken- und Armenpflege, Arbeiterschutzgebung etc., kurz eine ganze Menge von Maassregeln zum Schutz von allerlei Schwachen sind in fortwährender Zunahme begriffen, so dass die Verbreitung zeugungshygienischer Einsichten in grösserem Umfange schon jetzt dringend nothwendig ist. Für die nächste Zukunft ist speciell auf wirthschaft- lichem Gebiet ein entschiedenes Weitergehen auf dem Wege der Socialreform nach socialistischen Zielen hin zu erwarten. Für unsere Frage hier ist es von secundärem Interesse, ob dies in mehr staatssocialistischer, christlich-socialer oder social- demokratischer Weise erfolgt. Dazu kommt eine wachsende Tendenz zum Zweikindersystem, so dass es zweckmässig erscheint, die schon im Anfang des Capitels aufgestellten malthuso-socialistischen Elementar-Forderungen für sich allein, ohne Rücksicht auf medicinisch-hygienische Bestre- bungen, auf ihre rassenhygienischen Folgen zu prüfen. Die Socialisten und Malthusianer wollen nicht allen Kampf um’s Dasein aufheben, sondern vorerst nur den ökonomischen, also einen Theil des Socialkampfes. Der Extralkampf, durch den Anpassung an Klima und über- haupt ein gut Theil roher Constitutionskraft bedingt sind, bleibt ziemlich unberührt. Nach dem Princip der Panmixie würden nun die wirthschaftlichen Eigenschaften des Menchen von ihrer Höhe herabgehen. Dies würde sich aber nur dann in grösserem Umfange einstellen, wenn keine anderen Arten der Auslese bestehen blieben, in denen eben- falls wirthschaftliche oder ihnen ähnliche Eigenschaften in demselben Maasse gezüchtet würden. Solche anderen Arten von Auslese giebt es aber, wenn sie auch nicht mit derselben Kraft wirken. Die im ökonomischen Kampf zum Sieg verhelfenden Eigenschaften sind hauptsächlich Intelligenz und Vorbedacht, Fleiss und Arbeitskraft, Energie, Gesundheit und ein ge- wisses Verhältniss zwischen Altruismus und Egoismus. Ich glaube, Niemand wird leugnen, dass abgesehen vom Egoismus, den ja nicht bloss die Socialisten lieber kleiner wie grösser haben möchten, diese Tugenden auch in anderen Arten von Auslese wie grade der wirthschaftlichen eine grosse Rolle spielen. Bei der sogar in wohlhabenden Kreisen immer noch beträchtlichen Kindersterblichkeit z. B. sind sie von der höchsten Bedeutung; das wird jeder Arzt ohne Weiteres zugeben. Die intelligenten, aufmerksamen, fleissigen, vorbedachten und liebevollen Eltern werden ihre Kinder viel eher durchbringen und so ihre Eigenschaften häufiger vererben können. Überhaupt sind die obigen Tugenden im Gesammtkampf der Familien in der mannig- fachsten Art eine grosse Hülfe. Besonders Altruismus bei allen Arten von Noth und Krankheit unter den Familien- mitgliedern, wo man giebt und vergilt, wird durch den Kampf um’s Dasein ebenso gezüchtet werden, wie früher durch den Kampf grösserer Gesellschaften, der sich durch den Fortfall der Kriege ja sehr mildern würde. Selbst im Extralkampf werden verschiedene wirthschaftliche Tugenden, wie Intelligenz, Energie etc. weiter gezüchtet werden, da sie bei groben Gefahren sowie im Kampf gegen Krankheiten den ausjätenden Kräften entgegenarbeiten. Hauptsächlich aber würden, wie Wallace gezeigt hat, sämmtliche wirthschaftliche Tugenden ausser dem Egoismus, durch die Fortdauer der geschlechtlichen Auslese weiter gezüchtet werden, weil die allgemeine Richtung der sexuellen Wahl auf die Tüchtigkeit überhaupt geht. Wir überzeugen uns also, dass es auch in socialistischen Gemeinwesen immer noch auslesende Factoren geben wird, welche die Tendenz haben, die von der Concurrenz-Wirth- schaft gezüchteten, so nothwendigen Eigenschaften ausser dem Egoismus weiter zu präserviren. Dazu kommt, dass dem Socialismus die Aufhebung fast aller der contra- und nonselectorischen Schädlichkeiten gutgeschrieben werden müsste, die der Capitalismus mit sich gebracht hat, und die ja nicht nur die Gesundheit und das Leben von Individuen, sondern daneben oft die von ihnen produzirten Keime treffen und damit häufig auch eine Verschlechterung der Anlagen der Kinder bedingen, die daraus hervorgehen. Der Socialismus würde also direct zur Verbesserung von Devarianten beitragen, würde sich aber doch immer noch dem Rest schlechter Devarianten gegenüber sehen, der aus anderen Ursachen entsteht. Ausserdem muss daran festgehalten werden, dass sich der Haupttheil der Ausjätung thatsächlich bisher in wirth- schaftlicher Form abgespielt hat, dass der noch bleibende Rest relativ nur gering ist, und dass er in Anbetracht seiner stetigen Verminderung durch Individual-Hygiene und Medicin nicht genügt, das drohende Schicksal der Entartung zu wenden. Erst eine umfangreiche Erzeugung tüchtigerer Nachkommen durch directe Bewirkung guter Keimesanlagen und ihrer künstlichen Auslese kann weitere und dauernde Garantien geben. Principiell ist hier kein Hinderniss zu sehen. Es hängt alles davon ab, wie wir uns den Entwicklungsgang der Naturwissenschaft vorstellen. Dieser Entwicklungsgang ist im letzten Jahrhundert ein unerhört glänzender gewesen, besonders die verbesserten chemischen und mikroskopischen Methoden haben zahlreiche neue Erkenntnisse zu Tage gefördert. Auch eine Hygiene der Fortpflanzung kann nur mit chemisch-physikalischen Zusammenhängen rechnen, und wo diese in ihrer strengen Folge nicht dargelegt werden können, sind die gröberen, rein empirisch durch Beobachtung und Experiment festgestellten Abhängigkeiten immer noch von unschätzbarem Werth. Die Methoden unterscheiden sich in nichts von denen der Naturwissen- schaft überhaupt, so dass wir nicht daran zweifeln dürfen, die Gesetze der Variabilität allmählich soweit unter unsere Herrschaft zu zwingen, dass Noth und Elend unter den Menschen bis auf geringe Reste verschwinden können. Haeckel hat einst in einem berühmten Streit ein muthiges Wort gesprochen, das wohl manchem der da- maligen jungen Studenten noch heute nachklingt: Impavidi progrediamur! Auch wir wollen fest daran halten und unentwegt auf den Fortschritt der Wissenschaft bauen. Berichtigungen: Seite 31 Zeile 7 von oben statt anderen lies verwandten. „ 47 „ 1 „ unten „ besseren lies gleichen. „ 49 „ 9 „ oben „ zwischen lies auf. „ 49 „ 9 „ „ „ niedrigen lies niedrigeren. „ 49 „ 12 „ „ „ der Elemente lies der biologischen Elemente. „ 72 „ 13 „ unten „ Ttaate lies Staate. „ 135 „ 2 „ oben „ sämmtliche lies sämmtlichen. „ 139 „ 5 „ unten „ Der lies „Der. DRUCK VON MAX SCHMERSOW VORM. ZAHN & BAENDEL, KIRCHHAIN N.-L. R. Boll’s Buchdruckerei, PERLIN NW., Mittel-Strasse 29.

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